Die „nationale Identität“ gibt nationalen Gerichten keine Carte blanche zur Überwindung vorrangigen EU-Rechts

Anmerkung zum EuGH-Urteil vom 22.2.2022 in der Rs. C-430/21

23.02.2022

Ein Beitrag von Thomas Giegerich


Einige nationale Höchstgerichte, darunter das Bundesverfassungsgericht, das polnische und das rumänische Verfassungsgericht, haben gemeint, sie könnten die durch Art. 4 Abs. 2 EUV geschützte „nationale Identität“ als Rechtfertigungsgrund für die Verletzung unionsrechtlicher Pflichten einsetzen. Dem ist der EuGH jetzt klar entgegengetreten.

I.         Die „Identitäts-Rechtsprechung“ des BVerfG

Das BVerfG versteht die „nationale Identität“ des deutschen Mitgliedstaats in erster Linie als Verfassungsidentität und setzt diese mit dem nach Art. 79 Abs. 3 GG änderungsfesten Kern des Grundgesetzes gleich.[1] Es hat sich die Kontrolle darüber vorbehalten, ob EU-Rechtsakte den unantastbaren „Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG“ wahren (sog. Identitätskontrolle im Sinne eines Entscheidungsmonopols des BVerfG).[2] Im Urteil zum Vertrag von Lissabon hat das BVerfG folgende unionsrechtliche Begründung für seine Identitätskontrolle zu geben versucht:

„Die Ausübung dieser verfassungsrechtlich radizierten Prüfungskompetenz folgt dem Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, und sie widerspricht deshalb auch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV-Lissabon); anders können die von Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkannten grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen souveräner Mitgliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden. Insoweit gehen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität im europäischen Rechtsraum Hand in Hand. Die Identitätskontrolle ermöglicht die Prüfung, ob infolge des Handelns europäischer Organe die in Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze der Art. 1 und Art. 20 GG verletzt werden. Damit wird sichergestellt, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung gilt.“

Anscheinend hielt der Senat Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV für eine Art Carte blanche, mit deren Hilfe er sich über vorrangiges Unionsrecht hinwegsetzen könnte. Er ging auch von der Parallelität der verfassungs- und der unionsrechtlichen Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität im europäischen Rechtsraum aus. Der Senat versäumte es damals allerdings, eine Vorabentscheidung des EuGH zu diesem Versuch einzuholen, seine Identitätskontrolle in das EU-Primärrecht einzupassen. Dies legt die Vermutung nahe, dass es sich um keinen Teil der tragenden Entscheidungsgründe handelte, da sonst eine Verletzung von Art. 267 Abs. 3 AEUV und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG oder – anders formuliert – eine Ultra-vires-Entscheidung des BVerfG vorläge. Der EuGH hat der Fehlvorstellung des BVerfG von der Jokerfunktion des Art. 4 Abs. 2 EUV in einem Rumänien betreffenden Verfahren nun die Grundlage entzogen.[3] In diesem Verfahren nimmt der Gerichtshof nicht nur Bezug auf frühere Urteile zu Rumänien,[4] sondern auch auf seine Rechtsprechung zur Unabhängigkeit der Gerichte in Polen[5] und Ungarn.[6] Einige Formulierungen lassen aber erkennen, dass er auch das BVerfG im Auge hat. Besonders deshalb ist die Vorabentscheidung für deutsche Leser:innen von Interesse.

II.        Der Konflikt des rumänischen Verfassungsgerichts mit dem EuGH

Das rumänische Verfassungsgericht hat kürzlich die „nationale Identität“ ins Feld geführt, um sich über eine Vorabentscheidung des EuGH hinwegzusetzen.

