Demokratie gestalten im Zeitalter von Europäisierung und Globalisierung

Ein Beitrag von Thomas Giegerich

Demokratie heißt seit der Französischen Revolution Volkssouveränität. Seit ebendieser Zeit wissen wir, dass auch die Volkssouveränität rechtlich eingehegt werden muss, um nicht zum Terrorregime zu degenerieren. Volksherrschaft und Rechtsherrschaft sind die beiden Seiten unserer Souveränitätsmedaille.

Das Grundgesetz definiert Volkssouveränität seit 1949 folgendermaßen: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Diese Aussage ist zu sehr staatszentriert. In den letzten 70 Jahren ist die Welt viel enger zusammengewachsen. Es wirkt sich nicht nur über die Medien virtuell, sondern ganz greifbar tatsächlich auf uns aus, wenn in Syrien Kriegsverbrechen begangen werden, wenn der Klimawandel die Seychellen im Meer versinken lässt, in Ostafrika Hunger, in Südafrika Korruption und in Westafrika Ebola herrschen, wenn Nordkorea Atomwaffen testet oder der US-Präsident sein „America First“-Credo mittels Strafzöllen durchzusetzen versucht. Das zwingt uns, über den Staat hinaus zu denken.

Die souveränen Nationalstaaten haben ihre Lösungskapazitäten längst ausgereizt, ohne die heutigen Probleme kontinentaler und globaler Dimension bewältigen zu können. Die meisten von uns wissen, dass wir Menschen uns in überstaatlichen kontinentalen und weltumspannenden Herrschaftsverbänden organisieren müssen, um unser Überleben im 21. Jahrhundert zu sichern und unsere Beziehungen um Vorteil aller zu gestalten. Koalitionen williger Nationalstaaten, die sich im Einzelfall auf eine Problemlösung zu einigen versuchen, genügen dafür bei weitem nicht. Stattdessen brauchen wir dauerhafte institutionelle Strukturen, um auf kontinentaler und globaler Ebene effektive und zugleich legitime Entscheidungen treffen zu können.

Für die europäischen Staaten, die im Weltmaßstab klein sind, kommt noch Folgendes hinzu: Je einzeln können sie wenig ausrichten, um sich gegenüber den Global Players von Washington bis Beijing zu behaupten. Nur mit vereinten Kräften hat Europa eine Chance, das 21. Jahrhundert im Sinne seiner Werte (Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte) mitzugestalten. Den gewaltigen Umbrüchen in Gestalt der Globalisierung und Digitalisierung können wir in Europa nicht durch Rückzug in unsere nationalen Schneckenhäuser entgehen. Wir müssen sie stattdessen effektiv regulieren, und das kann uns nur gemeinsam gelingen. Deshalb ist die Europäisierung nicht Teil unseres Problems, sondern Teil unserer Lösung. Sie entspringt einer bewussten Entscheidung der europäischen Staaten und Völker, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, während wir die Globalisierung weit weniger zu steuern vermögen.

Um kontinentale und globale Probleme zu lösen und Europa als Mitgestalter der Weltpolitik zu erhalten, brauchen wir kontinentale und globale supranationale Hoheitsträger, die besser funktionieren und die Volksherrschaft und Rechtsherrschaft besser umsetzen als die UNO und die heutige EU. Die entscheidende Voraussetzung für effektives Funktionieren ist der Übergang von der Einstimmigkeit zu Mehrheitsentscheidungen, um Vetospiele auszuschließen. Zugleich aber wollen wir die auf staatlicher Ebene so lange und hart erkämpften demokratischen und rechtsstaatlichen Errungenschaften nicht preisgeben. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die supranationalen Hoheitsträger ihre Entscheidungen nicht nur effektiv, sondern auch legitim, d.h. im Einklang mit den Prinzipien der Demokratie und Rechtsherrschaft, treffen.

Wie man dies schaffen kann, dafür gibt die EU ein gutes, wenngleich verbesserungsbedürftiges Modell. Sie ist kein reiner Staatenverein, sondern eine bundesstaatsähnliche Union der Staaten und Völker Kerneuropas. Ihre Mitgliedstaaten sind jeder für sich demokratisch-rechtsstaatlich strukturiert. Die EU hat eine eigene geschriebene Verfassung in Vertragsform mit Grundrechtskatalog (GRC), welche die rechtlichen Grenzen ihres Handelns definiert. Der Gerichtshof der EU wacht darüber, dass diese Grenzen eingehalten werden.

