Brexit-Referendum – was haben sie bloß getan?

Letzte Aktualisierung: 2.7.2016, 11.17 Uhr

Ein Beitrag von Sebastian Zeitzmann*

In Brüssel, London und den anderen Hauptstädten, nicht nur in der EU, ist am Morgen des 24. Juni eine lange Nacht zu Ende gegangen: eine Nacht des Auszählens der Stimmen im Brexit-Referendum, der Abstimmung, mit der die Briten über ihre Zukunft in oder außerhalb der Europäischen Union abstimmen konnten. Das Ergebnis, eine (knappe) Mehrheit für die Befürworter des Austritts aus der EU, ist ein Schlag ins Gesicht der Pro-Europäer europa- und weltweit. Noch sind die Briten, entgegen der nun schon oft gehörten Aussage, der Brexit sei da, nicht draußen. Ein Erdbeben ist das Ergebnis nichtsdestotrotz. Für die einen – das „Leave“-Camp im UK und die Anti-Europäer in anderen EU-Staaten – wurde aus Hoffnung Freude, für die anderen – das „Remain“-Lager und mit ihm wohl die Mehrheit der Europäer – aus Furcht Entsetzen.

Es ist nicht das erste nationale Referendum über die EU und Fragen über die europäische Integration gewesen, noch nicht einmal das erste über einen möglichen Austritt eines Staats aus dem europäischen Staatenverbund (dieses fand 1975 ebenfalls im UK statt und ergab eine 2/3-Mehrheit für die EU [damals noch: EWG]-Mitgliedschaft). Dennoch wird der 23. Juni 2016 als historisches Datum in die europäische Geschichte eingehen: erstmals hat sich die Bevölkerung eines Mitglieds gegen die weitere Mitgliedschaft ausgesprochen.

Sämtliche Bemühungen im UK und außerhalb, die Ansprachen führender nationaler und internationaler Politiker, unter ihnen Barack Obama, und Prominenter wie Joanne K. Rowling, der Autorin der Harry-Potter-Bücher, haben nichts bewirkt. Nach der tragischen Ermordung von Jo Cox, einer EU-freundlichen britischen Parlamentsabgeordneten, schien das Pendel zugunsten der weiteren Mitgliedschaft auszuschlagen. Mit 51,9% bei einer Beteiligung von 72% hat sich die andere Seite durchgesetzt – in absoluten Zahlen haben etwa 17,4 Millionen Briten für den Austritt gestimmt, 16,14 Millionen für die weitere Mitgliedschaft. Das Unfassbare ist geschehen, etwa 100 Jahre nach den Schlachten von Verdun und im Skagerrak, Ereignisse, deren Wiederholung das Projekt der europäischen Integration, vor allem der EU, für immer ausschließen sollte. Wie bei Harry Potter, wo Lord Voldemort nicht namentlich erwähnt werden darf („Du-weißt-schon-wer“), hatte die Europäische Kommission sogar ihren Beamten nahegelegt, das B-Wort in den Wochen vor der Abstimmung nicht mehr in den Mund zu nehmen. Nur bei Harry Potter ging die Geschichte gut aus.

Die genauen Konsequenzen für das Vereinigte Königreich, für die EU und die Welt sind wenige Tage nach dem Erdbeben noch nicht absehbar. Gewisse Vorhersagen können allerdings getroffen werden. Vor allem jene, dass die Auswirkungen erheblich sein werden, und es steht zu befürchten, dass sie mehrheitlich Nachteile für alle Beteiligten mit sich bringen werden. Und damit ist nicht nur David Cameron gemeint, der nach dem aus seiner Sicht verlorenen Referendum seinen Rücktritt zum Oktober 2016 angekündigt hat (mittlerweile hat auch der britische Kommissar bei der EU-Kommission, Jonathan Hill, seinen Rücktritt angekündigt).