In dieser hatte der EuGH auf Vorlage eines rumänischen Gerichts klargestellt, dass nach Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV die Einrichtung einer spezialisierten Abteilung der Staatsanwaltschaft mit ausschließlicher Zuständigkeit für die Untersuchung von durch Richter und Staatsanwälte begangenen Straftaten durch objektive und überprüfbare Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt sein und mit besonderen Garantien einhergehen müssten. Diese Garantien müssten „es zum einen ermöglichen, jede Gefahr auszuschließen, dass diese Abteilung als ein Instrument zur politischen Kontrolle der Tätigkeit dieser Richter und Staatsanwälte verwendet wird, das deren Unabhängigkeit beeinträchtigen könnte, und zum anderen, sicherzustellen, dass diese Zuständigkeit gegenüber Letztgenannten unter vollumfänglicher Beachtung der sich aus den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergebenden Anforderungen wahrgenommen werden kann.“[7] Darüber hinaus hatte der EuGH den Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts dahingehend ausgelegt, „dass er einer Regelung mit Verfassungsrang eines Mitgliedstaats in der Auslegung durch das Verfassungsgericht dieses Staates entgegensteht, wonach ein untergeordnetes Gericht nicht berechtigt ist, eine … nationale Bestimmung, die es im Licht eines Urteils des Gerichtshofs als mit dieser Entscheidung oder mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unvereinbar ansieht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen.“[8]

Das rumänische Verfassungsgericht entschied daraufhin in einem Urteil vom 8.6.2021, dass der Vorrang des EU-Rechts durch das Erfordernis der Achtung der nationalen Verfassungsidentität beschränkt sei. Die rumänischen Gerichte seien daher nicht befugt, die Vereinbarkeit nationaler Bestimmungen, die das Verfassungsgericht als mit der Verfassung (insbesondere der Verfassungsbestimmung über den Vorrang des EU-Rechts) vereinbar erklärt habe, mit dem Unionsrecht zu prüfen. Die abweichende Auffassung des EuGH im vorgenannten Urteil entbehre jeder Grundlage in der rumänischen Verfassung.

III.       Reaktion des EuGH aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens des Berufungsgerichts Craiova (Rumänien)

Vor diesem Hintergrund wollte das Berufungsgericht Craiova vom EuGH wissen, ob es diesem oder dem eigenen Verfassungsgericht folgen solle, was seine Kompetenzen zur Überprüfung der Unionsrechtskonformität nationaler Bestimmungen angehe. Es wies auch darauf hin, dass bei Nichtbeachtung von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen gegen die beteiligten rumänischen Richter:innen Disziplinarverfahren eingeleitet und Disziplinarstrafen verhängt werden könnten.

Der Präsident des EuGH hat diese Vorlage auf Antrag des vorlegenden Gerichts gem. Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung wegen ihrer grundlegenden Bedeutung dem beschleunigten Verfahren unterworfen.[9] Der Gerichtshof (Große Kammer) betont eingangs, dass die Regelung der Beziehungen zwischen Verfassungsgerichten und Fachgerichten in die mitgliedstaatliche Zuständigkeit falle, diese jedoch im Einklang mit den unionsrechtlichen Pflichten, insbesondere denjenigen aus Art. 2, 19 EUV auszuüben sei.[10] Allgemeiner schrieben weder Art. 2 noch Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV den Mitgliedstaaten ein konkretes verfassungsrechtliches Modell für die Beziehungen und das Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Staatsgewalten vor. Vielmehr habe die EU die grundlegenden Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 EUV zu achten. Allerdings müssten die Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang insbesondere das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte beachten.[11]

Vor diesem Hintergrund sieht der EuGH in Art. 2, 19 Abs. 1 UA 2 EUV kein Hindernis für eine (auch in § 31 Abs. 1 BVerfGG vorgesehene) Bindung der Fachgerichte an die Entscheidungen des Verfassungsgerichts, vorausgesetzt, dass dieses seinerseits unabhängig ist (anders als das polnische Verfassungsgericht). Dies könne jedoch insoweit nicht gelten, als damit die Zuständigkeit der Fachgerichte ausgeschlossen werde, die Vereinbarkeit nationaler Bestimmungen mit dem EU-Recht zu prüfen.[12] Zur Begründung verweist der EuGH hier auf seine ständige Rechtsprechung seit den Leitentscheidungen in den Fällen van Gend & Loos und Costa ./. ENEL und erwähnt auch die Erklärung Nr. 17 zum Vorrang, die der Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon beigefügt ist. Dieser Vorrang gilt, wie der EuGH nochmals unterstreicht, auch gegenüber innerstaatlichen Bestimmungen mit Verfassungsrang. Nicht zuletzt an die Karlsruher Adresse richtet sich die Aussage, der EuGH habe die ausschließliche Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts. Es sei daher „seine Sache, in Ausübung dieser Zuständigkeit die Tragweite des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts … zu präzisieren, so dass diese Tragweite weder von deiner Auslegung der Bestimmungen des nationalen Rechts noch von einer Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts durch ein nationales Gericht, die nicht der Auslegung des Gerichtshofs entspricht, abhängen darf.“[13]

