Das sind die Werte der EU! – Replik an Lucia Puttrich

17.01.2022

Ein Beitrag von Karoline Dolgowski und Dennis Traudt*

Am 04. Januar druckte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Gastbeitrag der Hessischen Staatsministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten Lucia Puttrich mit dem Titel „Was sind die Werte der EU?“ ab. Die Staatsministerin beginnt mit einem Zitat des fundamentalen Art. 2 EUV, der die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zur Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, verpflichtet. Sodann konstatiert Puttrich jedoch, dass die Mitgliedstaaten zwar über eine gemeinsame Wertebasis verfügten, es jedoch keine einheitliche Definition dieser Werte gebe. Dies zeige sich insbesondere an den derzeit schwelenden Konflikten über die Justizreform in Polen und die Medien- und NGO-Gesetze in Ungarn, die Ausdruck unterschiedlicher Wertevorstellungen dieser Mitgliedstaaten seien. Die Staatsministerin unterstellt sodann, dass es der Union im Kern aber auch längst nicht mehr um rechtsstaatliche Prinzipien und deren Auslegung gehe, sondern um das Aufzwingen eines (neuen) gesellschaftlichen Leitbildes der EU. Dieses Bestreben der EU und der “großen” Mitgliedstaaten widerspreche der Kernidee der Europäischen Union, die auf dem Versprechen der gleichberechtigten Zusammenarbeit fuße.  Das “Polen- und Ungarn-Bashing” der letzten Jahre entspreche nicht dem Geist der Zusammenarbeit auf Augenhöhe, sondern wirke der Europäischen Integration entgegen. Eine vertiefte Integration könne nämlich nur durch die Akzeptanz des Wertepluralismus in der Europäischen Union gelingen und nicht durch eine Verschmelzung der europäischen Identitäten und Werte. Deutschland solle daher, anders als es im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung anklingt, zur Rolle als Vermittler zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten zurückkehren. 

Diese Sicht ist nicht nur aus politischer, sondern vor allem auch aus rechtlicher Sicht unhaltbar, negiert sie doch letztendlich die normative Leitfunktion des vertraglich unter Mitwirkung von Polen und Ungarn vereinbarten europäischen Wertekanons. Im folgenden Beitrag soll daher zunächst der normative Charakter der in Art. 2 EUV garantierten Werte, insbesondere am Beispiel der Rechtsstaatlichkeit, herausgearbeitet werden. Sodann wird dargelegt, warum die Ambitionen der neuen Bundesregierung, die europäischen “Werte effektiv zu schützen” und auf eine konsequente Durchsetzung und Weiterentwicklung der bestehenden Rechtsstaatsinstrumente zu dringen, nicht nur unionsrechtlich, sondern auch verfassungsrechtlich geboten und – anders als von Puttrich angeprangert – mit dem Geiste der Europäischen Integration durchaus vereinbar sind.

Der normative Gehalt des Art. 2 EUV

Unumstritten liegt der EU ein gemeinsames Wertefundament zugrunde.[1] Dies geht insbesondere aus Art. 2 EUV hervor, der zum einen statuiert, dass die Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit beruht (Satz 1), und zum anderen betont, dass diese Grundsätze allen Mitgliedstaaten gemein sind (Satz 2). Bei den in Satz 1 verbürgten Werten handelt es sich um die Strukturmerkmale eines freiheitlichen Verfassungsstaates.[2] Auch wenn der Begriff der „Werte“ grundsätzlich unbestimmte, vielschichtige und sich im Wandel der Zeit ändernde Grundeinstellungen der Gesellschaft bezeichnet, bildet Art. 2 S. 1 EUV inhaltlich Verfassungsgrundsätze ab, die rechtsdogmatisch betrachtet als “Strukturvorgaben und Optimierungsgebote innerhalb des europäischen Staaten- und Verfassungsverbundes” wirken.[3]  Der EuGH teilt in ständiger Rechtsprechung das Verständnis, die in Art. 2 EUV verbürgten Werte als Teil des verfassungsrechtlichen Rahmen der Union zu bezeichnen.[4] Darüber hinaus wird die normative Wirkung des Art. 2 EUV durch seine in Bezugnahme in Art. 7 Abs. 1 und Art. 49 S. 1 EUV hervorgehoben.[5] Auch wenn die Justiziabilität der in Art. 2 EUV enthaltenen Prinzipien umstritten ist, erkennt der EuGH zumindest die genannte Rechtsstaatlichkeit, konkretisiert in Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV als Prüfungsmaßstab im Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV an.[6]

