„Das Virus ist kein Studienanfänger mehr“ – Rechtfertigt der Wunsch nach Rückkehr zum Präsenzbetrieb an den Universitäten eine Impfpflicht? -Teil I

01.10.2021

Ein Beitrag von Karoline Dolgowski*

„Das Virus ist kein Studienanfänger mehr“, schrieb Simon Rösel kürzlich in der FAZ und sprach damit einen wunden Punkt an.[i] Für die Studierenden an den deutschen Hochschulen ist das dritte Pandemie-Semester zu Ende gegangen – Semester ohne Vorlesungen im Hörsaal, Lerngruppentreffen in der Bibliothek und Mittagessen in der Mensa – und mit steigenden Inzidenzen nähert sich der zweite Pandemie-Herbst. Doch was bedeutet das für die Universitäten? Hinsichtlich der Schulen und Kindergärten scheint ein gesamtgesellschaftlicher Konsens zu herrschen: Der Unterricht muss nach den Sommerferien wieder in Präsenz stattfinden! Für die Entwicklung der Kinder ist es unerlässlich, dass sie einen direkten Kontakt mit Lehrer:innen und Mitschüler:innen haben. Das Thema wurde intensiv diskutiert in Politik und Wissenschaft.[ii] Studien haben auf den gravierenden Einfluss der Pandemie auf Lernerfolg und psychische Belastung für die Kinder hingewiesen.[iii] Einen derart breiten Diskurs hinsichtlich des Lehrbetriebs an den Universitäten sucht man vergeblich. Natürlich gibt es auch hier kritische Stimmen.[iv] Im Großen und Ganzen scheint man aber davon auszugehen, dass Studierende erwachsene Menschen sind, denen zugemutet werden kann, selbstorganisiert und durch Online-Veranstaltungen unterstützt den Studienstoff zu bewältigen. Das kann fatale Folgen haben. Gerade Studierende in den ersten Semestern müssen bereits ohne Pandemie eine große Hürde in ihrer Entwicklung bewältigen[v]: vom behüteten Schulalltag und sorgloser Residenz im „Hotel Mama“ werden sie an die Universitäten und in die erste eigene Wohnung katapultiert ohne vorgegebene Stundenpläne, klar definierte Hausaufgaben und Wäscheservice. Diesen Entwicklungsschritt zu bewältigen, erfordert den Austausch mit Dozent:innen in Vorlesungen und Tutorien, aber vor allem auch mit anderen Gleichaltrigen in Lerngruppen, in der Bibliothek, in Wohnheimen und WGs und abends in der Kneipe. Doch wie soll eine Rückkehr zum Unialltag in Präsenz gelingen? Mit überfüllten Hörsälen, in denen teilweise drei- bis vierhundert Studierende zusammenkommen? Das Zauberwort ist in aller Munde: Impfen![vi]

Interessant wird es bei der Frage, ob Universitäten einen Impfnachweis fordern und somit eine Impfpflicht für ihre Studierenden einführen können, um eine Rückkehr zum Präsenzbetrieb zu ermöglichen. In diesem Beitrag soll es weder um eine ethische noch eine politische Bewertung einer solchen Impfpflicht an Universitäten gehen, sondern vielmehr untersucht werden, ob eine Impfpflicht an Universitäten überhaupt mit dem Grundgesetz (Teil I) und dem Europäischen Menschenrechtsschutzsystem (Teil II) vereinbar wäre. Fragen des Datenschutzes und der konkreten Umsetzung einer solchen Nachweispflicht werden dabei ausgeblendet. Diese dringlichen Fragen bedürfen freilich ebenfalls einer Klärung. 

Impfpflicht ist nicht gleich Impfpflicht

Um eine solche Bewertung vorzunehmen, muss zunächst geklärt werden, was genau mit „Impfpflicht an Universitäten“ in diesem Beitrag gemeint ist. Von einer “Zwangsimpfung” spricht man bei einer Impfpflicht, die durch unmittelbaren Zwang durchgesetzt wird.[vii] Eine solche ist derzeit nirgendwo vorgesehen. Von einer ”Impfpflicht” spricht man hingegen, wenn ein Gesetz verschiedene Formen des Zwangs zur Durchsetzung der Impfung vorsieht: zum Beispiel, wenn Impfverweigerern Sanktionen oder Rechtsnachteile angedroht werden.[viii] Eine ”faktische mittelbare Impfpflicht” entsteht, wenn z.B. Betreiber von Gaststätten Nichtgeimpften den Zutritt verweigern.[ix]Universitäten rund um den Globus haben verschiedene Ansätze gewählt, um eine möglichst hohe Impfquote unter den Studierenden zu erreichen und dadurch eine Rückkehr zum Präsenzunterricht im kommenden Wintersemester zu ermöglichen. Herausgegriffen werden sollen hier zwei Beispiele:

Keine Immatrikulation ohne Impfnachweis

Die Indiana University, ähnlich wie zahlreiche andere staatliche und private Universitäten in den USA – darunter Harvard, Yale und die University of Virginia,[x] schreibt zum kommenden Wintersemester eine Impfung gegen SarsCoV2 verpflichtend vor. Dies hat das Indiana University Board of Trustees beschlossen.[xi] Ein Nachweis über die Impfung muss bei der Immatrikulation vorgelegt werden. Ausnahmen können aus medizinischen oder religiösen Gründen beantragt werden. Studierenden, die sich nicht impfen lassen möchten, steht es frei, sich für das Studienjahr beurlauben zu lassen oder die Universität zu wechseln bzw. sich an einer anderen Universität zu immatrikulieren. Die hiergegen von 8 Studierenden der Universität eingereichte Klage blieb ohne Erfolg.[xii] Auch der Eilantrag an den USSupreme Court wurde ohne weitere Begründung abgelehnt,[xiii] ein Indiz dafür, dass die Impfpflicht mit der amerikanischen Verfassung vereinbar ist.[xiv] Nach dem hier zu Grunde gelegten Verständnis handelt es sich bei dieser Regelung um eine faktische mittelbare Impfpflicht. 

3-G Regel in der Präsenzlehre

Einen anderen Ansatz wählt die überwiegende Mehrheit der Universitäten in Deutschland[xv] und Österreich[xvi]. So sieht beispielsweise die Universität Bremen[xvii] vor, dass der Lehrbetrieb ganz überwiegend in Präsenz stattfinden soll. Zugang zu den Veranstaltungen haben aber nur Studierende, die geimpft, genesen oder getestet sind (sog. 3G-Regel). Die Universität Bremen fordert einen tagesaktuellen Test (nicht älter als 24 Stunden). Die Corona-Bürgertests sollen in Deutschland ab dem 11. Oktober 2021 grundsätzlich kostenpflichtig werden.[xviii]  Dass die Universität den Studierenden ein kostenloses Testangebot machen wird, ist nicht absehbar. Was ein Antigen-Schnelltest ab Oktober kosten wird, ist ebenfalls noch unklar. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums liegt es nahe, dass die Kosten wie bisher mit 11,50 € je Antigen-Schnelltest beziffert werden.[xix] Teilweise wird aber auch vermutet, dass die Tests bis zu 20 € kosten werden, damit Testzentren weiterhin wirtschaftlich arbeiten können.[xx] Grob überschlagen kommen damit auf Studierende in Bremen Kosten in Höhe von 700 – 1200 € im Semester (bei 12 Semesterwochen) zu. Faktisch dürfte diese finanzielle Belastung ebenfalls dazu führen, dass Studierende einem erhöhten Druck, sich impfen zu lassen, ausgesetzt sind. Ob auch hier bereits, insbesondere in rechtlicher Hinsicht, von einer ”faktischen mittelbaren Impfpflicht“ gesprochen werden kann, bleibt aber noch zu klären. 

Vereinbarkeit der “Impfpflichten” mit dem Grundgesetz

Ob und in welcher Weise Studierende verpflichtet werden können, sich gegen SarsCov2 impfen zu lassen, hängt insbesondere davon ab, inwiefern die Impfpflicht in ihre grundrechtlich geschützten Positionen eingreift und ob dieser Eingriff unter Umständen gerechtfertigt ist. Im Falle einer Impfpflicht kommt insbesondere ein Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Betracht.