Der EuGH betont die Verpflichtung der nationalen Gerichte, nach dem Grundsatz des Vorrangs für die volle Wirksamkeit der unmittelbar anwendbaren Bestimmungen des Unionsrechts in allen anhängigen Verfahren dadurch zu sorgen, dass sie jede damit unvereinbare – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis unangewendet lassen, ohne auf gesetzgeberische, verfassungsgerichtliche oder sonstige Abhilfe warten zu müssen. Nur so sei die volle Anwendung des EU-Rechts in allen Mitgliedstaaten, wie sie Art. 19 Abs. 1 EUV verlange, zu gewährleisten. Die Einhaltung dieser Verpflichtung sei auch erforderlich, um die Achtung der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen sicherzustellen, die die Möglichkeit ausschließe, eine einseitige Maßnahme welcher Art auch immer gegen die Unionsrechtsordnung durchzusetzen. Sie sei Ausdruck des in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit.[14]

Die rumänische Regelung, wonach die Fachgerichte ein Urteil des Verfassungsgerichts zur Vereinbarkeit nationaler Bestimmungen mit der Verfassung unionsrechtlich nicht hinterfragen dürfen, ist nach Auffassung des EuGH mit dem Unionsrecht unvereinbar. Bestandteil des Amtes des Unionsrichters, das dem nationalen Gericht obliege, sei es, nationale Regelungen oder Praktiken beiseite zu lassen, die ein Hindernis für die volle Wirksamkeit des EU-Rechts bildeten. Die Ausübung dieser Befugnis stelle eine wesentliche Garantie der sich aus Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV ergebenden richterlichen Unabhängigkeit dar.

In diesem Zusammenhang unterstreicht der EuGH erneut, dass der Zweck des Vorabentscheidungsmechanismus in Art. 267 AEUV darin liege sicherzustellen, „dass das Unionsrecht unter allen Umständen in allen Mitgliedstaaten die gleiche Wirkung“ habe. Deshalb dürften nationale Gerichte nicht daran gehindert oder (etwa durch drohende Disziplinarverfahren) davon abgeschreckt werden, von ihrer in Art. 267 Abs. 2 AEUV festgelegten Vorlagebefugnis Gebrauch zu machen.[15]

Dies gelte umso mehr in einer Situation wie der vorliegenden, in der es das nationale Verfassungsgericht ablehne, einem in einem Vorabentscheidungsverfahren ergangenen EuGH-Urteil nachzukommen, und sich dabei u.a. auf die nationale Verfassungsidentität und die Erwägung stütze, dass der EuGH seine Zuständigkeiten überschritten habe. Zwar könne der EuGH nach Art. 4 Abs. 2 EUV veranlasst sein zu prüfen, ob eine unionsrechtliche Pflicht nicht der nationalen Identität eines Mitgliedstaats widerspreche. Diese Bestimmung habe jedoch weder zum Ziel noch zur Folge, dass ein mitgliedstaatliches Verfassungsgericht unter Missachtung seiner sich aus Art. 4 Abs. 2 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV ergebenden Pflichten die Anwendung einer Norm des EU-Rechts mit der Begründung ausschließen könne, dass diese Norm die von ihm definierte nationale Identität des betr. Mitgliedstaat missachte. Vielmehr müsse ein nationales Verfassungsgericht, wenn es der Auffassung sei, dass eine Bestimmung des sekundären EU-Rechts in ihrer Auslegung durch den EuGH gegen die Verpflichtung verstoße, die nationale Identität dieses Mitgliedstaats zu achten, eine Vorabentscheidung des EuGH über die Gültigkeit dieser Bestimmung im Lichte von Art. 4 Abs. 2 EUV einholen. Denn allein der EuGH sei befugt, die Ungültigkeit einer Handlung der EU festzustellen. Außerdem habe er die ausschließliche Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts, so dass ein nationales Verfassungsgericht nicht auf der Grundlage seiner eigenen Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen wirksam entscheiden könne, dass der Gerichtshof ein Urteil erlassen habe, das über seine Zuständigkeit hinausgehe, und es mit dieser Begründung ablehnen, einer Vorabentscheidung nachzukommen.[16]