Indem Art. 2 S. 2 EUV festlegt, dass diese Grundsätze auch allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind, umschreibt Art. 2 EUV nicht nur die für die Union verbindlichen Werte, sondern statuiert auch ein Homogenitätsgebot zwischen den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Union und den mitgliedstaatlichen Verfassungen.[7] Dieses stellt ein funktionales Äquivalent zu Art. 28 GG dar, der die verfassungsmäßige Ordnung der Länder auf bestimmte grundgesetzliche Werte festlegt. Das unionsrechtliche Homogenitätsgebot verlangt aber – anders als von Puttrich behauptet – dass die Union eine gemeinsame Definition dieser Werte vornimmt. Die europäische Integration wäre – wie auch jede andere (quasi-)föderale Ordnung – ohne ein Mindestmaß an Homogenität gar nicht realisierbar, und der Begriff einer Werteunion wäre bedeutungslos, gäbe es keine „unionsautonome“ Definition der europäischen Werte.[8]

Zu diesen Werten und somit auch zu den europäischen Verfassungsprinzipien gehört insbesondere auch die für eine freiheitliche Demokratie konstitutive und mit dieser unauflösbar verknüpften Rechtsstaatlichkeit.[9] Auch wenn sich auf mitgliedstaatlicher Ebene unterschiedliche Ausformungen des Rechtsstaatsprinzips finden mögen, herrscht Konsens darüber, dass Sinn und Zweck des Prinzips darin liegen, die Ausübung hoheitlicher Gewalt rechtlich zu binden.[10] Dabei stellt das Rechtsstaatsprinzip sowohl formelle als auch materielle Anforderungen an die Legalität hoheitlichen Handelns. In formeller Hinsicht müssen beispielsweise der Grundsatz der Gewaltenteilung, der Vorbehalt des Gesetzes sowie das Gebot eines geregelten Verfahrens gewährleistet werden. In materieller Hinsicht werden primär der Schutz der Grundrechte sowie die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gefordert.[11] Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung kontinuierlich allgemeine Rechtsgrundsätze herausgearbeitet, die vom Rechtsstaatsprinzip umfasst sind.[12] Dazu gehören der Grundsatz des Vertrauensschutzes[13], das Rückwirkungsverbot[14] und die richterliche Unabhängigkeit.[15] Dabei ist zu beachten, dass die richterliche Unabhängigkeit als europäischer Wert nicht nur im Raum der EU durch den EuGH basierend auf gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ausgeformt wurde, sondern schon in Art. 6 Abs. 1 EMRK kodifiziert und durch den EGMR in ständiger Rechtsprechung für den europäischen Menschenrechtsverbund konkretisiert wurde.[16]

Wie hier exemplarisch am Beispiel der Rechtsstaatlichkeit gezeigt, handelt es sich bei den in Art 2 EUV verbürgten Werten also keinesfalls um formlose Konzepte, über deren konkreten Inhalt sich trefflich streiten ließe, sondern um Verfassungsprinzipien, deren Inhalt nicht nur in der Literatur und den mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen, sondern auch unionsautonom vom EuGH in fortschreitender Rechtsprechung und unter Heranziehung der mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen und der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR ausformuliert und konkretisiert wurden. 

