Alle Beiträge von Desirée Schmitt

„Völker- und europarechtliche Perspektiven auf Flucht“ – Ein Vortrag von Univ.-Prof. Dr. Thomas Giegerich

Univ.-Prof. Dr. Thomas Giegerich hielt am 13.2.2017 im Rathausfestsaal Saarbrücken im Rahmen der Ringvorlesung „Fluchtraum Europa – interdisziplinäre Perspektiven“ einen Vortrag zum Thema „Völker- und europarechtliche Perspektiven auf Flucht“. Die Powerpoint-Folien finden Sie hier.

Extraterritoriale Anwendbarkeit der EMRK im bewaffneten Konflikt: Al-Saadoon & Ors. v. Secretary of State for Defense im Vereinigten Königreich

Der neueste Aufsatz in der E-Paper Serie Blueprints zum Thema „Extraterritoriale Anwendbarkeit der EMRK im bewaffneten Konflikt: Al-Saadoon & Ors. v. Secretary of State for Defense im Vereinigten Königreich“ von Simon Biehl befasst sich mit der durch die britischen Gerichte erfolgten Auslegung der EMRK hinsichtlich der Reichweite von Art. 1 EMRK. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf die durch Richter Leggatt am High Court of Justice erfolgte Interpretation gelegt, welcher sich u.a. mit der Frage auseinanderzusetzen hatte, ob bereits das Erschießen eines Zivilisten durch britische Soldaten im Irak die EMRK zur Anwendung bringen solle.

Der Beitrag ist hier direkt abrufbar.

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Interview von Univ.-Prof. Dr. Giegerich zur Rede von Theresa May

Am 18.1.2017 gab Univ.-Prof. Dr. Thomas Giegerich im SR2-Kulturradio ein Interview zu den Fragen, die die Rede der britischen Premierministerin Theresa May über die Ziele des Vereinigten Königreichs bei den bevorstehenden Brexit-Verhandlungen mit der EU aufwirft. Er plädierte im Interesse aller Europäer dafür, bei diesen Verhandlungen auf beiden Seiten Vernunft walten zu lassen. Das Interview finden Sie hier.

 

Sieg oder Niederlage für den Front Polisario?

Das Urteil des EuGH in der Rechtssache C‑104/16 P

Die sahrauische Unabhängigkeitsbewegung unterliegt in zweiter Instanz mit ihrer Nichtigkeitsklage gegen den ein Abkommen der EU mit Marokko zur Handelsliberalisierung billigenden Ratsbeschluss 2012/497/EU. Die Klageabweisung beruht allerdings gerade auf der vom Front Polisario angestrebten Feststellung, das Abkommen dürfe nicht auf das umstrittene Gebiet der Westsahara angewendet werden.

Ein Beitrag von Helen Küchler und Thomas Giegerich**


A. Einordnung des EuGH-Urteils

Das in diesem Blog bereits thematisierte Verfahren Front Polisario gegen Rat der EU[1] hat kurz vor Weihnachten mit dem Urteil des EuGH vom 21.12.2016 seinen Abschluss gefunden. Die in der Überschrift unseres letzten Blogbeitrags zur Entscheidung der ersten Instanz aufgeworfene Frage, ob ein „Abkommen der EU mit Marokko auf das umstrittene Gebiet der Westsahara angewendet werden dürfe“, wurde nun nach dem EuG auch vom EuGH mit einem klaren Nein beantwortet. Allein diese im Urteil der zweiten Instanz enthaltene Aussage dürfte für den Kläger, die nationale Unabhängigkeitsbewegung des Volkes der Westsahara (Sahrauis), den „Front Polisario“, ein politischer Erfolg gewesen sein,[2] der die Außenhandels-Beziehungen der EU zu Marokko zukünftig etwas schwieriger gestalten dürfte.[3]

Juristisch gesehen stellt das Urteil der Rechtsmittelinstanz für den Front Polisario jedoch einen Rückschlag dar,[4] denn der EuGH wies seine Klage als unzulässig ab. Der Gerichtshof zog aus der Feststellung der Unanwendbarkeit des von der EU abgeschlossenen Liberalisierungs- und Assoziierungsabkommens mit Marokko auf die Westsahara damit andere Schlüsse als das EuG, hob dessen Urteil vom 10.12.2015[5] auf und entschied selbst endgültig, da die Rs. entscheidungsreif war. Das EuG hatte den durch den Front Polisario angefochtenen Ratsbeschluss, der das Abkommen zwischen der EU und Marokko genehmigte, insoweit für nichtig erklärt, wie dieser die Anwendung des Abkommens auf die Westsahara billigte. Im Gegensatz zum EuG[6] und entsprechend den Schlussanträgen des Generalanwalts Wathelet[7] nahm der EuGH jedoch an, dass die Westsahara schon nicht vom räumlichen Geltungsbereich des Abkommens umfasst sei. Das Abkommen sei vielmehr auf das völkerrechtlich anerkannte und unumstrittene Gebiet Marokkos beschränkt.[8] In den Rn. 83-125 seines Urteils widerlegt der EuGH dezidiert die Behauptung des Front Polisario, dass das streitgegenständliche Abkommen „in der Praxis in bestimmten Fällen auf die Westsahara angewandt werde, obwohl diese nicht zum Hoheitsgebiet des Königreichs Marokko gehöre“ und folgert hieraus sodann, dass der Front Polisario durch den Ratsbeschluss gerade nicht in eigenen Rechten betroffen sei. (Rn. 131) Die Anforderung des Art. 263 Abs. 4 AEUV an die Klagebefugnis sei im vorliegenden Fall mithin nicht erfüllt.

