Faktische Auslandsreiseverbote in der Pandemie

Eine europarechtliche Ergänzung zum Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen vom 20.11.2020

23.11.2020

Ein Beitrag von Thomas Giegerich

Nach einer Pressemitteilung vom 20.11.2020 hat das OVG Nordrhein-Westfalen „per Eilbeschluss wesentliche Teile der nordrhein-westfälischen Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 in Bezug auf Ein- und Rückreisende (Coronaeinreiseverordnung) vorläufig außer Vollzug gesetzt“. Die VO sei voraussichtlich rechtswidrig, weil sie gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (offenbar Art. 3 Abs. 1 GG) verstoße und unverhältnismäßig sei. In der aktuellen Pandemielage seien das Land Nordrhein-Westfalen und ein Großteil der übrigen Bundesrepublik nach den in der Coronareiseverordnung benannten Kriterien als Risikogebiete einzustufen (https://www.ovg.nrw.de/behoerde/presse/pressemitteilungen/93_201120/index.php). Der Eilbeschluss selbst (Az. 13 B 1770/20.NE) war am 22.11.2020 online noch nicht abrufbar.

Diese Pressemitteilung veranlasst mich zu einer Ergänzung aus europarechtlicher Sicht.

Während der ersten Welle der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 suchten viele Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, ihr Heil in Grenzschließungen, getreu dem Motto, dass das Böse immer aus der Fremde über den eigenen Stamm kommt. Das geschah – etwa an der saarländischen Grenze zu Frankreich – unabgestimmt und überstürzt und hat deshalb viel von dem zunichte gemacht, was durch jahrezehntelange grenzüberschreitende Zusammenarbeit mühsam aufgebaut worden war. Eine europarechtliche Bewertung dieser Grenzschließungen hat Daniel Thym vorgenommen (Travel Bans in Europe: A Legal Appraisal, Verfassungsblog vom 19.3.2020). Bei der derzeitigen Bekämpfung der zweiten Pandemie-Welle will man diese Fehler nicht wiederholen und hat deshalb Grenzschließungen jedenfalls der Form nach vermieden. Aber der Sache nach sind sie in Gestalt von Quarantänepflichten für Einreisende aus dem Ausland zurückgekehrt. Als Beispiel für die auf einer bundesweiten Abstimmung beruhenden und daher auch in den anderen Ländern üblichen Vorschriften seien die saarländischen Regelungen skizziert.

Die vornehmlich auf dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) beruhende Verordnung zur Änderung infektionsrechtlicher Verordnungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vom 13.11.2020 (ABl. 2020 [Nr. 70], S. 1110) enthält in ihrem Art. 1 die „Verordnung zu Quarantänemaßnahmen für Ein- und Rückreisende zur Bekämpfung des Coronavirus“ (im Folgenden Quarantäne-VO).

§ 1 Quarantäne-VO sieht Folgendes vor:

(1) Personen, die … aus dem Ausland in das Saarland einreisen und sich zu einem beliebigen Zeitpunkt in den letzten zehn Tagen vor Einreise in einem Risikogebiet im Sinne des Absatzes 4 aufgehalten haben, sind verpflichtet, sich unverzüglich nach der Einreise auf direktem Wege in die Haupt- oder Nebenwohnung oder in eine andere, eine Absonderung ermöglichende Unterkunft zu begeben und sich für einen Zeitraum von zehn Tagen nach ihrer Einreise ständig dort abzusondern; dies gilt auch für Personen, die zunächst in ein anderes Land der Bundesrepublik Deutschland eingereist sind. Den in Satz 1 genannten Personen ist es in diesem Zeitraum nicht gestattet, Besuch von Personen zu empfangen, die nicht ihrem Haushalt angehören.

(2) Die von Absatz 1 Satz 1 erfassten Personen sind verpflichtet, unverzüglich nach der Einreise die für sie zuständige Behörde zu kontaktieren und auf das Vorliegen der Verpflichtung nach Absatz 1 Satz 1 hinzuweisen. …

(3) Risikogebiet im Sinne des Absatzes 1 ist ein Staat oder eine Region außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, für den oder die zum Zeitpunkt der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ein erhöhtes Risiko für eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 besteht. Die Einstufung als Risikogebiet erfolgt mit Ablauf des ersten Tages nach Veröffentlichung durch das Robert-Koch-Institut im Internet.