Für die Briten steht nicht nur ihre Mitgliedschaft im größten Friedensprojekt und der tiefsten Wirtschaftsunion von Staaten weltweit in Frage. Vielmehr scheint innenpolitisch die Zukunft des Staats, wie wir ihn kennen, gefährdet. Die Landkarte aus „Remainia“ und „Leavia“ zeigt ein zutiefst gespaltenes Land: während in England mehrheitlich anti-europäisch abgestimmt wurde (mit London und seinem westliche Speckgürtel als Insel der Pro-Europäer), sind vor allem Schotten und Nordiren für die EU-Mitgliedschaft. Nördlich des Hadrianwalls und auf der Grünen Insel gibt es nicht einen Abstimmungsbezirk, in dem „Leave“ letztlich vorne lag. Eine EU-Mitgliedschaft könnte für beide Länder in Zukunft aber nur als unabhängige Staaten möglich sein. Es wundert somit nicht, dass noch vor Bekanntgabe der Endergebnisse in beiden Ländern der Staat Vereinigtes Königreich, wie er heute existiert (seit 1707 mit Schottland und 1927 mit Nordirland), als solcher in Frage gestellt wurde. Es würde auch nicht verwundern, wenn in Schottland und Nordirland schon bald entsprechende Austrittsreferenda, diesmal aus dem UK, auf die politische Tagesordnung gesetzt werden. In Schottland scheint genau dieses bereits jetzt vorbereitet zu werden. Nicht anders können die Aussagen der schottischen Regierungschefin Nicole Sturgeon verstanden werden, dass „Vereinigte Königreich von 2014“ existiere nicht mehr (2014 fand bereits ein nicht erfolgreiches schottisches Referendum über einen Austritt aus dem UK statt) und ein zweites schottisches Referendum sei „höchst wahrscheinlich“. Im schlimmsten Falle bliebe in einigen Jahren ein isoliertes, geschwächtes England, vielleicht im Bund mit Wales, wie es bereits zwischen 1536 und 1707 bestand, als „Vereinigtes Königreich“ bestehen. Und was wird aus Gibraltar, Britanniens südwesteuropäischer Fels in der Brandung? Knapp 96% (!) der Teilnehmer am Referendum dort sprachen sich für eine weitere EU-Mitgliedschaft aus.

Wirtschaftlich sind für die Briten wenig Vorteile zu erwarten: Bereits in der Nacht nach dem Referendum, als sich das Ergebnis abzeichnete, verlor die britische Währung, das Pfund, massiv an Außenwert und erreichte zum Dollar ihren tiefsten Stand seit über 30 Jahren. Der rasante Verfall des Wertes der Landeswährung kann hohe Lücken im Budget des Vereinigten Königreiches nach sich ziehen, wie Schatzkanzler (Finanzminister) George Osborne gewarnt hat. Ob die City of London nach einem Austritt das europäische Finanz- und Dienstleistungszentrum bleibt, ist sehr fraglich. Eine Verlagerung der Sitze von Banken und anderen Finanzdienstleistern, Versicherern oder Wirtschaftsprüfern „zurück“ in die EU, z.B. nach Dublin, Paris oder Frankfurt, ist wahrscheinlich. Damit ginge der Verlust von schlimmstenfalls hunderttausenden Arbeitsplätzen im UK einher sowie ein erheblicher Rückgang des britischen BIP, von welchem die Finanzbranche etwa 10% ausmacht. Neben den genannten Wirtschaftszweigen ist auch der zumindest teilweise Rückzug anderer Branchen denkbar.

Zudem droht nach dem Austritt der Verlust des freien Zugangs zum EU-Binnenmarkt und somit dem wichtigsten Absatzmarkt der britischen Wirtschaft (14% der britischen Wirtschaftsleistung basiert auf der Ausfuhr von Gütern und Dienstleistungen in die EU). Eine Zukunft in der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA (u.a. mit Norwegen und der Schweiz) oder gar im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), dem auch die EU-Staaten angehören, ist ungewiss. Vor allem was den EWR angeht, haben die EU-Staaten ein erhebliches Wort mitzureden. Ihre Begeisterung, den Briten auch ohne EU-Mitgliedschaft die Vorteile des Binnenmarktes zu gewähren (den nach einem Austritt selbst die britische Unabhängigkeitspartei UKIP fordert), dürfte minimal sein. Darüber hinaus, und darauf haben vor allem Regierungsvertreter Norwegens hingewiesen, würde auch die Mitgliedschaft im EWR mit erheblichen Pflichten, wie der Einzahlung in das Budget der Europäischen Union, bei gleichzeitig deutlich weniger Rechten, vor allem bei der Mitbestimmung in der Rechtsetzung, einhergehen. Selbst der Schweizer Weg einer EFTA-Mitgliedschaft ohne gleichzeitige Mitgliedschaft im EWR würde erhebliche Pflichten für die Briten mit sich bringen. Die Briten müssten wie die Schweiz unzählige völkerrechtliche Abkommen mit der EU aushandeln und hätten auf der anderen Seite eher ungnädige Gesprächs- und Verhandlungspartner zu erwarten.