Ohne auf die weiteren Erwägungen der Rechtsmittelbegründung einzugehen, wies der EuGH die Klage des Front Polisario aufgrund seiner fehlenden Klagebefugnis ab. Die nach dem Urteil des EuG in der Literatur umstrittene Frage, inwieweit die EU im Rahmen ihrer Außenhandelsbeziehungen die Einhaltung der Menschenrechte gewährleistet werden muss, blieb deswegen leider ungeklärt.[9] Dafür setzte sich der EuGH bei der Auslegung des Liberalisierungsabkommens intensiv mit den „in den Beziehungen zwischen der Union und dem Königreich Marokko anwendbaren einschlägigen Völkerrechtssätzen“ (Rn. 132) auseinander und trug zur Klärung der im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WÜRV) kodifizierten Auslegungsregeln des Völkergewohnheitsrechts bei. Auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker und der völkerrechtliche Status der Westsahara wurden durch den Gerichtshof intensiv erörtert.[10]


B. Entscheidungsgründe

Nach Ansicht des EuGH spricht eine Vielzahl von völkerrechtlichen Erwägungen gegen die vom EuG zur Begründung der Klagebefugnis getroffene Annahme, dass das Liberalisierungsabkommen der EU mit Marokko auch auf die Westsahara anwendbar sei. Das EuG habe den Begriff „Gebiet des Königreichs Marokko“, mit dem der räumliche Geltungsbereich des Liberalisierungsabkommens festgelegt wird, rechtlich falsch ausgelegt, weil es die in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbaren einschlägigen Völkerrechtssätze bei der Auslegung des Abkommens entgegen Art. 31 Abs. 3 Buchst. c WÜRV nicht ausreichend berücksichtigt habe. (Rn. 86)

Als erster einschlägiger Rechtssatz des Völkerrechts sei das durch die Resolution 2625 (XXV) der Generalversammlung der UN präzisierte, gewohnheitsrechtlich anerkannte Selbstbestimmungsrecht der Völker zu beachten gewesen, da dieses den Sahrauis entsprechend dem Gutachten des IGH über die Westsahara und mehreren Resolutionen der UN-Generalversammlung zustehe. Der aus diesem Recht resultierende besondere Status der Westsahara stehe der vom EuG vorgenommenen Auslegung entgegen, nach der ihr Gebiet in den territorialen Anwendungsbereich des Abkommens der EU mit Marokko falle. Das EuG habe somit zwar den besonderen Status, über den die Westsahara nach dem Völkerrecht – insbesondere aufgrund des Selbstbestimmungsrecht der Völker – verfüge, erkannt, hieraus aber nicht die richtigen Konsequenzen gezogen. (Rn. 92 f.)

Nach Art. 29 WÜRV seien Verträge zwar immer auf das „gesamte Hoheitsgebiet“ der Vertragsparteien anwendbar. Dieser Begriff umfasse aber gerade nicht – wie vom EuG angenommen – auch umstrittene Territorien. Vielmehr gelte Art. 29 WÜRV nur für den räumlichen Bereich, in dem der Staat sämtliche Befugnisse ausübe, die ihm nach dem Völkerrecht als souveräne Einheit zustünden. (Rn. 95) Sollte ein Vertrag darüber hinaus auch auf andere Gebiete Anwendung finden, z.B. auf solche, die der betreffende Staat faktisch (zum Teil) kontrolliere oder für dessen internationale Beziehungen er verantwortlich sei, wäre es nach internationaler Praxis notwendig, dieses Gebiet explizit in den Anwendungsbereich des Vertrages einzubeziehen. (Rn. 96-99)

Der zweite durch das EuG nach Ansicht des EuGH fälschlicherweise missachtete Völkerrechtssatz betrifft die relative Wirkung von Verträgen gegenüber Dritten. Nach diesem in Art. 34 WÜRV kodifizierten Grundsatz dürfen Verträge Dritten ohne deren Zustimmung weder schaden noch nützen (pacta tertiis nec nocent nec prosunt). Aufgrund des im Urteil eingangs hergeleiteten, gesonderten völkerrechtlichen Status der Westsahara sei diese „Dritter“ im Sinne der Pacta-Tertiis Regel. Die Durchführung des Abkommens zwischen Marokko und der EU auf dem Gebiet der Westsahara bedürfte demnach der ausdrücklichen Zustimmung der Sahrauis. Da diese vorliegend jedoch nicht erfolgt war, sei es seitens des EuG rechtfehlerhaft gewesen, davon auszugehen, dass die Vertragsparteien sich stillschweigend darauf geeinigt hätten, ihr Abkommen auch auf das Gebiet der Westsahara, also zulasten eines Dritten anzuwenden. (Rn. 106-108)

Eine stillschweigende Ausweitung des räumlichen Anwendungsbereichs des Liberalisierungsabkommens auf die Westsahara lässt sich nach Überzeugung des EuGH auch nicht aus dem Unterlassen des Rats der EU folgern, eine Klausel in das Abkommen aufzunehmen, die die Westsahara ausdrücklich von seinem räumlichen Geltungsbereich ausgenommen hätte. Eine solche explizite Regelung sei nicht notwendig gewesen, da das streitgegenständliche Abkommen nur einen bereits bestehenden Vertrag mit Marokko abgeändert habe. Nach Art. 30 Abs. 2 WÜRV gelten dessen frühere Vorschriften vorrangig weiter, soweit sie nicht ausdrücklich durch das neue Abkommen abgeändert wurden. Für den Anwendungsbereich des Vertrages bedeute dies, dass die Westsahara auch weiterhin nicht hierunter falle, da sich schon das frühere Abkommen nicht auf dieses Gebiet bezogen habe. Die vom EuG bemängelte „Untätigkeit“ des Rates sei somit unschädlich gewesen und habe nicht die Anwendung des Abkommens auf die Westsahara zur Folge gehabt. (Rn. 109-116)

An dieser Feststellung ändert sich laut EuGH auch dann nichts, wenn man das durch das EuG angeführte Problem der De-Facto-Anwendung einiger Vorschriften des Liberalisierungsabkommens auf Erzeugnisse mit Ursprung in der Westsahara berücksichtigt. Denn diese faktische Durchführung des Vertrages sei nur dann als „spätere Übung“ gem. Art. 31 Abs. 3 Buchst. b WÜRV bei der Auslegung des Vertrages zu berücksichtigen, wenn sich aus ihr die „Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung“ ergäbe. (Rn. 120) Das EuG habe im vorliegenden Fall jedoch gerade nicht nachweisen können, dass Marokko und die EU durch diese Praxis übereinstimmend den Anwendungsbereich ihres Vertrages hätten abändern wollten. Im Gegenteil, die Umstände des Falls sprächen eher gegen eine solche Absicht der EU. Denn würde die Union Marokkos De-Facto-Anwendung des Abkommens auf Produkte aus der Westsahara zustimmen, würde sie das Abkommen in einer Weise durchführen, die gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die relative Wirkung völkerrechtlicher Verträge und den Grundsatz der Durchführung der Verträge nach Treu und Glauben verstieße. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Union mit solchen Verstößen gegen zwingende Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts einverstanden sei. Darum dürfe dem EuG nicht in der Annahme gefolgt werden, dass die EU den Anwendungsbereich des Abkommens durch dessen De-Facto-Anwendung auf die Westsahara völkerrechtswidrig auf dieses Gebiet habe erweitern oder diese Ausweitung zumindest habe billigen wollen. (Rn. 118-126)