Verweigert der Patient die Einwilligung in die Impfung,[xxi] stellt die Impfung unzweifelhaft einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar, denn zum einen beeinträchtigt bereits der Einstich mit der Nadel in den Körper die körperliche Integrität, und zum anderen werden durch das Injizieren des Impfstoffes teilweise heftige Impfreaktionen hervorgerufen. Diese reichen bei den Impfungen gegen SarsCov2 von Schmerzen an der Einstichstelle hin zu Kopfschmerzen, Fieber und Schüttelfrost. In sehr seltenen Fällen wurden bei einer Impfung mit den Impfstoffen Comirnaty (BioNTech/Pfizer) und Spikevax (Moderna) auch Herzmuskel- und Herzbeutelentzündungen und bei Impfungen mit Vaxzevria (AstraZeneca) Sinusvenenthrombosen beobachtet.[xxii] Hierin liegt unzweifelhaft eine Störung der biologisch-physiologischen Körpersphäre. In einigen Fällen dürfte auch die Schwelle zum Hervorrufen eines Krankheitszustandes überschritten sein. [xxiii]  Nun stellt sich aber die Frage, ob bei der hier beschriebenen faktischen mittelbaren Impfpflicht nicht eine Einwilligung der Studierenden in die Impfung vorliegt. 

Weder die Indiana University noch die Universität Bremen nehmen eine Impfung zwangsweise vor. Auch zieht die Ablehnung der Impfung keine staatlichen Zwangsmittel nach sich. An die Ablehnung sind aber gewichtige Nachteile geknüpft. Im Falle der Indiana University können Studierende, die die Impfung ablehnen, gar nicht mehr an dieser Universität studieren. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob man in diesem Fall noch davon sprechen kann, dass die Einwilligung in die Impfung bewusst und freiwillig abgegeben wird.[xxiv] Durch die beschriebenen Konsequenzen wird der subjektive Entscheidungsspielraum erheblich eingeschränkt. Bei dieser faktischen Impfpflicht wird der Entscheidungskorridor dahingehend verengt, dass die einzige Alternative zur Impfung der Besuch einer anderen Universität, und damit verbunden häufig ein Wegzug von Freunden und Familie, wäre. Denn bereits eine Einschreibung an der Indiana University ist ohne Impfnachweis nicht möglich. In diesem Fall kann man daher wohl nicht mehr von einer wirklichen „Freiwilligkeit“ sprechen. 

Hinsichtlich der Einführung der 3G-Regel an der Universität Bremen beschränkt sich der Nachteil darauf, dass Studierende teils erhebliche Kosten auf sich nehmen müssen, um sich die Teilnahme an Lehrveranstaltungen durch einen Negativtest „zu erkaufen“. Außerdem müssen sie sich ständig um Testtermine kümmern. Auch dies wird den Druck, sich impfen zu lassen, deutlich erhöhen. Allerdings stehen den Studierenden deutlich mehr Handlungsalternativen zur Verfügung als im Falle der faktischen Impfpflicht an der Indiana University. Den Studierenden wird bei Verweigerung der Impfung gerade nicht verwehrt, an einer bestimmten Universität zu studieren. Vielmehr haben sie unabhängig von ihrem Impfstatus die Möglichkeit, sich zu immatrikulieren. Relevant wird der Impfstatus erst bei der Teilnahme an Präsenzveranstaltungen. An deutschen Universitäten ist es auch keinesfalls so, dass ein Besuch der Präsenzveranstaltungen unerlässlich ist. Die meisten Studierenden treffen eine Auswahl an Vorlesungen, deren Besuch ihnen sinnvoll erscheint, und eignen sich die restlichen Inhalte im Selbststudium an. Durch eine solche Auswahl lassen sich die Testkosten reduzieren. Darüber hinaus ist im Vergleich zur faktischen Impfpflicht an der Indiana University aber insbesondere zu berücksichtigen, dass es in Bremen überhaupt eine Möglichkeit gibt, ausgewählte Präsenzveranstaltungen mit einem negativen Test zu besuchen. Auch wenn also durch die finanzielle Belastung und Mühewaltung durchaus Druck auf die Studierenden ausgeübt wird, wird ihr subjektiver Entscheidungsspielraum nicht derart eingeschränkt, dass man die Freiwilligkeit der Entscheidung, sich impfen zu lassen, gänzlich verneinen kann. Während die faktische Impflicht an der Indiana University also einen Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit darstellt, ist dies bei der Einführung der 3G-Regel nach der hier vertretenen Auffassung nicht der Fall. Der Druck, sich impfen zu lassen, ist in Bremen einfach nicht hoch genug. 