Frau Puttrich hingegen kritisiert eine Gesellschaftspolitik aus Brüssel und Straßburg, die in die Mitgliedstaaten übergreift und dadurch die unionsrechtlich gewährte nationale Identität (Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV) tangiert. Dabei ist die Frage nach einem „neuen gesellschaftlichen Leitbild der EU“ strikt von der Frage nach den Fundamentalwerten und Verfassungsprinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Freiheit zu trennen. Wenn die Europäische Kommission und die mitgliedstaatlichen Regierungen die Eingriffe Polens und Ungarns in die Meinungs- und Pressefreiheit oder die Gewaltenteilung kritisieren oder gar sanktionieren, ist das kein „Bashing“, sondern die einzige primärrechtskonforme Reaktion auf einen Verstoß gegen den grundlegenden Wertekonsens. Insoweit erkennt auch die Autorin richtig, dass es dahinstehen kann, „welche Auffassung man zur Abtreibung oder zu den sprachlichen Hinweisen der EU-Kommissarin hat.“ Eine abweichende Auffassung zu gesellschaftspolitisch hochsensiblen Themen rechtfertigt jedoch keine Abkehr von den in Art. 2 EUV verbürgten Verfassungsstrukturprinzipien. 

Die Integrationsverantwortung der Bundesregierung

In diesem Kontext ist auch der Auszug aus dem Koalitionsvertrag zur Rechtsstaatlichkeit zu lesen, in dem die neue Bundesregierung folgende Absicht erklärt: 

“Rechtsstaatlichkeit 
Wir wollen die Werte, auf denen sich die EU in Art. 2 Vertrag über die Europäische Union (EUV) gründet, effektiv schützen. Wir fordern die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge auf, die bestehenden Rechtsstaatsinstrumente konsequenter und zeitnah zu nutzen und durchzusetzen, […]. Gleichzeitig werden wir im Rat die Anwendung der bestehenden Rechtsstaatsinstrumente […]  konsequenter durchsetzen und weiterentwickeln. […]”

Während Frau Puttrich in der Haltung der neuen Bundesregierung den Anfang einer deutschen Werte-Hegemonie sieht, ist diese nicht nur unionsrechtlich (s.o.), sondern auch verfassungsrechtlich geboten. Die in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG normierte europagerichtete Struktursicherungsklausel macht es zur unabdingbaren Voraussetzung der deutschen Mitwirkung an der Verwirklichung eines vereinten Europas, dass die EU den dort normierten Strukturvorgaben entspricht.[17] Demnach muss die EU demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen verpflichtet sein und einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleisten. Zwar richtet sich diese verfassungsrechtliche Strukturvorgabe primär an die EU und ihre Entscheidungsprozesse und nicht an die anderen Mitgliedstaaten.[18] Die Rechtsstaatlichkeit der EU steht und fällt jedoch mit der Rechtsstaatlichkeit in allen ihrer Mitgliedstaaten. Der Integrationsgesetzgeber sowie die Bundesregierung sind an Art. 23 Abs. 1 GG gebunden, wenn sie in europäischen Angelegenheiten agieren, so auch bei der konsequenteren Durchsetzung bestehender Rechtsstaatsinstrumente im Rat der Europäischen Union. Ihre Integrationsverantwortung umfasst die Verantwortung für die Wahrung der europäischen Verfassungshomogenität.

Die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit zu fördern und die in Art. 2 EUV genannten Werte effektiv zu schützen, ist daher nicht Ausdruck einer übergriffigen Werte-Hegemonie, sondern schlicht ein Handeln im Einklang mit dem Grundgesetz und ein Bestehen darauf, dass alle Mitgliedstaaten ihre freiwillig vertraglich übernommenen Mitgliedschaftspflichten erfüllen. 