C. Kommentar

Die Frage nach Sieg oder Niederlage im Verfahren Front Polisario gegen Rat vor dem EuGH lässt sich aufgrund der Argumentation des Gerichtshofes nicht eindimensional beantworten. Auch wenn die Klage des Front Polisario letztlich abgewiesen wurde, konnte die Unabhängigkeitsbewegung vor dem EuGH zumindest die Bestätigung des gesonderten internationalen Status der Westsahara und die Feststellung der hieraus resultierenden Unanwendbarkeit des Abkommens zwischen der EU und Marokko auf dieses Gebiet erreichen. Andererseits ändert sich nach der Aufhebung des Urteils des EuG, also der Aufhebung der (Teil-) Nichtigkeit des Ratsbeschlusses, in der Praxis erst einmal nichts. Der EuGH verlangt von Rat und Kommission weder eine Neuverhandlung des Abkommens mit Marokko noch ausdrücklich ein sonstiges Tätigwerden, um dessen De-facto-Anwendung auf Erzeugnisse aus der Westsahara effektiv zu verhindern.

Im Gegenteil, der Rat und die Kommission können nach ihrem Sieg in der zweiten Instanz aufatmen. Der EuGH macht in seinem Urteil zwar deutlich, dass er die De-facto-Durchführung des Abkommens auf dem Gebiet der Westsahara für völkerrechtswidrig hält. Er zieht hieraus jedoch – jedenfalls ausdrücklich – keine von den Unionsorganen umzusetzende Konsequenz. Während das EuG von den Unionsorganen verlangte, beim Abschluss und bei der Durchführung von Handelsabkommen sicherzustellen, dass diese nicht nur das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Völker, sondern auch die Menschenrechte beachten, vermeidet der EuGH einen so weitreichenden Eingriff in das Ermessen der Unionsorgane. Dem Rat und der Kommission steht es nach dem Urteil des EuGH frei, wie sie die hierin enthaltenen Erwägungen zum anwendbaren Völkerrecht in den Beziehungen der Union zu Marokko in die Praxis einfließen lassen. In dieser Hinsicht kann die Entscheidung des EuGH gewissermaßen als Weihnachtsgeschenk an die Unionsorgane betrachtet werden: Ihr weiter, durch das Urteil des EuG bedrohte Ermessensspielraum bei der Umsetzung (völker-) rechtlicher Vorgaben im Bereich des Außenhandels wird wiederhergestellt.

Aus Sicht des Front Polisario ist dies ein unbefriedigendes Ergebnis, denn auf eine aktive Unterstützung des Rats und der Kommission vermag die Unabhängigkeitsbewegung kaum zu vertrauen. Gegen die den Unionsorganen bekannte De-Facto-Anwendung des Abkommens auf sahrauische Produkte unternahmen diese bisher nämlich gerade nichts. Andererseits hat der EuGH in seinen tragenden Entscheidungsgründen unmissverständlich klargestellt, dass diese Praxis gegen grundlegende Völkerrechtsregeln verstößt, an die neben Marokko und den EU-Mitgliedstaaten auch die EU selbst gebunden ist. Dass er daraus keine ausdrücklichen Konsequenzen zog, ist der besonderen prozessualen Konstellation geschuldet. Denn zu entscheiden hatte der Gerichtshof nur über die Klagebefugnis des Front Polisario gegen den Ratsbeschluss über den Abschluss des Liberalisierungsabkommens. An sich sind die Organe der Union und der Mitgliedstaaten fortan verpflichtet sicherzustellen, dass die Abkommen zwischen der EU und Marokko nicht auf Waren aus der Westsahara angewendet werden. Sollte es darüber zum Streit etwa vor den Gerichten eines Mitgliedstaats kommen und würden diese vom EuGH eine entsprechende Vorabentscheidung erbitten, wäre deren Inhalt durch die Entscheidungsgründe im Front-Polisario-Fall vorgegeben.[11]

In der Tat ist ein entsprechendes Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court), bereits seit einigen Monaten vor dem EuGH anhängig.[12] Es bezieht sich auf das ursprüngliche Europa-Mittelmeerabkommen von 2000 zur Gründung einer Assoziation mit Marokko[13] und das partnerschaftliche Fischereiabkommen von 2006 zwischen der EG und Marokko[14] mit Protokoll von 2013.[15]

Die Queen’s Bench Division hat dem EuGH in offensichtlicher Anknüpfung an das EuG-Urteil im Polisario-Fall u.a. folgende Fragen vorgelegt: „In the … Association Agreement …, do the references to ‘Morocco’ … refer only to the sovereign territory of Morocco as recognised by the United Nations and the European Union … and therefore preclude products originating in Western Sahara from being imported into the EU free of customs duties pursuant to the Association Agreement? If products originating in Western Sahara may be imported into the EU free of customs duties pursuant to the Association Agreement, is the Association Agreement valid, having regard to the requirement under Article 3(5) of the Treaty on European Union to contribute to the observance of any relevant principle of international law and respect for the principles of the United Nations Charter and the extent to which the Association Agreement was concluded for the benefit of the Saharawi people, on their behalf, in accordance with their wishes and/or in consultation with their recognized representatives?” Das vorliegend besprochene EuGH-Urteil lässt erwarten, dass der EuGH die erste Frage bejahen und die zweite daher nicht beantworten wird.

Weitere Vorabentscheidungsersuchen, welche die faktische Anwendung der vorgenannten Abkommen auf Produkte aus den Land- und Seegebieten der Westsahara thematisieren, werden nicht lange auf sich warten lassen. Diese Entwicklung zeigt übrigens, dass Art. 24 Abs. 1 UA 2 Satz 6 EUV und Art. 275 AEUV, die EU-Rechtsakte im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in rechtsstaatlich problematischer Weise zu gerichtsfreien Hoheitsakten erklärt haben, nicht verhindern können, dass der EuGH über außenpolitisch höchst sensible Rechtsfragen entscheidet.

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* Dr. Helen Küchler, Master 2 en droit, ist Senior Associate bei CMS.

** Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M., Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität des Saarlandes.

