03.12.2021
Ein Beitrag von Thomas Giegerich
Am 2.12.2021 beschloss die Europäische Kommission, ein politisch hoch aufgeladenes Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV gegen Deutschland einzustellen. Das Verfahren war von der Kommission im Juni 2021 im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. Mai 2020 zum Staatsanleihen-Ankaufprogramm der Europäischen Zentralbank (PSPP) eingeleitet worden. In diesem Urteil setzte sich das BVerfG über ein Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union hinweg, das die Vereinbarkeit des PSPP mit dem primären Unionsrecht bestätigt und das das BVerfG gemäß Art. 267 (3) AEUV selbst eingeholt hatte. Das BVerfG bezeichnete das EuGH-Urteil als völlig unverständlich und willkürlich und damit als einen nicht bindenden Ultra-vires-Akt. Das deutsche Gericht zog nicht einmal in Erwägung, ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen zu stellen, um den EuGH in die Lage zu versetzen, die angebliche Lücke in seiner Argumentation zu schließen, die das BVerfG so gestört hatte.[1]
In ihrer Presseerklärung gab die Kommission drei Gründe für die Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens an: „Erstens hat Deutschland in seiner Antwort auf das Mahnschreiben sehr starke Verpflichtungen übernommen. Insbesondere hat Deutschland förmlich erklärt, dass es die Grundsätze der Autonomie, des Vorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie die in Art. 2 EUV niedergelegten Werte, darunter insbesondere die Rechtsstaatlichkeit, bekräftigt und anerkennt. Zweitens erkennt Deutschland ausdrücklich die Autorität des Gerichtshofs der Europäischen Union an, dessen Entscheidungen endgültig und verbindlich sind. Es ist ferner der Auffassung, dass die Rechtmäßigkeit von Handlungen der Unionsorgane nicht Gegenstand von Verfassungsbeschwerden vor deutschen Gerichten sein, sondern nur durch den Gerichtshof überprüft werden können. Drittens verpflichtet sich die Bundesregierung unter ausdrücklicher Bezugnahme auf ihre in den Verträgen verankerte Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um eine Wiederholung einer ‚ultra vires‘-Entscheidung in Zukunft zu vermeiden, und in dieser Hinsicht eine aktive Rolle zu übernehmen.“[2]
Die wiedergegebene Reaktion der Bundesregierung ist nichts weniger als eine vollständige Desavouierung des PSPP-Urteils, und dies zu Recht. Die Formulierung des dritten Grundes zeigt jedoch deutlich das Offensichtliche – dass die Möglichkeiten der Bundesregierung, die seit langem fehlgeleitete Rechtsprechung des BVerfG in EU-Angelegenheiten zu zügeln, begrenzt sind. Andererseits hat die letzte Entscheidung des BVerfG im PSPP-Verfahren – der Beschluss vom 29. April 2021, mit dem Anträge auf Vollstreckung des PSPP-Urteils abgelehnt wurden – schon etwas nicht minder Offensichtliches angedeutet: dass die Befugnisse des BVerfG in einem auf Gewaltenteilung basierenden Verfassungssystem ihrerseits nicht unbegrenzt sind und nur so weit reichen, wie seine Begründungen die anderen Gewalten zu überzeugen vermögen. Indem es sich getrieben von deutschen Europaskeptikern die Rolle des obersten Schiedsrichters im europäischen Integrationsprozess angemaßt hat, ist das BVerfG schlicht zu weit gegangen.
Das Ende dieser völlig überflüssigen Karlsruher Eskapade ist zwar nicht wirklich gut, aber die bestmögliche Schadensbegrenzung. Fortan sollte das BVerfG sich darauf konzentrieren, gemeinsam mit dem EuGH und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte das Europa der Rechtsstaatlichkeit vor autokratischen Angriffen von innen und außen zu schützen.
[1] Thomas Giegerich, Das PSPP-Urteil des BVerfG und seine diversen Nachspiele, Saar Expert Paper vom 14.6.2021 (https://jean-monnet-saar.eu/wp-content/uploads/2021/06/Nachspiele_PSPP_Urteil.pdf).
[2]https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/inf_21_6201?fbclid=IwAR1w6wbHhdcA5vxlqXTohUjxcgF7mJbpSBxTXjxaNWXpMJ0MIzb9Zyuwv7I (3.12.2021) – Übersetzung des Verfassers.
Suggested Citation: Giegerich, Thomas, Ende gut, alles gut? : Europäische Kommission stellt Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen des Karlsruher PSPP-Urteils ein, jean-monnet-saar 03.12.2021, DOI: 10.17176/20220308-095054-0.