In hohem Maße droht den Briten daneben ein Rückgang ausländischer Direktinvestitionen. Welcher ausländische Investor investiert in eine Volkswirtschaft, deren nähere Zukunft völlig unklar ist? Bereits in den Monaten vor dem Referendum hielten sich die Investoren spürbar zurück. Ein weiterer Einbruch ist denkbar.

Gefährdet sind auch zukünftige Darlehen durch die Europäische Investitionsbank (EIB), welche bisher 43 Milliarden Euro betrugen und zuvörderst Infrastrukturmaßnahmen sowie der Bildung zugutekamen. Zum Vergleich: In die gesamte EFTA, bestehend aus Norwegen, Schweiz, Island und Liechtenstein, Staaten, mit denen die EU-Gegner ein „unabhängiges“ UK außerhalb der EU vergleichen, hat die EIB lediglich 1 Milliarde Euro an Krediten vergeben.

Politisch werden die Briten, nicht nur aufgrund ihres ständigen Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und ihrer Führungsrolle im Commonwealth of Nations, weiterhin auf globaler Ebene eine führende Nation sein. Dennoch werden sie ohne die Union deutlich geschwächt, und sollte der „worst case“ des Zusammenbruchs des UK mit Schottland und Nordirland eintreffen, dürfte der politische Niedergang des „Vereinigten“ Königreiches auf globaler Ebene von gewaltiger Natur sein.

Auch die traditionell engen Beziehungen zwischen Irland und dem UK sehen sich einer Herausforderung ausgesetzt: Beide Staaten haben untereinander die Grenzkontrollen abgeschafft, weshalb die Iren auch nicht Mitglied im Schengen-Raum sind (weil es anderenfalls möglich wäre, ohne jede Grenzkontrolle aus einem anderen Schengen-Staat über Irland ins UK einzureisen). Nach einem Brexit würden wohl zwischen den beiden Staaten wieder Grenzkontrollen eingeführt werden. Der einzige Vorteil dessen: Die Iren könnten dem Schengen-Raum beitreten. Vorgetragen wurde, dass der Brexit auch den Friedensprozess in Nordirland gefährden könnte.

Schwer wiegende Auswirkungen nachteiligen Charakters sind jedoch auch für die EU selbst zu erwarten. Da ist zunächst, in einem Zeitpunkt multipler Krisen (Flüchtlings- als auch Wirtschafts- und Finanzkrise), das desaströse Moment eines der größten und wichtigsten EU-Staaten, dessen Austritt die Union wirtschaftlich wie politisch schwächen wird. Für die Union ergibt sich wohl die schwerste Krise ihrer Geschichte, aus ganz verschiedenen Gründen.

