Skizze zur „Philosophie“ des Europa-Instituts

Ansprache von Prof. Dr. Thomas Giegerich zur Eröffnung des Studienjahres des LL.M.-Studiengangs am Europa-Institut der Universität des Saarlandes

Ich freue mich über die Herausforderungen und Chancen, welche die Übernahme der Ko-Direktoren-Position am Europa-Institut mit sich bringt. Nach Saarbrücken bin ich 2012 gewechselt, um die vorhandenen Stärken dieses Instituts zu pflegen und auszubauen. Ich will vor allem die nationale und internationale Sichtbarkeit und Vernetzung des Europa-Instituts weiter intensivieren.

Wir leben in interessanten Zeiten – d.h. heißt Krisenzeiten – und erleben seit längerem eine europaweite öffentliche Debatte über die Zukunft der europäischen Integration. Manche Vorschläge sind konstruktiv (etwa die von Kommissionpräsident Barroso kürzlich vorgeschlagene Föderation von Nationalstaaten), andere eher destruktiv (etwa der Ausschluss bestimmter Staaten aus der Eurozone). Meine eigene Haltung zur europäischen Einigung ist dabei keineswegs konservativ und dennoch ganz altmodisch – sie basiert zur Hälfte auf Churchill und zur anderen Hälfte auf Robert Schuman.

Einerseits halte ich die Aufgabenbeschreibung Winston Churchills immer noch für richtig und dringlich:

„We must build a kind of United States of Europe.“

Denn die föderative Einigung bietet den europäischen Staaten und Völkern angesichts der politischen, wirtschaftlichen, finanziellen, sozialen, ökologischen und sonstigen Herausforderungen der Globalisierung die einzig realistische Chance, mit vereinten Kräften den Frieden, ihre Verfassungswerte und ihr Wohlergehen effektiv zu fördern. Für uns Europäerinnen und Europäer des 21. Jahrhunderts gilt nicht weniger als für die nordamerikanischen Kolonisten des 18. Jahrhunderts:

„We must either sink or swim together.“

Entweder bündeln wir zügig unsere Kräfte und steuern unser Schicksal auf demokratische Weise gemeinsam, oder wir lassen uns von externen Akteuren – seien es außereuropäische Großmächte in West und Ost oder diffuse Marktmächte – steuern.

Andererseits weiß ich wie Robert Schuman:

„L’Europe ne se fera pas d’un coup, ni dans une construction d’ensemble …“

Auf Deutsch: Man braucht für die Einigung Europas einen sehr langen Atem und darf sich durch grippale Infekte und sogar ausgewachsene Virusgrippen, wie sie momentan den Euro befallen hat, keinesfalls entmutigen lassen. Ziel war auch für Robert Schuman eine „Fédération européenne“, die er freilich in kleinen Schritten erreichen wollte. In den vergangenen sechs Jahrzehnten ist aus Schumans Montanunion der Sechs eine Europäische Union der 27 plus 1 geworden, die der Bundespräsident vor einigen Monaten ganz zu Recht „die größte politische Erfolgsgeschichte unseres Kontinents“ nannte. Die EU hat den Friedensnobelpreis wahrlich verdient.

Das europäische Einigungsprojekt wurde von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes übrigens sofort begeistert aufgenommen. Noch während der Schumanplan-Verhandlungen im Sommer 1950 forderte der Deutsche Bundestag nahezu einstimmig die Gründung eines europäischen Bundesstaates: Er wollte mehr Churchill als Schuman.