Insbesondere dürften die nationalen Gerichte nicht an eine Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts gebunden werden, die sie für unionsrechtswidrig hielten. Im Gegenteil seien sie unionsrechtlich verpflichtet, in einem anhängigen Rechtsstreit die Beurteilung eines nationalen Verfassungsgerichts, das es ablehne, einer Vorabentscheidung des EuGH nachzukommen, unangewendet zu lassen, und zwar selbst dann, wenn diese Vorabentscheidung in einem anderen Verfahren ergangen sei.[17]

IV.       Übertragung der Aussagen auf Deutschland und ihre Fortentwicklung

Auf Deutschland übertragen bedeutet dies, dass weder § 31 Abs. 1 BVerfGG noch eine andere deutsche Rechts- oder Verfassungsnorm (Art. 23, Art. 79 Abs. 3 GG) die deutschen Gerichte an die Auffassungen des BVerfG zum EU-Recht oder zur Vereinbarkeit von deutschen Rechtsvorschriften mit dem EU-Recht zu binden oder daran zu hindern vermag, sich über eine ihrer Auffassung nach mit EU-Recht unvereinbare Norm auch des GG oder Rechtsprechungspraxis des BVerfG hinwegzusetzen. Sollte das BVerfG also seine Praxis im PSPP-Urteil wiederholen, einen EU-Rechtsakt unter Missachtung einer Vorabentscheidung des EuGH als ultra vires und damit in Deutschland unanwendbar einzustufen,[18] wären deutsche Fachgerichte verpflichtet, diesen EU-Rechtsakt dennoch anzuwenden und die entgegenstehende BVerfG-Entscheidung unbeachtet zu lassen, ggf. nach Durchführung eines weiteren Vorabentscheidungsverfahrens nach dem Muster des Berufungsgerichts Craiova.

Die Aussagen des EuGH zum Schutz der nationalen Verfassungsidentität durch Art. 4 Abs. 2 EUV beziehen sich nur auf eine mit dieser angeblich unvereinbare Sekundärrechtsbestimmung, worum es im konkreten rumänischen Fall ging. Was gilt aber, wenn eine Norm des Primärrechts mit der Verfassungsidentität eines Mitgliedstaats zu kollidieren scheint? Der EuGH ist nicht befugt, eine Primärrechtsnorm wegen Verstoßes gegen die gleichrangige Primärrechtsnorm des Art. 4 Abs. 2 EUV für ungültig zu erklären.[19] Er kann jedoch die in Konflikt mit einer mitgliedstaatlichen Verfassungsidentität geratene Primärrechtsnorm interpretatorisch entschärfen (was dann allen Mitgliedstaaten gegenüber wirken würde) oder (wenn dies nicht möglich ist) nur den betreffenden Mitgliedstaat von der Pflicht zur Einhaltung der Norm entbinden, soweit es der Schutz seiner Verfassungsidentität erfordert.[20] Die letztere Lösung steht allerdings in einem Spannungsverhältnis mit der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen, die Art. 4 Abs. 2 EUV im selben Atemzug schützt wie die nationale Identität und damit als gleichrangig identifiziert. Sie kommt allenfalls als Notlösung in Betracht.