§ 2 Quarantäne-VO enthält eine lange Liste von Ausnahmen, z.B. zugunsten des kleinen Grenzverkehrs mit Nachbarstaaten („Personen, die sich im Rahmen des Grenzverkehrs mit Nachbarstaaten weniger als 72 Stunden in einem Risikogebiet nach § 1 Absatz 4 aufgehalten haben oder für bis zu 24 Stunden in das Bundesgebiet einreisen“), von kurzzeitigen Besuchen enger Verwandter, von Grenzpendlern oder Grenzgängern, von Personen, die beruflich bedingt grenzüberschreitend Personen, Waren oder Güter transportieren, von bestimmten Urlaubsrückkehrern usw. Vorausgesetzt wird jeweils, dass die betreffenden Personen keine typischen Symptome einer Corona-Infektion aufweisen.

Verstöße gegen § 1 Abs. 1 und Abs. 2 werden in § 5 Quarantäne-VO als Ordnungswidrigkeiten i.S. des §73 Abs. 1a Nr. 24 des Infektionsschutzgesetzes definiert, die dementsprechend mit einer Geldbuße von bis zu € 25.000 geahndet werden können.

Diese Regelungen stellen besondere Schutzmaßnahmen i.S. des neu eingefügten § 28a Abs. 1 Nr. 11, 14 IfSG dar.

Sind diese Regelungen aber mit dem EU-Recht vereinbar? Dazu einige Beispielsfälle:

Eine symptomfreie Französin (F1) mit Wohnsitz im französischen Risikogebiet, dort aber in einer relativ schwach betroffenen Region, die ihre deutsche Freundin S1 in Saarbrücken aus rein privaten Gründen für eine Woche besuchen möchte, wird von keiner Ausnahme erfasst. Sie muss sich daher für einen Zeitraum, der länger ist als ihr geplanter Aufenthalt, in eine „eine Absonderung ermöglichende Unterkunft … begeben“ und darf dort auch keinen Besuch ihrer Freundin empfangen. Praktisch bedeutet dies, dass F1 nicht nach Saarbrücken reisen kann. Käme sie hingegen aus München oder Köln, wo die Corona-Fallzahlen eine Höhe erreichen, die die Schwelle zum Risikogebiet weit überschreiten und um ein Mehrfaches höher liegen als im Regionalverband Saarbrücken, dürfte sie zu Besuch nach Saarbrücken kommen. Denn zwar sind nach § 1 der Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (VO-CP – Art. 2 der o.g. VO zur Änderung infektionsrechtlicher Verordnungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie) physisch-soziale Kontakte zu anderen Menschen außerhalb des eigenen Haushalts auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren. Diese Begrenzung wird jedoch durch § 6 Abs. 1 Satz 2 VO-CP aufgeweicht (Angehörige eines weiteren Haushalts sind in privaten Räumen zugelassen, wenn nicht mehr als fünf Personen zusammenkommen). Überdies sind Verstöße gegen § 1 VO-CO gem. § 11 VO-CP keine Ordnungswidrigkeiten. Für S1 gilt Ähnliches: Besucht sie F1 in Frankreich, muss sie sich nach ihrer Rückkehr in häusliche Quarantäne begeben, nicht aber, wenn sie ihre Freundin X in München oder Köln besucht.