Das Bremer Modell beinhaltet jedoch zumindest einen Eingriff in die Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG. Die Studentische Lern- und Studierfreiheit fällt als Teilgarantie des Ausbildungsfreiheit in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG.[xxv]  Die Ausbildungsfreiheit umfasst damit die Freiheit ”das eigene Studium nach eigenen Präferenzen gestalten zu können, ohne durch unverhältnismäßige Regularien oder Entscheidungen hieran gehindert zu werden.”[xxvi] Eine solch freie Gestaltung des eigenen Studiums ist aber mit Einführung der 3G-Regel deutlich erschwert. 

Ein Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf Leben dürfte in beiden Fällen zu verneinen sein. Trotz vereinzelt berichteter letaler Impffolgen ist die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs zwischen Impfung und tödlicher Folge äußerst gering. Die „Gefahr“ ist folglich nicht hinreichend konkret genug.[xxvii]

Schwierigkeiten bereitet sodann aber die Frage, ob der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit im Falle der faktischen Impfpflicht wie an der Indiana University unter Umständen gerechtfertigt ist. Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG sieht einen einfachen Gesetzesvorbehalt vor. Die Entscheidung des Indiana University Board of Trustees stellt kein förmliches Gesetz dar und würde daher dem Gesetzesvorbehalt nicht genügen.[xxviii] Wollte man eine ähnliche Regelung in Deutschland einführen, müsste dafür folglich eine parlamentsgesetzliche Grundlage geschaffen werden. Keinesfalls könnten die Universitäten eine solche Regelung eigenständig einführen. Gleiches gilt der Sache nach, wenn man in der Bremer Variante einen Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG oder Art. 12 Abs. 1 GG annimmt.

Darüber hinaus müsste der Eingriff aber auch verhältnismäßig sein, d.h. einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sein.[xxix] Die Einführung der faktischen Impfpflicht an der Indiana University hat zum einen den Zweck, eine Rückkehr zum Präsenzunterricht und damit den Studierenden der Universität eine höchstmögliche Bildungsqualität zu ermöglichen, gleichzeitig aber auch die Entwicklung der Studierenden in diesem wichtigen Lebensabschnitt durch den direkten Kontakt mit Dozent:innen und Professor:innen sowie Kommiliton:innen zu ermöglichen. Der Zweck der Regelung geht aber noch weiter: erklärte Absicht ist es nämlich auch, das Leben und die Gesundheit derjenigen Universitätsangehörigen zu schützen, die zur Risikogruppen gehören und selbst nicht geimpft werden können. In beiden Intentionen liegt ein legitimer Zweck. Dem Gesetzgeber steht hinsichtlich der Auswahl des geeigneten Mittels zur Zweckerreichung ein weiter Prognosespielraum zu.[xxx] Nach derzeitigem Stand der Wissenschaft kann von der Geeignetheit der zugelassenen Impfstoffe gegen SarsCov2 ausgegangen werden. Laut RKI[xxxi] bieten die COVID-19-mRNA-Impfstoffe Comirnaty (BioNTech/Pfizer) und Spikevax (Moderna) eine hohe Wirksamkeit von etwa 95%, der Impfstoff Vaxzervia von AstraZeneca eine Wirksamkeit von ca. 80%. Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, an COVID-19 zu erkranken, bei vollständig geimpften Personen um 95% (bzw. 80%) geringer ist als bei Personen, die nicht geimpft sind. Schwere Krankheitsverläufe werden um 85% (Comirnaty und Spikevax) und 95% (Vaxzervia) gesenkt. Inwiefern die Impfung auch das Risiko einer Übertragbarkeit senkt und wie lange die Impfung wirksam ist, ist derzeit noch nicht bekannt. Erste Studien aus Großbritannien haben ergeben, dass die Impfstoffe Comirnaty und Vaxzervia bei vollständiger Impfung auch einen vergleichbar hohen Schutz gegen die derzeit vorherrschende Virusvariante Delta bieten. Insbesondere ist der Schutz vor schweren Verläufen nach wie vor hoch. Ob die Impfstoffe auch gegen neue Virusmutationen wirksam sein werden, kann derzeit noch nicht beurteilt werden. 

Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob eine Impfpflicht an sich geeignet ist, um die legitimen Zwecke zu erreichen. Es ist davon auszugehen, dass sich bei einer bestehenden Impfpflicht der überwiegende Teil der Studierenden impfen lassen wird, weshalb eine Impfpflicht grundsätzlich geeignet erscheint. Zweifel an der Geeignetheit wachsen jedoch, schaut man sich den politischen Vertrauensverlust an, der mit einer solchen Pflicht einhergeht.[xxxii] Dabei handelt es sich aber wohl eher um die Frage, ob die Impfpflicht auf lange Sicht eine politisch kluge Maßnahme ist, nicht ob sie zur Erreichung des (kurzfristig) gesteckten legitimen Ziels geeignet ist. 

Schwieriger gestaltet sich aber die Frage, ob eine solche faktische Impfpflicht auch erforderlich ist, d.h. dem Staat kein anderes, gleich wirksames Mittel zur Verfügung steht.[xxxiii] Denkbar sind zahlreiche alternative Mittel. So hat sich gezeigt, dass die Impfbereitschaft in der Bevölkerung besonders durch eine besonnene Aufklärungskampagne gesteigert werden kann. Auch niedrigschwellige Impfangebote (Impfbusse auf dem Campus) werden sehr gut angenommen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit mit Anreizen, wie beispielsweise Freigetränken in der Uni-Bar, Mensagutscheinen etc. Studierende zum freiwilligen Impfen zu motivieren.[xxxiv] Allerdings hat sich auch gezeigt, dass alle diese Maßnahmen nicht zwingend verhindern können, dass die Impfbereitschaft irgendwann stagniert. Insbesondere die USA haben mit rückläufigen Impfzahlen zu kämpfen.[xxxv] Dies betrifft auch Studierende. Auch wenn keine verlässlichen Zahlen für die Indiana University vorliegen, liegt die Impfbereitschaft bei Studierenden in New Jersey bei ca. 75%.[xxxvi] Ähnliche Zahlen werden für Studierende in den gesamten USA berichtet.[xxxvii] Von den erforderlichen 85 – 90 %, die zur langfristigen Eindämmung des Virus notwendig sind, ist dies weit entfernt.[xxxviii] Die Erforderlichkeit der Einführung einer tatsächlichen Impfpflicht lässt sich für die Indiana University daher durchaus bejahen. 

Anders gestaltet sich die Situation in Deutschland: Die Bereitschaft unter Studierenden in Deutschland, sich gegen SarsCov2 impfen zu lassen, ist deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung.[xxxix] Eine Studierendenumfrage der Universität Tübingen[xl] hat gezeigt, dass bereits 92% aller Befragten mindestens einmal geimpft sind. Lediglich 3,7% der Befragten gaben an, dass sie sich gar nicht impfen lassen wollten. Ähnliche Zahlen finden sich auch in einer Erhebung der Universität Bremen[xli], in der 87% der Studierenden angaben, mindestens einmal geimpft zu sein und lediglich 9% sich nicht oder wahrscheinlich nicht impfen lassen wollen. Bei einer derart hohen Impfbereitschaft unter Studierenden erscheint die Einführung einer faktischen Impfpflicht, wie an der Indiana University, an deutschen Hochschulen derzeit jedenfalls nicht als erforderlich. 

Anders zu bewerten ist die Frage nach der Rechtfertigung des Eingriffs in die Ausbildungsfreiheit gem. Art 12 Abs. 1 GG durch die Einführung der 3G-Regel in Bremen. Auch hier ist letztendlich Dreh- und Angelpunkt der Rechtfertigungsprüfung, ob die Maßnahme erforderlich und angemessen ist. Anders als die Einführung einer faktischen Impfpflicht wie an der Indiana University erscheint die Einführung der 3G-Regel trotz hoher Impfbereitschaft unter den Studierenden durchaus erforderlich. Mit der Einführung der 3G-Regel verfolgen die Universitäten nicht nur das legitime Ziel einen dauerhaften Schutz der Gesundheit der Studierenden durch eine möglichst hohe Impfquote zu erreichen, sondern auch einen kurzfristigen Schutz durch regelmäßiges Testen derjenigen Studierenden, die nicht geimpft sind, um der Ausbreitung von Infektionen mit COVID-19 rechtzeitig eindämmen zu können.   Im Vergleich zur faktischen Impfpflicht ist die 3G-Regel ein wesentlich milderes Mittel, dessen Eingriffsintensität deutlich hinter der Regelung der Indiana University zurückbleibt. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die 3G-Regel in einer Übergangsphase eingeführt wird: es besteht eine hohe Impfbereitschaft unter den Studierenden, es sind aber längst noch nicht ausreichend viele Studierende geimpft. Die Universitäten sind damit in der Pflicht bei Wiederaufnahme der Präsenzveranstaltungen die Studierenden vor einer Ansteckung zu schützen. Bei noch nicht ausreichend vorhandenem Impfschutz, ist die beste Maßnahme hierzu das Testen. Darüber hinaus haben die Universitäten auch durchaus ein legitimes Interesse daran die Impfmoral der Studierenden aufrecht zu halten und durch “sanfte” Maßnahmen wie die 3G-Regel darauf hinzuwirken, dass impfwillige Studierende sich auch tatsächlich impfen lassen. So dass insgesamt die Erforderlichkeit der 3G-Regel zu bejahen ist. Auch eine Gesamtabwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit kommt zu keinem anderen Ergebnis.