Obwohl führende Unionspolitiker deutlich gemacht haben, dass die Union auch nach einem möglichen Austritt weiter existieren wird und in einem Brexit möglicherweise sogar eine Chance für die weitere Integration liegen kann: so sicher sollte man sich dessen nicht sein. Bisher ist die Europäische Union aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen, aber die Situation im Jahr 2016 ist eine ganz andere. In allen EU-Staaten sind EU-kritische oder sogar –feindliche Parteien, meistens politisch rechts stehend, im Aufwind. In, je nach Zählweise, sieben bzw. acht Staaten sind sie mittlerweile an der Regierung beteiligt oder dulden diese zumindest, so auch im Vereinigten Königreich und in Polen (die EU-Skeptiker der PiS, welche bei den Wahlen 2015 eine absolute Mehrheit der Sitze im Parlament gewonnen haben), zwei der „großen sechs“ Mitgliedstaaten. In den anderen großen Staaten sind mit Parteien wie AfD (Deutschland), Front National (Frankreich), Bewegung 5 Sterne (Italien) und Podemos (Spanien) europakritische und –feindliche Kräfte dabei, die Parteienlandschaft teilweise drastisch zu verändern. Nächstes Jahr stehen nationale Wahlen in Deutschland und Frankreich an. Es steht zu erwarten, dass die Gegner Europas vom Ergebnis des britischen Referendums profitieren werden. Marine le Pen, Vorsitzende des Front National, hatte bereits vor dem Referendum angekündigt, im Falle eines Wahlsiegs in Frankreich innerhalb von sechs Monaten ein „Frexit“-Referendum einzuberufen. Vergleichbare Forderungen wurden noch am Vormittag des 24. Juni auch in anderen Mitgliedstaaten wie den Niederlanden, wie Frankreich ein EU-Gründungsstaat, laut – es droht ein Dominoeffekt. Der Euroskeptizismus wird sich in vielen Mitgliedstaaten verstärken. Ob die EU einen Austritt eines Schwergewichts wie Frankreich, einem der Motoren der deutsch-französischen Lokomotive der europäischen Integration, überleben würde, ist sehr zweifelhaft. Im Falle eines Sieges des „Leave“-Lagers sei die EU erledigt, hatte Nigel Farage, Parteichef der EU-feindlichen UKIP (United Kingdom Independence Party) gesagt, bevor das Ergebnis feststand. Dies wirkt zwar wenig wahrscheinlich. Ganz ausgeschlossen werden darf es aber nicht.

Auch die wirtschaftlichen Auswirkungen eines möglichen Austritts sollten nicht unterschätzt werden. Zwar gehen nur etwa 4% der EU-27-Exporte in das UK. Gut möglich daher, dass das Vereinigte Königreich stärker betroffen sein wird – aber auch die verbleibenden EU-Mitgliedstaaten werden einer neuerlichen wirtschaftlichen Krise ins Auge blicken müssen. Der deutsche Aktien-Index DAX und mit ihm viele andere Börsen weltweit eröffneten am Morgen des 24. Juni um bis zu 10% schwächer – trotz der folgenden Erholung ein schwer wiegender wirtschaftlicher Einschlag, wie wir ihn bisher nur aus schwersten Finanz- und Wirtschaftskrisen kannten. Ein wichtiger Handelspartner Deutschlands und der EU, was Waren und Dienstleistungen betrifft, steht vor dem Austritt. Zahlreiche EU-Bürger, vor allem Osteuropas, sehen ihre Zukunft im UK gefährdet. Selbiges gilt aber auch für die 1,2 Millionen Briten, die in anderen EU-Staaten leben und arbeiten und somit von ihren Rechten als Unionsbürgern Gebrauch machen. Betroffen werden neben grenzüberschreitenden Arbeitnehmern auch Studenten, Touristen und Pensionäre sowie international tätige Unternehmen auf beiden Seiten des Kanals sein.

Zudem droht uns, ein verlässlicher Partner in der EU zu verlassen. Man mag das Vereinigte Königreich als streitbaren Krachmacher wahrnehmen: in der Umsetzung und Durchführung des EU-Rechts und der Politiken der EU gehört das Land zu den vorbildlicheren EU-Staaten.

Ein Austritt des Vereinigten Königreiches bedeutet zudem, dass die Europäische Bankenaufsicht und die Europäische Arzneimittel-Agentur, die beide in London angesiedelt sind, in einen anderen EU-Staat verlagert werden müssen.

Wer profitiert vom Ergebnis des Referendums? Populisten, EU-Skeptiker, Nationalisten, und das weltweit. Erste Stimmen sind bereits zu vernehmen, dass aus dem drohenden Nieder- oder Untergang Russland gestärkt hervorgehen könnte – so wie die EU in ihrer heutigen Form erst aus dem Untergang der Sowjetunion entstehen konnte. In jedem Fall werden die Auswirkungen des Referendums nicht auf Europa beschränkt bleiben. Auch in anderen Weltregionen gibt es Ansätze regionaler Integration. Nirgendwo sind diese so vertieft wie in Europa. In Südostasien beispielsweise steht man erst am Anfang einer wirtschaftlichen Integration. Scheiterten wir Europäer, dies sendete ein äußerst negatives Signal in andere Regionen der Welt.