Ein symptomfreier französischer Unternehmer (F2) mit Sitz in einer französischen Region mit verhältnismäßig niedrigen Corona-Fallzahlen, der zur Ausführung eines Montageauftrags für vier Tage im Saarland arbeiten will, fällt vielleicht unter die Ausnahme des § 2 Abs. 3 Ziff. 4 Quarantäne-VO („Personen, die sich für bis zu fünf Tage zwingend notwendig und unaufschiebbar beruflich veranlasst … in das Bundesgebiet einreisen“); eindeutig ist dies wegen der sprachlich verunglückten Fassung nicht. Dies gilt in jedem Fall aber nur, wenn die Montage „zwingend notwendig und unaufschiebbar“ ist, was ihm der deutsche Auftraggeber bescheinigen muss. Ansonsten kann F2 den Auftrag vorerst entweder gar nicht ausführen oder muss jeweils nach weniger als 24 Stunden wieder nach Frankreich zurückkehren, um dann erneut für weniger als 24 Stunden einzureisen usw. Das verzögert, erschwert und/oder verteuert die Ausführung. Hätte F2 seinen Sitz in Hamburg oder Frankfurt, wo die Corona-Fallzahlen eine Höhe erreichen, die die Schwelle zum Risikogebiet weit überschreiten und um ein Mehrfaches höher liegen als im Regionalverband Saarbrücken und in der Region, in der F2 seinen Sitz hat, dürfte er den Auftrag im Saarland ohne weiteres ausführen. Einem saarländischer Unternehmer S2, der zur Ausführung einen entsprechenden Montageauftrag für vier Tage nach Frankreich will, kommt definitiv die Ausnahme des § 2 Abs. 3 Ziff. 4 Quarantäne-VO zugute, allerdings nur, wenn der Frankreichaufenthalt „zwingend notwendig und unaufschiebbar“ ist, was ihm der französische Auftraggeber bescheinigen muss. Einen entsprechenden Auftrag in Hamburg oder Frankfurt könnte S2 hingegen ohne weiteres ausführen. Die Kontaktbeschränkungsregelungen in den Corona-VOen der Länder enthalten keine klaren Vorgaben für die Ausführung nicht verbotener unternehmerischer Leistungen.

Die saarländische Touristin T möchte gern zum Skiurlaub in die Berge fahren, am liebsten nach Österreich oder in die französischen oder italienischen Alpen. Da diese Gegenden aber alle Risikogebiete sind, würde sie bei ihrer Rückkehr nur dann der Absonderungspflicht entgehen, wenn sie die anspruchsvollen Voraussetzungen der Ausnahme von § 2 Abs. 3 Ziff. 7 Quarantäne-VO erfüllte. Da ihr das zu riskant erscheint, bucht sie stattdessen gleich einen Skiurlaub in Bayern, obwohl dort in einigen Landkreisen hohe Inzidenzzahlen bestehen.

Der private Besuch von F1 bzw. S1 wird unionsrechtlich von Art. 21 AEUV und Art. 45 Abs. 1 GRC abgesichert, der Montageaufenthalt des F2 bzw. S2 von Art. 56 AEUV (aktive Dienstleistungsfreiheit) und Art. 16 GRC (unternehmerische Freiheit). T würde bei einem Skiurlaub in den von ihr bevorzugten Gebieten von ihrer passiven Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) Gebrauch machen. In diese unionsrechtlichen Grundfreiheiten und Grundrechte greift die Einreise- bzw. Ausreiseerschwerung (die zumindest im Fall F1/S1 auf ein faktisches Einreise-/Ausreiseverbot hinausläuft) erheblich ein. In allen Fällen stellt die Auferlegung einer zehntägigen häuslichen Quarantäne außerdem einen Eingriff in die Freiheit der Person in Form einer Freiheitsentziehung („Hausarrest“) dar (Art. 6 GRC, der Art. 5 EMRK entspricht). Die Eingriffe könnten zwar aus Gründen des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt werden (vgl. Art. 62 i.V.m. Art. 52 AEUV), aber nur in den Grenzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (vgl. Art. 52 Abs. 1 GRC).