[1] Giegerich/Küchler, Darf ein Abkommen der EU mit Marokko auf das umstrittene Gebiet der Westsahara angewendet werden?, https://jean-monnet-saar.eu/?p=1146#_ftn18 (8.1.2016).

[2] Hummelbrunner/Prickartz, EU-Morocco Trade Relations Do Not Legally Affect Western Sahara – Case C-104/16 P Council v Front Polisario, European Law Blog v. 5.1.2016, http://europeanlawblog.eu/2017/01/05/ eu-morocco-trade-relations-do-not-legally-affect-western-sahara-case-c-10416-p-council-v-front-polisario/ (8.1.2016). Stevenson, Morocco’s claim to Western Sahara dismissed by European court, Artikel v. 21.1.2.2016 auf http://www.middleeasteye.net/news/european-court-dismisses-moroccos-claim-western-sahara-1193098035 (8.1.2016), sieht durch das Urteil des EuGH den Status der Westsahara als eigenständiges Gebiet bestätigt und zitiert den Prof. Jacob Mundy der hierin einen weiteren „symbolischen Sieg“ des Front Polisario sieht.

[3] Gehring, EU/Morocco relations and the Western Sahara: the ECJ and international law, Blogbeitrag v. 23.12.2016, http://eulawanalysis.blogspot.de/2016/12/eumorocco-relations-and-western-sahara.html (8.1.2016).

[4] El Fadli, Polisario Inconsolable after Setback at European Court of Justice, Artikel v. 21.12.2016 auf http://autonomy-plan.org/1656-polisario-inconsolable-after-setback-at-european-court-of-justice.html (8.1.2016), bewertet die juristische Niederlage als „serious setback“ für die Unabhängigkeitsbewegung.

[5] EuG, Front Polisario gegen Rat der EU, Urteil v. 10.12.2015, ECLI:EU:T:2015:953.

[6] Ibid., Rn. 103.

[7] Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet v. 13.9.2016, ECLI:EU:C:2016:677.

[8] Vgl. Hummelbrunner/Prickartz, EU-Morocco Trade Relations Do Not Legally Affect Western Sahara – Case C-104/16 P Council v Front Polisario, European Law Blog v. 5.1.2016, http://europeanlawblog.eu/2017/01/05/ eu-morocco-trade-relations-do-not-legally-affect-western-sahara-case-c-10416-p-council-v-front-polisario/ (8.1.2016).

[9] Näher zu dieser Frage, siehe den ersten Beitrag zu diesem Verfahren auf diesem Blog: Giegerich/Küchler, Darf ein Abkommen der EU mit Marokko auf das umstrittene Gebiet der Westsahara angewendet werden?, https://jean-monnet-saar.eu/?p=1146#_ftn18 (8.1.2016) und Vidigal, Trade Agreements, EU Law, and Occupied Territories (2): The General Court Judgment in Frente Polisario v Council and the Protection of Fundamental Rights Abroad, EJIL Talk v. 11.12.2015, http://www.ejiltalk.org/13901-2/ (8.1.2016).

[10] Gehring, EU/Morocco relations and the Western Sahara: the ECJ and international law, Blogbeitrag v. 23.12.2016, http://eulawanalysis.blogspot.de/2016/12/eumorocco-relations-and-western-sahara.html (8.1.2016).

[11] Vgl. EuGH, Urt. v. 25.2.2010 (Rs. C-386/08), ECLI:EU:C:2010:91, Fa. Brita GmbH gegen Hauptzollamt Hamburg-Hafen: Keine Anwendung der im Assoziierungsabkommen EG-Israel vereinbarten Zollpräferenzen auf Waren aus dem von Israel militärisch besetzten Westjordanland.

[12] Rs. C-266/16 (Western Sahara Campaign UK v Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs, Secretary of State for Environment, Food and Rural Affairs), Vorlagebeschluss vom 13.5.2016, http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=181780&pageIndex=0&doclang=EN&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=871140 (13.1.2016). Dazu ausführlich: Hart, Western Sahara goes to Europe, UK Human Rights Blog v. 23.10.2015.

[13] ABl. 2000 Nr. L 70/1.

[14] ABl. 2006 Nr. L 141/1.

[15] Abl. 2013 Nr. L 328/2.

Quelle des Beitragsbildes: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Europe_Flag_%283376397034%29.jpg?uselang=de

Suggested Citation: Giegerich, Thomas, Küchler, Helen, Sieg oder Niederlage für den Front Polisario?, jean-monnet-saar 2017, DOI: 10.17176/20220706-163600-0

Eine Institution der EU erreicht ihre „Volljährigkeit“: Eine Europäische Bürgerinitiative vor der Großen Kammer des EuGH

Ein Beitrag von Eleftherios Petropoulos*

A. Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) im unionalen „Werkzeugkasten“

Im Lichte des Axioms der repräsentativen Demokratie als Fundament des Europäischen Projekts[1] findet die EBI als erste transnationale sui generis agenda-setting Initiative[2] in Art. 11 (4) EUV unter dem Titel „Bürgerbeteiligung“ ihren Platz im Primärrecht der Union. Hier wird ein Aufforderungsrecht der Unionsbürger institutionalisiert, anhand dessen sie die Europäische Kommission auffordern können, sich mit Themen zu beschäftigen, die für die Unterstützer dieser Initiative wichtig sind, und dazu Lösungen vorzuschlagen. Aus diesem Grund ist diese Vorschrift mit den Art. 225 und 241 AEUV zu vergleichen.[3] Die Kernelemente dieses Mechanismus sind im Art. 11 (4) EUV vorgesehen. Die Konkretisierung der Verfahrensmodalitäten erfolgte, dem Art. 24 (1) AEUV zufolge, in der Verordnung Nr. 211/2011.[4]

Das Verfahren wird von einem Ausschuss von 7 Unionsbürgern (die das aktive Wahlrecht zum EP besitzen müssen) aus mindestens 7 verschiedenen EU-Mitgliedstaaten initiiert (Art. 3 Abs. 1, 2 VO). Zu Beginn der ersten Phase muss die EBI bei der Kommission auf der Basis bestimmter Regeln registriert werden (Art. 4 und Anhang II der VO). Es muss hier hervorgehoben werden, dass die Erwähnung von konkreten Artikeln aus den Verträgen zwar vorgesehen ist, eine generelle Beschreibung des Initiativeobjekts allerdings ausreichend ist.[5]  Auf dieser Basis muss die Kommission binnen zwei Monaten (Art. 4 Abs. 2 VO) eine rechtliche Kontrolle durchführen. Sie hat zu prüfen, ob die Initiative im Rahmen der Kompetenzen der Kommission liegt, im Einklang mit den Werten der Union steht und einen angemessenen Inhalt hat. Sollte eine Voraussetzung nicht erfüllt sein, ist die Registrierung abzulehnen (Art. 4 Abs. 3 VO).