Wie geht es nun weiter? Zunächst: Das Referendum ist rechtlich nicht bindend, sondern hat lediglich beratenden Charakter. Es könnte theoretisch – und gegen die Praxis in der britischen Politik – ignoriert oder durch noch-Regierungschef Cameron ein zweites Referendum einberufen (oder dies seinem Nachfolger überlassen) werden: Eine entsprechende Petition hatte bereits wenige Tage nach dem Referendum mehrere Millionen Unterschriften gesammelt. Finden Petitionen mehr als 100.000 Unterstützer, muss sich das britische Parlament mit ihnen befassen. Und dieses ist mit etwa zwei Dritteln seiner Abgeordneten mehrheitlich klar europafreundlich. Da die „Brexiteers“ des „Leave“-Lagers bereits in den Tagen nach dem Referendum zentrale Versprechen zurückgenommen oder abgeschwächt hatten (wie die finanzielle Unterstützung des britischen Gesundheitsdienstes NHS durch Gelder, welche das UK nach einem Austritt einsparen würde, weil es nicht mehr ins EU-Budget einzahlen müsste sowie den Einwanderungsstop ins UK), sind ihre Anhänger enttäuscht und könnten in einem zweiten Referendum eine andere Position einnehmen oder der Abstimmung zumindest fernbleiben. Zudem dürfte die Mehrheit der Briten einem Zusammenbruch des Vereinigten Königreichs skeptisch entgegenstehen und dies bei einer erneuten Abstimmung mit berücksichtigen. Allerdings: Das Ergebnis des Referendums zu ignorieren (unabhängig, ob ein zweites Referendum einberufen wird oder nicht), wie von einzelnen Abgeordneten des britischen Parlaments gefordert, wäre ein desaströses Signal an die Demokratie, würde wohl nur eine (weitere) Radikalisierung der EU-Gegner im Vereinigten Königreich bewirken und den politischen Selbstmord der Verantwortlichen bedeuten. Aber auch seitens der EU will man das Ergebnis, bei allem Bedauern, akzeptieren und respektieren und nicht an Glaubwürdigkeit verlieren, indem man die Briten in einem Handeln unterstützt, welches den Mehrheitswillen ignorierte. Die Stellungnahme der Präsidenten der EU-Institutionen Martin Schulz, Donald Tusk, Jean-Claude Juncker und Mark Rutte (für die Niederlande, die im ersten Halbjahr 2016 die Ratspräsidentschaft innehaben) vom 24. Juni liest sich distanziert, als sei das UK bereits ein Drittstaat.

Somit ist zu erwarten, dass die Briten das Austrittsverfahren aus der EU nach Art. 50 EUV in Gang setzen werden – welches es im Übrigen erst seit 2009 gibt. Dazu muss die britische Regierung zunächst eine entsprechende Absichtserklärung an den Europäischen Rat, die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten unter Führung von Donald Tusk, adressieren. Das bloße Ergebnis des Referendums selbst ist dafür – entgegen einzelner Interpretationen, eventuell auch durch die Präsidenten der EU-Institutionen – nicht ausreichend, dies umso mehr, weil das Referendum rechtlich ja gar nicht bindend ist. Die Präsidenten der EU-Institutionen haben die Briten aufgefordert, die Mitteilung schnellstmöglich, nach Forderung von Schulz bereits zum nächsten regulären Treffen des Europäischen Rats Ende Juni, vorzulegen. Die Rechtsicherheit mag eine schnelle Mitteilung wünschenswert sein lassen, eine entsprechende Verpflichtung der Briten gibt es jedoch nicht. Da selbst Abgeordnete des Unterhauses zur Ruhe gemahnen und David Cameron angekündigt hat, die Mitteilung seinem Nachfolger zu überlassen (selbst Boris Johnson, sollte dieser auf Cameron folgen, scheint es nicht zu eilig zu haben), ist trotz aller Kritik europäischer Spitzenpolitiker mit einer eher zeitnahen Mitteilung an Brüssel nicht zwingend zu rechnen.