Fazit

Zu Recht resümiert Frau Puttrich, dass für das Gelingen des europäischen Projekts die Akzeptanz der “Einheit in Vielfalt” notwendig ist. Sie verkennt dabei aber, dass auch dieser der EU immanente pluralistische Ansatz eines Konsenses über ein gemeinsames normatives Fundament bedarf und ein unumstößlicher Kerngehalt der gemeinsamen Werte normative Voraussetzung des Europäischen Integrationsprojekts ist. Wird dieser Kerngehalt, wie er in Art. 2 EUV festgeschrieben und vom EuGH in fortschreitender Rechtsprechung näher definiert wurde, angetastet, so stellt dies die gesamte europäische Integration in ihrer Form als Union des Rechts in Frage. Ebenso wenig wie Einheit in Vielfalt die Vereinheitlichung der Vielfalt bedeutet, sind Eingriffe in den Wertekonsens von dieser Vielfalt gedeckt. Denn Vielfalt kann sich in der EU nur in den Grenzen der grundlegenden Verfassungsprinzipien des Art. 2 EUV entfalten.

*Ass. iur. Karoline Dolgowski, Master II en droit (Lille-Warwick) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Thomas Giegerich an der Universität des Saarlandes.

Dipl.-Jur. Dennis Traudt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand ebenda. Er ist außerdem Promotionsstipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung Für die Freiheit.


[1] Hilf/Schorkopf in: Grabitz/Hilf/Nettesheim/ EUV Art. 2 Rn. 8f; Calliess, in: Calliess/Ruffert, 6 Aufl. 2022, Art. 2 EUV Rn. 3 mwN.

[2] Calliess, in: Calliess/Ruffert, 6 Aufl. 2022, Art. 2 EUV Rn. 11. 

[3] Ibid. Rn. 11, 8. 

[4] EuGH, Gutachten 1/17 (CETA), ECLI:EU:C:2019:341, Rn. 110.

[5] Pechstein in: Streinz, 3. Aufl. 2018, EUV Art. 2 Rn. 1.

[6] EuGH, Urteil vom 27.2.2018 – C-64/16 (Associação Sindical dos Juízes Portugueses/Tribunal de Contas).

[7] Calliess in: Calliess/Ruffert, 6. Aufl. 2022, Art. 2 EUV Rn. 7.

[8] Den Europäischen Werten kommt dabei ein selbständiger Gehalt zu, der sich aus einem Vergleich der verschiedenen mitgliedstaatlichen Ausprägungen ergibt und vom EuGH fortentwickelt wurde. (vgl. Calliess in: Calliess/Ruffert, 6. Aufl. 2022, Art. 2 EUV Rn. 7)

[9] Vgl. Geiger in: Geiger/Khan/Kotzur, 6. Aufl. 2017, Art. 2 EUV Rn. 3.

[10] Calliess in: Calliess/Ruffert, 6. Aufl. 2022, Art. 2 EUV Rn. 27.

[11] Ibid. Rn. 26.

[12] Beginnend mit EuGH, Rs. 294/83 (Les Verts), Slg 1986, 1339.

[13] EuGH, Rs. C-90/95 (De Compte/Parlament), Slg. 1997, I-1999, Rn. 35 ff.; Rs. 120/86 (Mulder), Slg. 1988, 2321, Rn. 24.

[14] EuGH, Rs. 98/78 (Racke), Slg. 1979, 69, Rn. 20 (R).

[15] mwN: Ruffert, in Callies/Ruffert, 6. Aufl. 2022, Art. 7 EUV Rn. 38. 

[16] Vgl. mwN: ECtHR, Factsheet  „Independence of the justice system“, Juli 2021; abrufbar unter: https://www.echr.coe.int/Documents/FS_Independence_justice_ENG.pdf (zuletzt abgerufen am 14.01.2022).

[17] Heintschel von Heinegg/Frau, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 49. Edition, Art. 23, Rn. 10. 

[18] Scholz in: Dürig/Herzog/Scholz, 95. EL Juli 2021, GG Art. 23 Rn. 70f.

Suggested Citation: Dolgowski, Karoline, Traudt, Dennis, Das sind die Werte der EU!, jean-monnet-saar 17.01.2022, DOI: 10.17176/20220303-102535-0.

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