Leserbrief in der FAZ von Prof. Dr. Thomas Giegerich

Am 29.12.2017 wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf S. 29 ein Leserbrief von Prof. Dr. Thomas Giegerich unter dem von der Redaktion hinzugefügten Titel „Kirchhof fern der Wirklichkeit“ abgedruckt. Dieser kritisiert den Artikel „Demo-crazy?“ von Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts in der FAZ vom 21.12.2017. Der eingesandte Leserbrief hat folgenden Wortlaut:

„ …aus Sicht des Elitenprojekts „Deutsche Verfassungsstaatlichkeit“ bietet das Elitenprojekt „Europäische Union“ zweifelsohne viel Anlass zur Kritik, gerade auch in demokratischer Hinsicht. Einige der Einwände des Kollegen Kirchhof im Artikel „Demo-crazy?“ vom 21.12.2017 liegen aber so weitab der heutigen Wirklichkeit, dass sie nicht unwidersprochen bleiben können.

Der Rat der EU tagt seit Jahren öffentlich, wenn er über Gesetzgebungsakte berät und abstimmt. Das Europäische Parlament besitzt längst nicht mehr „nur schmale Kompetenzen“ und entscheidet „sporadisch“, sondern ist im Regelfall mit dem Rat gleichberechtigter Mitgesetzgeber, auch in Bezug auf den Jahreshaushaltsplan und den Abschluss völkerrechtlicher Verträge der EU. Selbstverständlich gewährleistet die EU-Grundrechtecharta die Versammlungsfreiheit der Unionsbürger und damit ihr Recht, in Brüssel gegen die Politik der EU zu demonstrieren; sie machen davon auch praktischen Gebrauch.

Die Richtlinie ist keine Geheimwaffe, um unbemerkt vom Volkswillen bindendes EU-Recht in die nationalen Rechtsordnungen hineinzuschmuggeln. Sie ist vielmehr die Rechtsaktform, die die nationale Souveränität möglichst schont, indem sie den nationalen Gesetzgebern Anpassungsfristen einräumt und Umsetzungsspielräume belässt. Diese sind von Anfang an neben den im Rat vertretenen nationalen Regierungen am Verfahren des Richtlinienerlasses beteiligt, weil die Kommission ihre Entwürfe den nationalen Parlamenten zur gleichen Zeit wie dem Unionsgesetzgeber zuleitet. In Deutschland arbeiten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat bei der Formulierung der deutschen Position zu Richtlinienentwürfen eng zusammen. Eine vom Unionsgesetzgeber angenommene Richtlinie wird zeitnah auch in deutscher Sprache im Amtsblatt der EU veröffentlicht.

Art. 10 Abs. 2 EUV wälzt die Rechenschaftspflicht gegenüber dem Volk nicht auf die nationalen Regierungen ab. Der Kollege Kirchhof zitiert hier nur den zweiten Unterabsatz dieser Vertragsbestimmung, nicht aber deren ersten. Danach werden die Unionsbürgerinnen und -bürger auf Unionsebene unmittelbar im (von ihnen gewählten) Europäischen Parlament vertreten. Die demokratische Legitimation der EU-Rechtsakte beruht somit auf zwei Säulen, einer direkten unionalen (über das Europäische Parlament mit seinen multinational zusammengesetzten Fraktionen) und einer indirekten nationalen (über den Rat). Allein die unionale Säule vermag die unionsweite demokratische Legitimation von EU-Rechtsakten zu gewährleisten, die im Rat mit qualifizierter Mehrheit gegen die Stimmen von bis zu 13 Mitgliedstaaten angenommen werden. Wer die demokratische Funktion des Europäischen Parlaments minimiert, redet der Rückkehr zum Einstimmigkeitsprinzip im Rat das Wort. Ein solches de Gaulle’sches „Europa der Vaterländer“ kann in der globalen Welt des 21. Jahrhunderts nicht überleben, und die einzelnen Mitgliedstaaten haben je für sich heute keine ausreichende Gestaltungskraft.“

 

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