2009 hat es das Bundesverfassungsgericht dann ohne Not für richtig gehalten, sein Urteil zum Vertrag von Lissabon mit einer nicht entscheidungsrelevanten – also beiläufigen – Bemerkung zur europäischen Föderation zu verzieren. In diesem obiter dictum heißt es, das Grundgesetz ermächtige die deutschen Organe nicht, die Bundesrepublik Deutschland in einen europäischen Bundesstaat einzugliedern. Ein solch weitreichender Schritt sei einer neuen unmittelbaren Entscheidung des Deutschen Volkes vorbehalten. Soll die „europäische Föderation“ – der Traum der Gründergeneration der Bundesrepublik Deutschland – wirklich nur um den Preis einer Aufgabe unseres sehr erfolgreichen Grundgesetzes zu errichten sein? Macht das Grundgesetz die Legitimität einer solchen Föderation wirklich von einem Volksentscheid abhängig, dem es selbst nie unterzogen worden ist? Soll die europäische Einigung anders als die deutsche Wiedervereinigung zum „constitutional moment“ für Deutschland werden – erstmals seit 1919?

Als Akt der Verfassungsinterpretation halte ich von diesem obiter dictum wenig. Es hat freilich einen politisch richtigen Kern: Die europäische Integration ist (wie übrigens auch der Verfassungsstaat) ein Elitenprojekt. Sie kann nur gelingen, wenn sie von der großen Mehrheit des deutschen Volkes und der anderen europäischen Völker dauerhaft getragen wird. Um deren Zustimmung müssen wir uns unablässig intensiv bemühen, heute mehr denn je. Ein erster Schritt besteht in der Verbreitung von Kenntnissen über die Europäische Union – ihrer Vorzüge und ihrer Probleme. Denn man schätzt nur, was man kennt, und fürchtet, was man nicht kennt.

Dabei dürfen wir unsere Bemühungen, die europäische Integration zu erklären und für sie zu werben, nicht auf die heutigen Unionsbürgerinnen und Unionsbürger beschränken. Wir dürfen auch nicht nur an die Bürgerinnen und Bürger der Beitrittsländer denken. Im Gegenteil müssen wir die Menschen im übrigen Europa, in Afrika, Amerika, Asien, Australien und Ozeanien ebenso sehr ansprechen. Als weltweit einziges Projekt einer überstaatlichen Demokratie steht die EU in einer großen Verantwortung: Sie muss der internationalen Gemeinschaft beweisen, dass eine solche überstaatliche Demokratie möglich, erfolgreich und dauerhaft ist. Als Modell kontinentaler Einheitsbildung mit den Mitteln des Rechts, welche die Vielfalt wahrt und zugleich Frieden, Freiheit und Wohlstand gewährleistet, soll die EU Nachahmer außerhalb Europas finden. Dies liegt im Interesse der ganzen Welt. Warum soll z.B. zwischen Indien und Pakistan oder Israel und Palästina oder China und Japan nicht möglich sein, was zwischen Deutschland, Frankreich und Polen möglich gewesen ist? Ich darf hier noch einmal Churchill zitieren: „The process is simple. All that is needed is the resolve of hundreds of millions of men and women to do right instead of wrong, and gain as their reward, blessing instead of cursing.”

Sie, meine Damen und Herren Studierende des Aufbaustudiengangs, wollen die Europäische Union hier bei uns am Europa-Institut intensiv kennenlernen. Anschließend werden Sie als Multiplikatoren in die weite Welt zu gehen, dort Neugier für das europäische Einigungsprojekt wecken und Ihre Kenntnisse weitergeben. Wir machen Sie zu „Botschaftern der Idee der europäischen Integration“. Zugleich sind wir selbst neugierig auf Ihre eigenen Erfahrungen, Einsichten, kritischen Fragen und Beiträge. Denn Ihre Außenperspektive bewahrt uns vor Betriebsblindheit. Sie lässt uns die Stärken und Schwächen unseres europäischen Projekts deutlicher erkennen. Ich wünsche Ihnen und uns daher einen interessanten und fruchtbaren Austausch und gutes Gelingen hier in Saarbrücken.

Suggested Citation: Giegerich, Thomas, Skizze zur „Philosophie“ des Europa-Instituts, jean-monnet-saar 2013, DOI: 10.17176/20220308-153107-0