Wurde die Kontrolle bestanden, beginnt die 12-monatige Periode  der Unterstützungssammlung, sowohl in Papierform als auch elektronisch (Art. 5 Abs. 2 VO). Insgesamt müssen 1.000.000 Bürger aus mindestens 7 Staaten (1/4 der EU- Mitglieder, Art. 7)  mobilisiert werden. Die Mindestzahl der Unterzeichner aus jedem dieser Staaten wird errechnet durch Multiplikation der Anzahl der dort jeweils gewählten Mitglieder des EP multipliziert mit 750 (Art. 7 Abs. 2 und Anhang I VO). Hierdurch wird die europaweite Verbreitung sowie die Voraussetzung der Existenz einer europäischen Angelegenheit als Gegenstand der EBI sichergestellt.[6] Nach Erreichen der erforderlichen Stimmenzahl werden diese von den Mitgliedstaaten überprüft (Art. 8 VO). Im Anschluss daran wird die Initiative der Kommission vorgelegt (Art. 9 VO). Diese muss innerhalb von drei Monaten über die Zukunft der Initiative entscheiden (Art. 10 VO), wohingegen im EP eine Anhörung der Organisatoren vorgesehen ist (Art. 11 VO).

B. Die EBI in der Praxis – Rechtsschutz

Seit dem Inkrafttreten der VO Nr. 211/2011 wurden bei der Kommission 59 Initiativen eingereicht; 39 davon hat diese angenommen. Unter diesen haben lediglich 3 die Hürde der 1 Million Unionbürger überwunden, für 2 hat die Sammlung der notwendigen Unterschriften kürzlich angefangen und für 2 weitere wurde diese vor kurzem abgeschlossen.[7]

Die Ablehnung der Registrierung einer EBI gibt ihren Organisatoren die Möglichkeit, diese Mitteilung der Kommission vor dem Gericht durch eine Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV anzufechten.[8] Das Gericht hatte bisher dreimal die Gelegenheit, sich hierzu zu äußern. In allen drei Fällen wurde die Entscheidung der Kommission bestätigt.

C. Der Fall Anagnostakis – Eine Initiative gegen die Überschuldung Griechenlands

Im Juli 2012 wurde der Kommission die Initiative „ONE MILLION SIGNATURES FOR “A EUROPE OF SOLIDARITY” vorgelegt.[9] Ihr Gegenstand war die Etablierung bzw. die Verankerung des Notlageprinzips im Recht der Union, wenn die „finanzielle und politische Existenz eines Staates in Gefahr gerät, weil dieser einer verabscheuungswürdigen Schuld nachzukommen {versucht}“. In diesem Fall sei die Verweigerung der Rückzahlung dieser Schuld „notwendig und gerechtfertigt“.[10] Als Rechtsgrundlagen für den Erlass von entsprechenden Rechtsakten auf Vorschlag der Kommission wurde auf die Art. 119 -144 AEUV (Titel VIII – Wirtschafts- und Währungspolitik der Union) verwiesen.

Am 06.09.2012 wurde den Organisatoren mitgeteilt, dass die vorgelegte Initiative „offenkundig außerhalb der Kompetenzen der Kommission“ liege. Daher wurde die Registrierung gemäß Art. 4 (2) b VO Nr. 211/2011 abgelehnt.[11] Die Kommission hat in ihrem Beschluss unterstrichen, dass weder die von den Organisatoren vorgebrachten Artikel noch irgendeine andere Vorschrift des Primärrechts als Basis für den Erlass von Rechtsakten der Union dienen könnten.[12] Insbesondere wurde von der Kommission unterstrichen, dass Art. 136 (1) AEUV nur dann als Grundlage herangezogen werden könne, wenn die fraglichen Maßnahmen die Haushaltsdisziplin aller Mitgliedstaaten beträfen und diese dem „reibungslose[n] Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion“ dienten. Anhand des Art. 136 (1) AEUV könne die Union nicht in die Lage der Staaten versetzt werden und die Steuerung ihrer hoheitlichen Wirtschaftspolitik übernehmen.

D. Das Urteil des Gerichts – Rechtssache T-450/12[13]

Die Ablehnungsmitteilung der Kommission hat dazu geführt, dass das Gericht sich zum ersten Mal mit der Europäischen Bürgerinitiative befasste. Die wichtigsten Punkte der Analyse der Richter können in den folgenden Punkten zusammengefasst werden:

Zunächst hat sich das Gericht mit der Rüge der Verletzung der Begründungspflicht seitens der Kommission beschäftigt. Gemäß Art. 4 (3) VO Nr. 211/2011 ist die Kommission im Falle der Verweigerung der Registrierung einer EBI dazu verpflichtet, den Organisatoren die Gründe dieser Entscheidung mitzuteilen. Diese Verpflichtung stellt aber keine Neuigkeit dar, sondern ist im Lichte des Art. 296 AEUV zu betrachten, wonach alle Rechtsakte mit einer Begründung zu versehen sind.[14] Bei einem im Einzelfall ergangenen Beschluss (wie im Falle der Mitteilung der Kommission bezüglich der Registrierung einer EBI) muss gewährleistet werden, dass einerseits der Betroffene ausreichend über die Gründe der Entscheidung informiert wird (und dementsprechend diese anfechten kann) und andererseits der Richter der Union in die Lage versetzt wird, die Rechtsmäßigkeit des Beschlusses zu überprüfen (Rn. 22). Angesichts der Wichtigkeit einer ablehnenden Entscheidung der Kommission für die tatsächliche Ausübung des im Art. 24 (1) AEUV vorgesehenen Rechts der Bürger sowie der Rolle der EBI im Allgemeinen zur Verstärkung des demokratischen Charakters der EU wird der Pflicht erst dann angemessen nachgekommen, wenn die Interessenten die Gründe der Ablehnung aus dem Beschluss verstehen können (Rn. 26). Im vorliegenden Fall, so das Gericht, stand die von der Kommission gegebene Begründung ihrer Entscheidung im Einklang mit Art. 4 (3) VO Nr. 211/2011, da die Organisatoren keine konkrete Verknüpfung zwischen dem Ziel der von ihnen vorgelegten EBI und den von ihnen vorgebrachten potenziellen Rechtsgrundlagen geschaffen hatten (Rn. 31-32).