Dass die einer Einreise von F1 und F2 und einer Ausreise von S1, S2 und T bereiteten Hindernisse geeignet sind, die Gesundheit in Saarbrücken zu schützen, wird man vielleicht noch vertreten können: Je weniger Einreisen bzw. Rückreisen aus Risikogebieten ohne Quarantäne, desto weniger persönliche Begegnungen mit potentiell Infizierten und desto geringer die Ansteckungsgefahr. Das OVG Nordrhein-Westfalen hat hingegen die Eignung bezweifelt, weil die Absonderungspflicht für Rückreisende nicht geeignet sei, einen nennenswerten Beitrag zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu leisten, wenn in den Gebieten des jeweiligen Aufenthalts kein höheren Ansteckungsrisiko als hierzulande bestehe. Zumindest fehlt es aber an der Erforderlichkeit der Quarantänepflicht, denn diese lässt sich nur begründen, wenn sie Teil eines kohärenten Regelungssystems ist, das die grenzüberschreitenden Begegnungen gegenüber den innerdeutschen Begegnungen nicht ohne ausreichenden sachlichen Grund diskriminiert. Denn nach dem Äquivalenzprinzip, einem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts, dürfen die Mitgliedstaaten grenzüberschreitende Sachverhalte weder legislativ, noch exekutiv oder judiziell schlechter behandeln als vergleichbare innerstaatliche Sachverhalte. Eine solche Diskriminierung liegt hier aber auf der Hand. Denn es lässt sich nicht plausibel erklären, warum F1, F2, S1 und S2 nicht aus Frankreich, wohl aber aus München oder Hamburg ohne weiteres nach Saarbrücken (zurück-) kommen dürfen, und warum T zwar aus dem Skiurlaub in Bayern, nicht aber aus Südtirol ohne Weiteres ins Saarland zurückkehren darf, selbst wenn die Coronazahlen am bayerischen Urlaubsort riskante Höhen erreichen.

In allen vorgenannten Fällen ist die Quarantänepflicht samt der Bußgelddrohung daher wegen des Vorrangs der unionsrechtlichen Grundfreiheiten und Grundrechte unanwendbar. Ganz zu Recht hat das OVG Nordrhein-Westfalen darin bei summarischer Prüfung auch eine vor Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte erkannt. Folge eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG wäre die Verfassungswidrigkeit und daraus folgend ebenfalls die Unanwendbarkeit der Quarantänepflicht, nicht hingegen deren Nichtigkeit. Denn der Verordnungsgeber könnte eine gleichheitsgerechte Neuregelung auch dadurch erreichen, dass er die Quarantänepflicht an Einreisen aus allen innerdeutschen ebenso wie ausländischen Risikogebieten knüpft, die Freiheitsbeschränkung also verallgemeinert. Dieses „alle oder niemand“-Prinzip zeigt, dass Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbote die Freiheit derjenigen Gruppe schützen, die sonst ohne sachlichen Grund eingeschränkt worden wäre. Denn die Hemmschwelle vor der Einführung einer gleichheitskonformen allgemeinen Freiheitsbeschränkung ist erheblich höher.

Die jetzt schon erhebliche Zahl der unionsrechtswidrigen (und verfassungswidrigen) Einreise- bzw. Ausreiseerschwerungen – weitere Beispiele neben den oben genannten lassen sich z.B. im Regelungsbereich der Art. 45 und Art. 49 AEUV leicht bilden – steigt exponentiell, wenn man die Abschreckungswirkung einberechnet: Wie viele Personen, die ohne Zweifel oder jedenfalls bei vertretbarer Interpretation der Quarantäne-VO eigentlich von einer Ausnahme erfasst würden, werden sicherheitshalber von einer Reise ins EU-Ausland absehen, weil sie das Risiko der bußgeldbewehrten Quarantänepflicht nicht eingehen wollen?

Dieses Mal sind die saarländischen Grenzen zwar de jure offen geblieben, wegen der Quarantänepflicht aber in den nicht ausgenommenen Fällen und in den noch viel zahlreicheren Fällen einer Risikovermeidung de facto geschlossen worden. Die unter keinen Umständen zu rechtfertigende Diskriminierung der grenzüberschreitenden gegenüber der innerdeutschen Freizügigkeit springt dermaßen deutlich ins Auge, dass das OVG Nordrhein-Westfalen die nordrhein-westfälische Variante am Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG hat scheitern lassen. Dass die „Ausländer“-Quarantänepflicht auf einer bundesweiten Absprache beruht, macht die Sache noch schlimmer: Ist das kleine Einmaleins des Europarechts auch nach dem Desaster mit der „Ausländer“-Maut (EuGH, Urt. v. 18.6.2019, Rs. C-591/17, ECLI:EU:C:2019:504) immer noch nicht im ministeriellen Alltag angekommen?

Suggested Citation: Giegerich, Thomas, Faktische Auslandsreiseverbote in der Pandemie: Eine europarechtliche Ergänzung zum Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen vom 20.11.2020, jean-monnet-saar 2020, DOI: 10.17176/20220602-162209-0

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