Während die Einführung der 3G-Regel im Ergebnis also bereits keinen Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit darstellt und der hierdurch erfolgende Eingriff in die Ausbildungsfreiheit gerechtfertigt ist, wäre die Einführung einer faktischen Impfpflicht, wie an der Indiana University, an deutschen Hochschulen mangels Erforderlichkeit nicht mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (und auch nicht mit Art. 12 Abs. 1 GG) vereinbar.

Die Darstellung über die Vereinbarkeit mit der EMRK sowie der Charta der Grundrechte der EU folgt in einem Teil II kommende Woche hier auf dem Blog.

* Ass. iur. Karoline Dolgowski, Master II en droit (Lille-Warwick) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Thomas Giegerich an der Universität des Saarlandes.


[i] Simon Rösel, Ende eines Pandemiesemesters: Was Corona vom Uni-Leben übrig ließ, FAZ 20.07.2021, verfügbar unter: https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/was-hat-corona-vom-uni-leben-uebrig-gelassen-17444645.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 (14.09.2021). 

[ii]  Sabrina Winter, Präsenzunterricht in Corona-Zeiten: „Man kann Kinder nicht fünf Stunden frontal per Video unterrichten“, Zeit Online 22.11.2021, verfügbar unter: https://www.zeit.de/hamburg/2020-11/praesenzunterricht-corona-hamburg-grundschule-schueler-lehrer-gesundheit (14.09.2021). 

[iii] Katharina Werner im Gespräch mit Regina Brinkmann, Christiane Habermalz, Ifo-Studie zu Corona und Schule: Wie Schülerinnen und Schüler unter dem Lockdown leiden, Deutschlandfunk 20.04.2021, verfügbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/ifo-studie-zu-corona-und-schule-wie-schuelerinnen-und.680.de.html?dram:article_id=495992 (14.09.2021). 

[iv] Hochschulrektorenkonferenz, Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die deutschen Hochschulen – Aktuelle Hinweise und Nachrichten, Stand: 10.09.2021, verfügbar unter: https://www.hrk.de/themen/hochschulsystem/covid-19-pandemie-und-die-hochschulen/ (14.09.2021).

[v] Siehe hierzu bspw. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Studiensituation und studentische Orientierung: 12. Studierendensurvey an Universitäten und Fachhochschulen, verfügbar unter: https://www.bmbf.de/SharedDocs/Publikationen/de/bmbf/pdf/studiensituation-und-studentische-orientierungen-langfassung.pdf?__blob=publicationFile&amp%3Bv=2 (14.09.2021). 

[vi] ZDF, Nach drei Corona-Semestern – Wie geht es an den Universitäten weiter?, 25.07.2021, verfügbar unter: https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-universitaet-impfung-100.html; Universität Bremen, Informationen für Studierende und Studienanfänger:innen – Universität Bremen setzt im Wintersemester auf Präsenz, verfügbar unter: https://www.uni-bremen.de/informationen-zur-corona-pandemie/fragen-antworten/informationen-fuer-studierende-und-studienanfaengerinnen (Beide: 14.09.2021). 

[vii] Klaus Weber, Creifelds kompakt, Rechtswörterbuch,4. Edition 2021, Stichwort: Impfzwang.

[viii] Ibid.

[ix] Ibid.

[x] Josh Moody, Colleges Requiring a Coronavirus Vaccine for Fall, U.S. News 12.08.2021, verfügbar unter:  https://www.usnews.com/education/best-colleges/articles/colleges-requiring-a-coronavirus-vaccine-for-fall-what-to-know (14.09.2021). 