Ist die Absichtserklärung aber eingegangen, müssen EU (aus den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten) und UK zunächst versuchen, ein Austrittsabkommen auszuhandeln. Zwei Jahre haben sie dafür mindestens Zeit. Ob dies ausreichen wird, steht angesichts des schieren Umfangs der zu verhandelnden Materie und den britischen Wünschen in den Sternen. Für die Briten ergibt sich aus den Verhandlungen ein konstitutionelles Dilemma. Wie oben erwähnt, ist die große Mehrheit der Parlamentarier EU-freundlich. Ein Abkommen auszuhandeln, welches einerseits einen Austritt des UK aus der Union vorsieht, andererseits die Zustimmung der Gegner eines Brexits (eventuell auch im schottischen Regionalparlament, sollte dieses ebenfalls zustimmen müssen, was derzeit aber noch ungeklärt ist) finden kann, dürfte zumindest eine Herausforderung darstellen. So ist durchaus denkbar, dass es im Vereinigten Königreich zu vorgezogenen Neuwahlen kommt (die nächsten regulären Parlamentswahlen fänden erst 2020 statt). Eine Verlängerung der Verhandlungsphase wäre zwar möglich, aber nur durch einstimmige Entscheidung aller EU-Staaten in Abstimmung mit dem UK. Scheitert eine Fristverlängerung am Widerstand einzelner Staaten, ohne dass ein Abkommen fertig ausgehandelt ist, wären die Briten plötzlich schlimmstenfalls ohne jegliche rechtliche Beziehung zur EU „draußen“. Sinnvoll wäre eine Fristverlängerung mit einem angestrebten Austritt zum Jahr 2019, wenn ohnehin Wahlen zum Europäischen Parlament stattfinden und eine neue Europäische Kommission eingesetzt wird. Führende EU-Politiker haben jedoch bereits gewarnt, dass die Verhandlungen sich durchaus deutlich länger, bis zu sieben Jahre, hinziehen könnten. Ein ausgehandeltes Abkommen müsste schließlich noch von der qualifizierten Mehrheit im Rat (der dann 27 Staaten, also von mindestens 15 Staaten, die wiederum mindestens 65% der Bevölkerung der EU-27 vertreten), vom Europäischen Parlament und von den Briten selbst angenommen werden. Scheitert dies oder kommt ein Abkommen gar nicht zustande, könnten die Briten frühestens 2018 (zwei Jahre nach der offiziellen Mitteilung ihrer Austrittsabsicht an den Europäischen Rat) einseitig aus der EU austreten. Dann hätten sie jedoch im schlimmsten Fall keinerlei vertragliche Beziehungen mehr zur EU und wären völlig isoliert. Die Verhandlungen werden nach alledem schwierig werden, zumal außer dem in Art. 50 EUV vorgesehenen Austrittsabkommen zwischen der Rest-EU und dem Vereinigten Königreich aller Wahrscheinlichkeit nach noch ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den 27 verbleibenden EU-Mitgliedern und dem Vereinigten Königreich zur Regelung der zukünftigen Beziehungen – etwa im Rahmen des EWR, wie oben skizziert – abgeschlossen werden muss.

Für die Übergangsphase gilt: Solange die Briten nicht aus der EU ausgetreten sind (ob aufgrund eines Abkommens oder ohne ein solches), sind und bleiben sie mit allen Rechten und Pflichten Mitglied der Europäischen Union. Ein sehr interessantes Problem stellt sich durch einen Zufall im zweiten Halbjahr 2017: dann hätten die Briten nämlich die Präsidentschaft im Ministerrat, neben dem Parlament das Gesetzgebungsorgan der EU, inne. Kann bzw. sollte ein Staat, der sich in Austrittsverhandlungen mit der EU befindet, diese Präsidentschaft, die mit der Vertretung überstaatlicher Interessen einhergeht, innehaben? Die Verträge schweigen zu dieser Frage. Aufgrund der weiterhin bestehenden Vollmitgliedschaft des Landes in der Union und den damit verbundenen Rechte, kann diese Frage durchaus bejaht werden. Politische Sensibilität sollte jedoch möglicherweise zu dem Ergebnis gelangen, dass der betroffene Staat, von seinen Rechten keinen Gebrauch mehr machend, die Präsidentschaft aussetzt und der nachfolgende Staat, dies wäre Estland, seine Präsidentschaft vorzieht.