Die EU ist als quasiföderale repräsentative Demokratie ausgestaltet. Ihre demokratische Legitimation besteht aus zwei Komponenten, einer europäischen und einer nationalen: Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im direkt gewählten Europäischen Parlament vertreten. Dabei sind die Europaabgeordneten Vertreter aller Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, gleichgültig in welchem Mitgliedstaat sie gewählt wurden. Die Mitgliedstaaten werden im Rat von ihrer jeweiligen Regierung vertreten, die ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen muss. Die Legitimation von EU-Maßnahmen durch das Europäische Parlament ist vor allem in denjenigen Fällen unerlässlich, in denen der Rat mit Mehrheit entscheidet. Denn die Regierungen und Parlamente der im Rat überstimmten Mitgliedstaaten können die betreffenden Maßnahmen nicht mit legitimieren.

Die repräsentative Demokratie der EU wird durch ein bisher eng begrenztes direktdemokratisches Element ergänzt – die europäische Bürgerinitiative. Mittels dieser können mindestens 1 Mio. Unionsbürgerinnen und Unionsbürger aus mindestens 7 Mitgliedstaaten die Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zur Fortentwicklung der EU zu machen. Dieses echt europäische Instrument wird zunehmend häufiger genutzt.

Wo ist bei alledem eigentlich das vielbeklagte Demokratiedefizit der EU? Es liegt im Wesentlichen in einem Defizit sozialer Legitimation der EU-Organe, die von den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern noch zu wenig als „ihre“ Organe akzeptiert werden, die ihre Lebenswirklichkeit positiv beeinflussen. Das hängt vor allem mit der Bürgerferne der vielsprachigen EU zusammen, deren Verfassung und Entscheidungsprozesse zu vielen Europäern als wenig durchschaubar erscheinen. Nicht ganz unschuldig daran sind auch die Regierungen der Mitgliedstaaten, die „Brüssel“ zu oft als willkommenen Sündenbock missbrauchen.

Hier gilt es anzusetzen: In einem ersten Schritt muss sich die EU als handlungsfähige Organisation beweisen, die ihren Bürgerinnen und Bürgern einen erkennbaren Mehrwert bringt. Die Mitgliedstaaten müssen an dieser Imagepflege tatkräftig mitwirken. Wichtig ist insbesondere die Aufgabe von Blockadehaltungen, die den Weg zu europäischen Kompromissen im Interesse aller ebnet.

In einem zweiten Schritt sollte das Europäische Parlament in der öffentlichen Wahrnehmung aufgewertet werden, sonst wird die Beteiligung an den Europawahlen weiter sinken. Auch hieran müssen die Mitgliedstaaten tatkräftig mitwirken. Wichtig ist, dass die europäischen Parteien auch für die nächste Europawahl wieder Spitzenkandidaten küren, die dann gegeneinander antreten. Ebenso wichtig ist es, dass nicht nationale Parteien mit einem nationalen Programm, sondern europäische Parteien mit einem europäischen Programm den Europawahlkampf 2019 bestreiten. Ein Fortschritt wäre insoweit die Vergabe einiger Parlamentssitze aufgrund transnationaler Listen gewesen.

In einem dritten Schritt ist der europäische politische Prozess stärker gegenüber den nationalen politischen Prozessen zu verselbstständigen. Dazu müssen die nationalen politischen Kräfte der EU mehr Eigenständigkeit lassen, anstatt sie über den Europäischen Rat, den Rat und die nationalen politischen Parteien fortlaufend zu dominieren. Der europäische politische Prozess darf nicht länger als eine Art Wurmfortsatz der nationalen politischen Prozesse wahrgenommen werden.

In einem vierten Schritt muss das institutionelle Gefüge der EU einfacher und anschaulicher und damit bürgernäher werden. Wichtig wäre hier eine Fusionierung der Positionen des Präsidenten des Europäischen Rats und des Präsidenten der Kommission. Wenn wir den einen Präsidenten der EU hätten, über den und dessen Programm bei der Europawahl abgestimmt würde, wären wir einen wesentlichen Schritt vorangekommen.

In einem fünften Schritt sollten schließlich direktdemokratische Elemente auf europäischer Ebene wie die europäische Bürgerinitiative aufgewertet und ausgebaut werden. Dies fördert die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit. Auch die Durchführung von Bürgerkonsultationen zur Zukunft Europas erscheint mir als gute Idee. Damit wäre die wichtige Nachricht an alle Europäerinnen und Europäer verbunden, dass die EU ein Interesse an ihnen hat und sie in die Planung unserer gemeinsamen Zukunft einbeziehen will.

Suggested Citation: Giegerich, Thomas, Demokratie gestalten im Zeitalter von Europäisierung und Globalisierung, jean-monnet-saar 2018, DOI: 10.17176/20220422-162249-0