[xi] The Trustees of Indiana University, Beschluss vom 21.05.2021.

[xii] United States District Court for the Northern District of Indiana South Bend Division, Urt. v. 18.07.2021, Ryan Klaasen et. al. v. The Trustees of Indiana University, Cause No. 1:21-CV-238; United States Court of Appeals for the Seventh Circuit, Urt. v. 02.08.2021, Ryan Klaasen et. al. v. The Trustees of Indiana University, Case No. 21A15.

[xiii] Supreme Court of the United Staates, Beschl. v. 12.08.2021, Klaassen v. Trustees of Indiana University, Case No. (21-2326) 

[xiv] Amy Howe, Barrett leaves Indiana University’s vaccine mandate in place, SCOTUSblog 12.08.2021, verfügbar unter: https://www.scotusblog.com/2021/08/barrett-leaves-indiana-universitys-vaccine-mandate-in-place/; Adam Liptak, The Supreme Court won’t block Indiana University’s vaccine mandate., The New York Times 12.08.2021, verfügbar unter: https://www.nytimes.com/2021/08/12/us/supreme-court-indiana-university-covid-vaccine-mandate.html (Beide: 14.09.2021). 

[xv] Forschung & Lehre, Minister drängen auf Präsenzsemester mit 3G-Regel, 12.08.2021, verfügbar unter: https://www.forschung-und-lehre.de/lehre/minister-draengen-auf-praesenzsemester-mit-3g-regel-3927/ (14.09.2021).

[xvi] Christine Leitner, Von 3G bis 1G: So planen österreichische Universitäten das bevorstehende Semester, Stern 01.09.2021, verfügbar unter: https://www.stern.de/gesundheit/von-3g-bis-1g–so-wird-das-wintersemester-an-oesterreichischen-unis-30698220.html (14.09.2021). 

[xvii] Universität Bremen, Informationen für Studierende und Studienanfänger:innen – 

Universität Bremen setzt im Wintersemester auf Präsenz, verfügbar unter: https://www.uni-bremen.de/informationen-zur-corona-pandemie/fragen-antworten/informationen-fuer-studierende-und-studienanfaengerinnen (14.09.2021). 

[xviii] Die Bundesregierung, Die wichtigsten Fragen und Antworten zu Corona-Tests, verfügbar unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/corona-tests-faq-1872540 (14.09.2021). 

[xix]  Marvin Kalies, Lucas Grothe, Wieso müssen Geimpfte keine Coronatests mehr machen?, MDR 06.09.2021, verfügbar unter: https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/panorama/coronatests-kosten-geimpfte-100.html (14.09.2021). 

[xx]BR24, So teuer werden die kostenpflichtigen Corona-Tests, 08.09.2021, verfügbar unter: https://www.br.de/nachrichten/bayern/kostenpflichtige-corona-tests-preis-ist-vorerst-schaetzsache,SiDB2P3 (14.09.2021). 

[xxi] Udo Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 94. EL Januar 2021, Art. 2 Rn. 69. 

[xxii] Robert Koch Institut, COVID-19 Impfung: Sicherheit, Stand: 25.08.2021, verfügbar unter: https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Liste_Sicherheit.html (14.09.2021). 

[xxiii] Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Auflage 2020, Art. 2, Rn. 83.

[xxiv] Udo Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 94. EL Januar 2021, Art. 2 Rn. 69.

[xxv] Scholz, Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 94. EL Januar 2021, Art. 12, Rn. 183. Die ”Lernfreiheit” der Studierenden ist nach h.M. hingegen nicht vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG umfasst, vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Auflage 2020, Art. 5, Rn. 140

[xxvi] Gärditz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 94. EL Januar 2021, Art. 5 Abs. 3, Rn. 122.

[xxvii] So auch bzgl. Masernimpfung: Komp/Thrun: Impfzwang als verfassungsrechtlich zulässiges Mittel gegen Masern?, JA 2020, 195 (201); vgl. zu Gefährdung als Eingriff: BVerfGE 115, 118 (140) = NJW 2006, 751 (753).

[xxviii] BVerfGE 22, 180/219; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Auflage 2020, Art. 2 Rn. 95.

[xxix] BVerfGE 16, 194/202; 17, 108/117; 51, 324/346; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Auflage 2020, Art. 2 Rn. 96. 