Möglicherweise – und entgegen aller Ankündigungen – werden wir in einigen Jahren, nach einer ganzen Zeit erfolglosen Verhandelns oder auf Basis eines ausgehandelten Abkommens, auch ein neuerliches Referendum im UK sehen: „Wollen wir wirklich den Brexit?“ Junge Briten bis 29 waren unabhängig von ihrer parteipolitischen Präferenz (mit Ausnahme der UKIP-Anhänger) mehrheitlich für einen Verbleib in der EU, die 18-24jährigen sogar zu 75%. Bis zur Altersgruppe der 40-44jährigen ist die Präferenz für einen Austritt schwächer ausgeprägt gewesen als für ein „Remain“. Es waren die Alten, vor allem der Generation 65+, die noch das „große“ Britannien als Nationalstaat in guter Erinnerung haben, welche sich für den Austritt ausgesprochen haben. Vielleicht ist die öffentliche Meinung im UK somit in einigen Jahren eine ganz andere: wenn sich die wirtschaftlichen Auswirkungen eines drohenden Austritts bereits negativ auch bei den britischen Haushalten zeigen, das Land politisch auseinanderbrechen zu droht und Jugendliche, die diesmal noch nicht stimmberechtigt waren, ihre Stimme berücksichtigt sehen wollen. Wer nichts anderes als die EU kennt und – wie die Generation Easyjet – sich ihrer Vorteile zumindest im Ansatz bewusst ist, der möchte den gewohnten status quo nur ungerne aufgeben. Es wäre nicht das erste Mal, dass in EU-Staaten zur ein und derselben Materie zweimal abgestimmt wird und das Ergebnis letztlich ein ganz anderes ist.

Warum sich die Briten mehrheitlich gegen die Union ausgesprochen haben, warum Euroskeptizismus in Mode ist – das ist eine Frage, auf die es einen ganzen Strauß von Antworten gibt. Die multiplen Krisen, welche die Union derzeit betreffen, mögen ein Grund gewesen sein. Schwerer wiegt aber, und dies nicht nur im Vereinigten Königreich, eine generelle Unkenntnis über die EU und was wir ihr und der europäischen Integration zu verdanken haben: Frieden vor allem und Freiheit, aber auch wirtschaftlichen Wohlstand. Die Möglichkeit, ohne aufreibende Personen- und Warenkontrollen von einem Staat in den anderen zu reisen (mit Einschränkungen, wie sie z.B. für das UK gelten). Eine gemeinsame Währung für 19 Staaten in der EU. Die Möglichkeit, außerhalb des eigenen Staates zu studieren und zu arbeiten. „Fliegen zum Taxipreis“ (dank der durch die EU vorangetriebene Liberalisierung der Flugmärkte). Internationale Freundeskreise. Und immer wieder: Über 70 Jahre Frieden, Freiheit und Sicherheit. Das kann gar nicht oft genug betont werden, und, ja, wer das als irrelevant ansieht, möge ins Beinhaus von Verdun-Douaumont fahren. Dank der europäischen Integration ist der Ausflug dorthin für uns deutlich einfacher als für unsere Eltern oder Großeltern. Unsere Urgroßeltern oder die Generation vor ihnen hingegen kämpften dort für einen nationalistischen Irrglauben und Wahnsinn, der den Kontinent zum ersten Mal im 20. Jahrhundert zerstört hatte. Die Gebeine von über 130.000 unidentifiziert gebliebenen französischen und deutschen Gefallenen liegen in Douaumont aufgebahrt. Auch für sie haben wir unser heutiges Haus Europa aufgebaut.