Der zweite Schwerpunkt der Argumentation des Gerichts liegt im Kern der Wirtschafts- und Währungspolitik der Union, da diese als potenzielle Rechtsgrundlage für die vorgeschlagene EBI von den Organisatoren herangezogen wurde.

Zunächst wird vom Gericht eine Heranziehung des Art. 122 (1) AEUV verneint. Basierend auf den Befunden des EuGH in Pringle[15] unterstreicht das Gericht vorliegend, dass dieser Artikel keineswegs die Schaffung eines Mechanismus zur finanziellen Unterstützung von Mitgliedstaaten einschließen kann. Das Prinzip der Solidarität ist zwar vorgesehen und kann nicht nur auf Fälle begrenzt werden, in denen es um Mängel an Waren oder Energieversorgung geht. Allerdings ist die Einbeziehung von Notlagefällen (wie diese die Organisatoren sich vorgestellt hatten) nicht gestattet (Rn. 40-43). Auch kann der Abs. 2 dieses Artikels nicht als potenzielle Rechtsgrundlage herangezogen werden. Die Gewährung einer finanziellen Mithilfe ist zwar erlaubt (in bestimmten Umständen und für einen bestimmten Zeitraum). Dies kann jedoch nicht zur Einrichtung eines ständigen Mechanismus führen, der sogar die finanziellen Beziehungen des betroffenen Mitgliedstaates mit Dritten (mit)beeinflussen würde (Rn. 49). Dadurch wird eine Einbeziehung des Notlageprinzips im Art. 122 AEUV abgelehnt.

Des Weiteren ist eine Einbeziehung des Prinzips der Notlage im Rahmen des Art. 136 (1) b) AEUV nicht möglich. Unter direkter Berufung auf Pringle wird nochmals betont, dass diese Vorschrift lediglich die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten ermöglicht, deren Währung der Euro ist. Eine Berechtigung zur Nichtrückzahlung staatlicher Schulden durch den Erlass eines unionalen Rechtsaktes würde zur direkten Unterminierung des Willens der handelnden Parteien bzw. der hoheitlichen Wirtschaftsgewalt der Mitgliedstaaten führen (Rn. 57-58). Art. 222 AEUV (Solidaritätsklausel) kann auch nicht herangezogen werden, da eine Überschuldung unter keinen der im Wortlaut vorgesehenen Fälle subsumiert werden kann (Rn. 60). Letztlich scheidet eine Überprüfung der Existenz des Prinzips der Notlage als völkerrechtliche Regel als redundant aus, da alle für diese EBI möglichen Grundlagen im Primärrecht erschöpft sind (Rn. 65).

Nach der hier vertretenen Ansicht ist zwar dieses Urteil inhaltlich richtig, da in der Tat keine der vorgebrachten Vorschriften dem Ziel der Organisatoren dienen kann. Insbesondere war es aufgrund des heiklen Themas des Falles und im Lichte der Pringle-Entscheidung von Anfang an eher unwahrscheinlich, dass in der ersten Instanz der Unionsgerichtsbarkeit ein Durchbruch erreicht würde. Allerdings ist es bedauerlich, dass an die Kommission keine größeren „Anforderungen“ gestellt wurden. Das Gericht akzeptiert die eher vage Aussage der Kommission, dass „alle potenziellen Rechtsgrundlagen im Primärrecht überprüft wurden“, offensichtlich ohne irgendeine Kontrolle durchzuführen. So wird auch die knappe Begründung der Kommission als ausreichend angenommen. Diese Haltung ist in allen Urteilen des Gerichts zu finden. Dies wirkt jedoch hemmend für die Weiterentwicklung der Europäischen Bürgerinitiative, da es ersichtlich wird, dass die Institutionen der EU nicht dazu bereit sind, der EBI „freien Raum“ zu lassen.

E. Die Europäische Bürgerinitiative vor der Großen Kammer des EuGH

7 Jahre nach Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags, 5 Jahre nach Inkrafttreten der VO Nr. 211/2011 und nach 3 Urteilen des Gerichts zur Europäischen Bürgerinitiative, hat die EBI jetzt die höchste gerichtliche Instanz der EU erreicht. Am 13.12.2016 fand in Luxemburg die mündliche Verhandlung zur Rs. C-589/15 P (Rechtsmittel zur Rs. T-452/12, Anagnostakis/Kommission) statt. Der Rechtsmittelführer, Herr Anagnostakis, beantragt u.a. die Aufhebung des angefochtenen Urteils, die endgültige Nichtigerklärung des Beschlusses C(2012)6289 der Kommission sowie die Registrierung der Initiative „Eine Million Unterschriften für ein Europa der Solidarität“.

Im Rahmen dieses Verfahrens wurden mehrere interessante Aspekte der Institution angesprochen, die über die verfahrensgegenständliche EBI hinaus gingen und möglicherweise die Rechtsprechung des EuGH zum Thema sowie die Weiterentwicklung dieses direktdemokratischen Instruments an sich beeinflussen können: Erstens ist die Frage von Bedeutung, ob und inwieweit die Kommission an den Inhalt einer vorgelegten Initiative gebunden ist. Diese Frage betrifft mehrere Phasen des Verfahrens: Zunächst im Rahmen der Überprüfung, ob eine Initiative überhaupt registriert werden darf, wenn ihre Ziele oder ihr Gegenstand mit den Verträgen nicht vereinbar sind oder, wie im vorliegenden Fall diskutiert wurde, wie ein Antrag auf Registrierung einer EBI zu behandeln ist, wenn deren Inhalt zufolge diese Initiative nur teilweise mit den Verträgen vereinbar ist. Mit anderen Worten: Was passiert, wenn die Kommission nur für einen Teil dieser Initiative die Kompetenz besitzt, einen Vorschlag zum Erlass eines Rechtsaktes zu unterbreiten. Die Kommission vertrat (im Gegensatz zum Rechtsmittelführer) die eher „strengere“ Position, dass eine EBI in ihrer Gesamtheit angesehen werden muss und dadurch entweder vollständig oder gar nicht registriert werden kann. Die einzige Möglichkeit zur „Rettung“ eines solchen Antrags ist die Durchführung von inoffiziellen Gesprächen mit den Interessenten, die jedenfalls auf deren Initiative stattfinden müssen.