[xxx] BVerfGE 90, 145 (173); so auch bzgl. Masernimpfung Komp/Thrun: Impfzwang als verfassungsrechtlich zulässiges Mittel gegen Masern?, JA 2020, 195 (198). 

[xxxi] Robert Koch Institut, COVID-19 Impfung: Wirksamkeit, Stand: 02.09.2021, verfügbar unter: https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Liste_Wirksamkeit.html (14.09.2021). 

[xxxii] Sie bspw. die anhaltenden Proteste gegen die Impfpflicht im Gesundheitswesen in Frankreich: tagesschau, Impfpflicht und Gesundheitspass: Zehntausende Franzosen auf den Straßen, 07.08.2021, verfügbar unter: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/frankreich-proteste-gesundheitspass-101.html (14.09.2021). 

[xxxiii] So auch bzgl. Masernimpfung: Komp/Thrun: Impfzwang als verfassungsrechtlich zulässiges Mittel gegen Masern?, JA 2020, 195 (199).

[xxxiv] Sneha Dey, From Free Pizza To Free Tuition, Colleges Try Everything To Get Students Vaccinated, npr 12.08.2021, verfügbar unter: https://www.npr.org/2021/08/12/1017878369/college-incentives-increase-student-vaccine-rates?t=1631180963070; https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-impfung-bereitschaft-akzeptanz-100.html; Mathias Krisam, Wie man die Impfquote erhöhen kann, Deutschlandfunk 11.08.2021, verfügbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/pflicht-aufklaerung-anreize-wie-man-die-impfquote-erhoehen.2897.de.html?dram:article_id=500990 (14.09.2021). 

[xxxv] Jörg Wimalasena, Stoff ist da, nur die Einsicht fehlt, Zeit Online 08.07.2021, verfügbar unter: https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-07/us-impfkampagne-joe-biden-corona-impfstau-anreize-bereitschaft (14.09.2021). 

[xxxvi] Aleksandar Kecojevic, Corey H. Basch, Marianne Sullivan, Yen-Tyng Chen,Nicole K. Davi, COVID-19 Vaccination and Intention to Vaccinate Among a Sample of College Students in New Jersey, Nature Public Health Emergency Collection, 27.04.2021, 1 -10, verfügbar unter: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8077859/ (14.09.2021). 

[xxxvii] Sneha Dey (fn. 29). 

[xxxviii] Wie hoch die Impfquote bei Covid-19, der neuen Coronavirus-Infektion, sein muss, um die Herdenimmunität zu erreichen, ist noch nicht abschließend erforscht. Angesichts der Virus-Mutationen gehen Wissenschaftler momentan davon aus, dass für eine Herdenimmunität eher eine Durchimpfungsrate mindestens  85 % der 12 – 59-Jährigen bzw. 90 % der ≥ 60-Jährigen benötigt wird, vgl. etwa: Robert Koch Institut, Epidemiologischer Bulletin, 27/2021, 08.07.2021, S. 3, verfügbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/27_21.pdf?__blob=publicationFile (14.09.2021). 

[xxxix] Informationsdienst Wissenschaft, Nachrichten, Hohe Impfbereitschaft unter Studierenden, 10.09.2021, verfügbar unter: https://nachrichten.idw-online.de/2021/08/10/hohe-impfbereitschaft-unter-studierenden/ (14.09.2021). 

[xl] Eberhard Karls Universität Tübingen, Pressemittelung, Hohe Impfbereitschaft unter Studierenden, 10.08.2021, verfügbar unter: https://uni-tuebingen.de/universitaet/aktuelles-und-publikationen/pressemitteilungen/newsfullview-pressemitteilungen/article/hohe-impfbereitschaft-unter-studierenden/ (14.09.2021). 

[xli] Christina Selzer, Universität Bremen, Hohe Impfquote bei Studierenden, 16.08.2021, verfügbar unter: https://www.uni-bremen.de/universitaet/hochschulkommunikation-und-marketing/aktuelle-meldungen/detailansicht/hohe-impfquote-bei-studierenden-der-universitaet-bremen (14.09.2021). 

Suggested Citation: Dolgowski, Karoline, „Das Virus ist kein Studienanfänger mehr“: Rechtfertigt der Wunsch nach Rückkehr zum Präsenzbetrieb an den Universitäten eine Impfpflicht? – Teil I, jean-monnet-saar 2021, DOI: 10.17176/20220426-094239-0

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