Mit anderen Worten: dass es uns so gut geht, haben wir nicht den Staaten selbst zu verdanken sondern dem großen europäischen Projekt. Es zu bewahren, ist daher eine Aufgabe, die wir jeden Tag aufs Neue in Angriff nehmen müssen. Bürgerinnen und Bürger müssen erkennen, was sie an Europa haben – und das nicht, wenn es zu spät ist, wenn man nicht mehr Teil des Ganzen ist oder wenn dieses aufgehört hat zu existieren. Wir müssen uns „Europas“ und seines Nutzens bewusst sein. Wir alle sind gefordert, Europa zu vermitteln. Wir müssen Europa kritisch diskutieren und unseren Beitrag leisten, die Integration voranzubringen. Bevor es zu spät ist. Bildung spielt hier eine enorme Rolle: 66% derjenigen, die mit 16 die Schule verlassen haben, haben für den Brexit gestimmt. Von denjenigen mit einem Universitätsabschluss hingegen haben sich 71% für die EU-Mitgliedschaft ausgesprochen.

Auf der Ebene der EU darf es ein „Weiter-so“ nun nicht geben. Der frühere französische Präsident Nicolas Sarkozy gehörte zu den Ersten, die bereits vor dem Referendum eine Reform der Union angemahnt haben. Eine solche erscheint in der Tat notwendig. Die EU muss verständlich werden, bürgernah, in der Lage, aktuelle europäische Probleme und Herausforderungen geeint und solidarisch angehen zu können. Zudem wird die Heterogenität der Staaten, die nach einem Austritt der Briten nur unerheblich geringer wird, stärker berücksichtigt werden müssen: vielleicht ist ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten doch die Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart. Ob man sich nun tatsächlich gegen eine weitere Vertiefung der Integration sperren sollte, wie dies selbst von bekennenden Europäern mehr und mehr gefordert wird, sollte kritisch diskutiert werden.

Hoffentlich öffnet das Ergebnis des Brexit-Referendums die Augen der Europäer – und auch der Briten. Es ist anzunehmen, dass ein erheblicher Teil der Abstimmenden sich am 23. Juni nicht bewusst war, was sie eigentlich taten. Nicht anders sind Berichte zu verstehen, nach denen die Suchanfragen bei Google im Hinblick auf Bedeutung und Auswirkungen eines „Brexit“ nach Schließung der Wahllokale um 250% zunahmen. Dass die Debatte nicht immer ehrlich und objektiv geführt wurde, ist Teil eines jeden Wahlkampfes. Dass ein nicht unerheblicher Teil der Teilnehmer am Referendum schlicht falsch oder kaum informiert war oder sich von Emotionen statt Fakten leiten lassen hat, ist ebenfalls bekannt. Nun, da mögliche Konsequenzen schonungslos auf den Tisch gelegt werden und die Union Druck auf die Briten ausübt, folgt das „Bregret“ – das Bedauern über das Ergebnis bei den Briten.

Mit seinen Konsequenzen werden sie und werden wir zu leben lernen müssen.


Sebastian Zeitzmann hat in Folge des britischen Brexit-Referendums dem Saarländischen Rundfunk gleich mehrfach Interviews zu den Auswirkungen und Folgen gegeben.

Am 24. Juni war er bei Frauke Feldmann in der Sendung „Aktuell“ des SR TV zu Gast. Am 25. Juni unterhielt sich Sebastian Zeitzmann mit Gerd Heger im SR 3 Saarlandwelle in der Sendung „Region am Mittag“ und am 27. Juni mit Jochen Marmit im SR 2 KulturRadio in der Sendung „Der Nachmittag“. Während das Gespräch mit Frau Feldmann europapolitische Themen behandelte, behandelten die Radiointerviews in erster Linie zivilgesellschaftliche Fragen im Hinblick auf Briten und Rest-Europäer und mögliche Auswirkungen des Brexits auf sie.


*Dipl.-Jur. Sebastian Zeitzmann LL.M. ist Studienleiter an der Europäischen Akademie Otzenhausen und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europarecht und Europäische Integration sowie am Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht von Univ.-Prof. Dr. Thomas Giegerich LL.M.

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