Eine weitere Frage, die sich im Verhältnis zu Polen stellen könnte,[21] lautet: Was gilt, wenn die nationale Verfassungsidentität mit den Vorgaben des Art. 2 EUV unvereinbar ist? Der EuGH hat die in Art. 2 EUV festgeschriebenen Werte kürzlich folgendermaßen charakterisiert: „They define the very identity of the European Union as a common legal order.“[22] Ihre Achtung sei eine Voraussetzung für den Genuss aller Rechte, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergäben.[23] In die gleiche Richtung deutet die Aussage des hier besprochenen Urteils, nach der die Mitgliedstaaten bei der Wahl ihres verfassungsrechtlichen Modells i.S.v. Art. 4 Abs. 2 EUV die Erfordernisse beachten müssten, die sich aus Art. 2, Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV ergäben.[24] Ein Mitgliedstaat kann sich daher nicht auf seine Verfassungsidentität berufen, um sich vom gemeinsamen Wertefundament der EU und aller Mitgliedstaaten in Art. 2 EUV zu entfernen. Die einzige Lösung für einen solchen Konflikt bietet Art. 50 EUV: Der Mitgliedstaat muss die Union verlassen.


[1] BVerfG, Urt. v. 30.6.2009 (2 BvE 2/08 u.a.) – Vertrag von Lissabon, Rn. 208, 216, 218, 234, 240 f. (BVerfGE 123, 267).

[2] Ebd., Rn. 240 f. BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14) – Europäischer Haftbefehl III (BVerfGE 140, 317).

[3] EuGH, Urt. v. 22.2.2022 (Rs. C-430/21). Kritisch schon Thomas Giegerich, The German Federal Constitutional Court’s Misguided Attempts to Guard the European Guardians in Luxemburg and Strasbourg, in: Marten Breuer u.a. (Hrsg.), Der Staat im Recht. Festschrift für Eckart Klein (2013), S. 49 (59 ff.).

[4] EuGH, Urt. v. 18.5.2021 (Rs. C-83/19 u.a.); Urt. v. 21.12.2021 (Rs. C-357/19 u.a.).

[5] EuGH, Urt. v. 24.6.2019 (Rs. C-619/18); Urt. v. 19.11.2019 (Rs. C-585/18 u.a.); Urt. v. 15.7.2021 (Rs. C-791/19).

[6] EuGH, Urt. v. 23.11.2021 (Rs. C-564/19).

[7] EuGH, Urt. v. 18.5.2021 (Rs. C-83/19 u.a.).

[8] Ebd., Nr. 7 des Tenors.

[9] Fn. 3, Rn. 26 ff.

[10] Ebd., Rn. 38.

[11] Ebd., Rn. 43.

[12] Ebd., Rn. 44 ff.

[13] Ebd., Rn. 47 ff.

[14] Ebd., Rn. 53 ff.

[15] Ebd., Rn. 64 ff., 85 ff.

[16] Ebd., Rn. 68 ff.

[17] Ebd., Rn. 76 f.

[18] BVerfG, Urt. v. 5.5.2020 (2 BvR 859/15 u.a.). Kritisch dazu Thomas Giegerich, Das PSPP-Urteil des BVerfG und seine diversen Nachspiele, Saar Expert Paper 06/2021, abrufbar unter file:///C:/Users/giegerich/Documents/EZB-Fall/Nachspiele_PSPP_Urteil.pdf. Zur Einstellung des diesbezüglichen Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland Thomas Giegerich, Ende gut, alles gut?, Saar Brief vom 3.12.2021 (https://jean-monnet-saar.eu/?page_id=125620).

[19] Vgl. den Wortlaut des Art. 267 Abs. 1 lit. a im Vergleich mit lit. b AEUV. Vgl. EuGH, Urt. v. 27.11.2012 (Rs. C-370/12), Rn. 33 ff.

[20] So der Sache nach EuGH, Urt. v. 5.12.2017 (Rs. C-42/17).

[21] Das polnische Verfassungsgericht hat am 14.7.2021 und am 7.10.2021 entschieden, dass zentrale Bestimmungen des Primärrechts mit der polnischen Verfassung unvereinbar seien. Die Kommission hat deswegen am 22.12.2021 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet (vgl. die Pressemitteilung unter https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_21_7070).

[22] EuGH, Urt. v. 16.2.2022 (Rs. C-157/21), Rn. 145.

[23] Ebd., Rn. 144.

[24] Fn. 3, Rn. 43.

Suggested Citation: Giegerich, Thomas, Die „nationale Identität“ gibt nationalen Gerichten keine Carte blanche zur Überwindung vorrangigen EU-Rechts, jean-monnet-saar 23.02.2022, DOI: 10.17176/20220228-160224-0.

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