Diese Frage betrifft zweitens die Initiativen, die bereits registriert worden sind und zudem noch alle formellen Voraussetzungen erfüllt bzw. mehr als 1 Million Unterschriften gesammelt haben. Die Frage, ob und inwieweit die Kommission einer erfolgreichen EBI nachkommen muss, erhält in der Theorie keine einheitliche Antwort. Der unklare Wortlaut der VO bietet ausreichend Spielraum für weitere Auslegungsperspektiven, nämlich zwischen einer vollen auch inhaltlichen Bindung der Kommission bis hin zur These, dass die Kommission in keinerlei Hinsicht verpflichtet ist, sich mit der EBI zu beschäftigen, da diese nur eine „Anregungsfunktion“ habe.[16]

Ein weiterer für die Richter anscheinend interessanter Punkt ist die Beantwortung der Frage, ob es möglich ist, dass die Kommission auf der Basis einer Initiative mehrere Vorschläge für den Erlass verschiedener Rechtsakte unterbreiten kann und somit auch mehrere Arten von Rechtsakten (etwa eine Richtlinie und eine Empfehlung) kumuliert werden können. Die Kommission hat diese Tür „offen“ gelassen, solange die Gesamtheit des Gegenstandes der Initiative umsetzbar ist. Unseres Erachtens ist diese Möglichkeit vorstellbar. Sowohl auf der Basis des Wortlauts der VO (siehe Art. 2 (1) 1 „..die Kommission aufgefordert wird, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten…“) als auch einer teleologischen Betrachtung ist keine Begrenzung der Anzahl der Kommissionsvorschläge ersichtlich (solange tatsächlich der Gegenstand der Initiative hierzu geeignet ist).

Wichtige Aussagen des EuGH können noch zur Begründungspflicht der Kommission erwartet werden. Auf die Problematik wurde bereits im Urteil des Gerichts eingegangen. Die Überprüfung der dort vom EuGH aufgestellten These könnte jedoch zu einem anderen Ergebnis führen. Einen Hinweis dazu stellt der Befund des Gerichthofs im Fall C‑261/13 P (Schönberger/Parlament)[17] dar. In diesem Fall erzielte der Rechtsmittelführer und Petent die Aufhebung einer Entscheidung des Petitionsausschusses des Europäischen Parlaments u.a. aufgrund einer mangelnden Begründung. Der Gerichtshof unterstrich dort die Notwendigkeit, dass „der Petent zu erkennen vermag, welche dieser Voraussetzungen in seinem Fall nicht erfüllt ist“, und dass „eine knappe Begründung (…)  diesem Erfordernis {entspricht}“ (Rn. 23). Aufgrund der institutionellen Annäherung zwischen dem Petitionsrecht[18] beim Europäischen Parlament und der Europäischen Bürgerinitiative (beide dienen dem Ziel der Förderung der Beteiligung der Unionsbürger), der Ähnlichkeit der Verfahrensmodalitäten (Mitteilung der diesbezüglichen Institution der EU an den Petenten bzw. an den Organisatoren der EBI) sowie der Praxis in dem Sinne, dass in beiden Fällen die Beschlüsse der Organe der Union sehr knapp gefasst sind, kann es hier zu einer Übertragung der „Schönberger Linie“ kommen.

Dies gilt umso mehr, als die Kommission im Falle der EBI die Pflicht hat, nicht nur die von den Organisatoren erwähnten Artikel, sondern auch alle in Betracht kommenden Vorschriften der Verträge zu überprüfen, die als Grundlage für die Umsetzung der Initiative dienen könnten. In der Praxis kommt die Kommission dieser Pflicht mit der Aussage nach, dass „die Kommission nach einer eingehenden Prüfung des Inhalts der von Ihnen geplanten Initiative und der einschlägigen Bestimmungen der Verträge (einschließlich der von Ihnen vorgeschlagenen) dazu gezwungen ist, die Registrierung der von Ihnen geplanten Initiative abzulehnen“.[19] Diese wiederum knappe Begründungsweise wurde bisher in der Rspr. des Gerichts akzeptiert. Es bleibt jedoch fraglich, ob der EuGH auch dieser Meinung sein wird. Man muss berücksichtigen, dass das Ziel der Institution der EBI die Stärkung der Positionierung des Unionsbürgers im Entscheidungsprozess und im Rechtsetzungsverfahren der EU ist. Zudem ist die Tatsache zu berücksichtigen, dass die Organisatoren einer Initiative meistens keine Fachkenntnisse und jedenfalls keine Erfahrung mit den komplexen Mechanismen der Union haben. Eine zu restriktive Handhabung des Gebots der Begründung solcher Entscheidungen der Kommission könnte zulasten des Wertes und der möglichen Entwicklung der neuen Institution der EBI führen.

Ein letzter Punkt betrifft den Inhalt bzw. die thematische Abdeckung einer EBI. In Art. 11 (4) EUV wurde niedergelegt, dass „Unionsbürger (…) die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern {können}, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, (…) eines Rechtsaktes der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen.“ Nach herrschender Meinung ist die Einleitung einer Vertragsreform mittels EBI dadurch ausgeschlossen.[20] Dies gilt auch für Änderungen von Protokollen, die gemäß Art. 51 EUV Teile des Primärrechts sind und deren Änderung sich normalerweise ebenso nach Art. 48 EUV richtet wie die Änderung der Verträge als solchen. In Bezug auf die Protokolle gilt aber ausnahmsweise dann etwas Anderes, wenn im Primärrecht selbst die Möglichkeit vorgesehen ist, diese durch Sekundärrechtsakte zu ändern. So könnte eine EBI beispielsweise auf die Änderung der Satzung des Gerichtshofs[21] abzielen, da diese Art. 281 AEUV zufolge jedenfalls teilweise gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren auf Initiative der Kommission geändert werden kann. Eine solche Änderung kann man durchaus als „Umsetzung der Verträge“ im Sinne von Art. 11 Abs. 4 EUV einstufen. Dieser Befund betrifft auch Bereiche, die im Fall Anagnostakis relevant sind, beispielsweise das Protokoll 12.[22] Gemäß Art. 126 Abs. 14 UA 3 AEUV sind Einzelheiten und Begriffsbestimmungen für die Durchführung dieses Protokolls vom Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments zu beschließen. Eine EBI, die (im Gegensatz zur vorliegenden) allgemeinen Zielen dienen würde, nämlich die Änderung von Teilen der Wirtschaftspolitik der Union bezüglich des Verfahrens gegenüber Staaten, die ein übermäßiges Defizit vorweisen, wäre allerdings eine schwierige Herausforderung für die Kommission.

F. Fazit

Nach alledem steht fest, dass das Urteil des EuGH zur Rechtssache C-589/15 P einen Wendepunkt in der Entwicklung der Institution der Europäischen Bürgerinitiative darstellen kann. Die Bedeutung der Befunde des Gerichtshofs zur Weiterentwicklung dieses, im Vertrag von Lissabon eingeführten, Werkzeugs kann auch dadurch bestätigt werden, dass der Fall von der Großen Kammer entschieden wird. Ein erstes Zeichen wird durch die Schlussanträge des Generalanwalts Sánchez-Bordona gegeben werden. Man kann nur hoffen, dass dieses Urteil, unabhängig von den Ergebnissen im vorliegenden Fall, einen Anstoß und kein Hindernis für die Zukunft der Europäischen Bürgerinitiative darstellen wird.

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*Eleftherios Petropoulos LL.M. war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht von Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M. Das Studium der Rechtswissenschaft hat er in Griechenland (Aristoteles Universität Thessaloniki) und Frankreich (Universität Straßburg) absolviert. Er erwarb einen LL.M. im Internationalen Privatrecht an der Eberhard Karls Universität Tübingen, sowie einen zweiten im Europäischen Recht (Europäisches Wirtschaftsrecht und Europäischer Menschenrechtsschutz) am Europa-Institut der Universität des Saarlandes.

[1] Siehe Art. 10 (1) EUV.

[2] Petropoulos, Die Europäische Bürgerinitiative im paneuropäischen Kontext: Wo steht die direkte Demokratie in der EU im Vergleich zu ihren Mitgliedstaaten, Saar Blueprints, 11/2016 DE, online verfügbar unter: https://jean-monnet-saar.eu/?page_id=67, S. 26.

[3] Etwa Maurer/Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative, in: Maurer/von Ondarza (Hrsg.) Der Vertrag von Lissabon: Umsetzung und Reformen, Onlinedossiers der SWP, 2012, S. 117; Isak, Die Anwendung der demokratischen Grundsätze unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Bürgerinitiative, in: Eilmansberger/Griller/Obwexer (Hrsg.) Rechtsfragen der Implementierung des Vertrags von Lissabon, 2010, S. 167; Kaufmann/Plottka, Die Europäische Bürgerinitiative: Start in ein neues Zeitalter partizipativer Demokratie auf EU-Ebene, EUD Konkret, 1/2012, S. 2; Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 11 EUV, Rdnr. 33.

[4] VO (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative, ABl. L 65 v. 11.3.2011, S. 1.

[5] Glogowski/Maurer, The European Citizens‘ Initiative – Chances, Constraints and Limits, IHS Series No. 134 2013, S. 11.

[6] Bieber, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, EUV, AEUV, GRCh, 7. Aufl. 2015, Art. 11 EUV, Rdnr. 20.

[7] Amtliches Register der Europäischen Kommission über die Europäische Bürgerinitiative, abrufbar unter http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/welcome (15.12.2016).

[8] Etwa Dehousse, The European Citizens‘ Initiative: Next big thing or new false good idea?, Egmont Paper 59, 2013, S. 25; Szeligowska/Mincheva, The European Citizens‘ Initiative – Empowering European Citizens within the Institutional Triangle: A political and legal analysis, Bruges Political Research Papers 24/2012, S.71; Langer/Müller, Ius Cogens und die Werte der Union, in: Häberle (Hrsg.) Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, 2013, S. 241; Obwexer/Villotti, Die Europäische Bürgerinitiative. Grundlagen, Bedingungen und Verfahren, JPR, 18/2010, S. 116.

[9] Amtliches Register der Europäischen Kommission über die Europäische Bürgerinitiative, abrufbar unter http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/initiatives/non-registered/details/559 (15.12.2016).

[10] Ebenda.

[11] Beschluss C(2012)6289 final der Europäischen Kommission vom 06.09.2012.

[12] Ebenda.

[13] EuG, Rs. T-450/12, Anagnostakis, ECLI:EU:T:2015:739.

[14] Ist diese Voraussetzung nicht eingehalten, kann ein Rechtsakt gemäß Art. 263 AEUV vor dem EuGH angegriffen werden.

[15] EuGH, Rs. C-370/12, Pringle, ECLI:EU:C:2012:756.

[16] Näher zur Problematik siehe Petropoulos, Die Europäische Bürgerinitiative im paneuropäischen Kontext: Wo steht die direkte Demokratie in der EU im Vergleich zu ihren Mitgliedstaaten, Saar Blueprints, 11/2016 DE, online verfügbar unter: https://jean-monnet-saar.eu/?page_id=67, S. 33.

[17] EuGH, Rs. C‑261/13 P, Schönberger, ECLI:EU:C:2014:2423.

[18] Art. 24 (2) AEUV.

[19] Siehe etwa den Beschluss C(2014) 2119 final der Europäischen Kommission zum Antrag auf Registrierung der geplanten Bürgerinitiative mit dem Titel „Ethics for Animals and Kids“.

[20] Etwa Cilo, Europäische Bürgerinitiative und demokratische Legitimität der EU, 2014, S.123; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 58. Aufl. 2016, Art. 11 EUV, Rdnr.26; Auer, European Citizens‘ Initiative, EuConst 2005, S. 82; Piesbergen, Die Europäische Bürgerinitiative nach Art. 11 Abs. 4 EUV, 2011, S. 117ff.; Hrbek, Die Europäische Bürgerinitiative: Möglichkeiten und Grenzen eines neuen Elements im EU-Entscheidungssystem, integration 1/2012, S. 40.

[21] Protokoll 3 über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union.

[22] Protokoll Nr. 12 über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit.

Quelle des Beitragsbildes: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Europe_Flag_%283376397034%29.jpg?uselang=de

Suggested Citation: Petropoulos, Eleftherios, Eine Institution der EU erreicht ihre „Volljährigkeit“: Eine Europäische Bürgerinitiative vor der Großen Kammer des EuGH, jean-monnet-saar 2016, DOI: 10.17176/20220422-160908-0