Die Türkei und der Europarat – ein sich zuspitzender Konflikt?

09.03.2022

Ein Beitrag von Miriam Schmitt*

Anfang Dezember leitete das Ministerkomitee des Europarats gemäß Art. 46 Abs. 4 EMRK ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei ein.[1] Hintergrund dieses Verfahrens ist der Umstand, dass die Türkei entgegen einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte[2] den Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala weiterhin in Untersuchungshaft hält.[3]

Das Ministerkomitee besteht gem. Art. 14 S. 1 Satzung des Europarates[4] aus den Außenministern der 47 Vertragsstaaten. Es stimmte am 02.12.2021 in einer Interim Resolution für das Verfahren.[5] Dazu war eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Gremium erforderlich. Bis zuletzt war fraglich, ob es der Türkei gelingen würde, genug Staaten davon zu überzeugen, gegen das Verfahren zu stimmen.[6]

Das Vertragsverletzungsverfahren wurde 2010 eingeführt durch Art. 16 des Protokolls 14 zur EMRK. Es beruht auf einer Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (1226(2000), welche in der Recommendation 1477(2000) weiterverfolgt wurde.[7] Das Verfahren nach Art. 46 Abs. 4 EMRK wurde bisher nur einmal aktiviert – gegen Aserbaidschan.[8] Im Fall Ilgar Mammadov v. Azerbaijan hatte der EGMR 2014 entschieden, dass die Inhaftierung von Mammadov eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 lit. c, Abs. 4, Art. 6 Abs. 2 und Art. 18 i.V.m. Art. 5 EMRK darstellte, weil die Inhaftierung von Mammadov ohne hinreichenden Verdacht erfolgt sei und in Wahrheit dazu gedient habe, ihn als Kritiker der Regierung zum Schweigen zu bringen.[9] Aserbeidschan ließ Mammadov jedoch nicht umgehend frei, wozu es nach Art. 46 Abs. 1 EMRK verpflichtet gewesen wäre. Das gemäß Art. 46 Abs. 2 EMRK für die Überwachung der Durchführung dieses Urteil zuständige Ministerkomitee versuchte drei Jahre vergeblich, Aserbeidschan zur Erfüllung seiner Verpflichtung zu veranlassen. Schließlich brachte das Ministerkomitee den Fall Ende 2017 nach Art. 46 Abs. 4 EMRK erneut vor den EGMR. Dieser verurteilte Aserbeidschan einstimmig antragsgemäß wegen Verletzung von Art. 46 Abs. 1 EMRK.[10] Das Überwachungsverfahren des Ministerkomitees  wurde schließlich eingestellt, nachdem Aserbaidschan Mammadov aus der Haft entlassen und eine Entschädigung für die unrechtmäßige Festnahme und Inhaftierung gewährt hatte.[11]

Im ähnlich gelagerten Fall Kavala weigert die Türkei sich, entgegen dem Urteil des EGMR vom 10. Dezember 2019 den Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala freizulassen. Er war unter dem Vorwurf seit 18.10.2017 in Untersuchungshaft, im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten versucht zu haben, gewaltsam die Regierung zu stürzen, was einen Verstoß gegen Art. 312 türkisches Strafgesetzbuch (tStGB) darstellt. Der EGMR sah in dieser Inhaftierung eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK, da die türkischen Behörden nicht substantiiert darlegen konnten, auf welche Beweise sie diese Anschuldigungen stützen.[12] Zudem stellte das Gericht eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK fest, da Kavala insgesamt mehr als ein Jahr und sieben Monate in Untersuchungshaft gehalten wurde, bevor das türkische Verfassungsgericht über seine Beschwerde entschied.[13] Zudem stellte der EGMR fest, dass die U-Haft als politisch motiviert einzuordnen sei, was einen Verstoß gegen Art. 18 EMRK  i.V.m. Art. 5 Abs. 1 EMRK begründe, da die Haft mangels Beweisen einer Straftat dem versteckten Ziel diene, Kavala als Menschenrechtsaktivist zum Schweigen zu bringen. Der EGMR ordnete dieses Mal, anders als im Fall Mammadov, sogar ausdrücklich im Urteilstenor die sofortige Freilassung Kavalas an,[14] was es nur in Ausnahmefällen tut.[15][16] Dann ist aber auch diese Anordnung gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK verbindlich.

Dennoch ist ihr die Türkei nicht nachgekommen, sondern hält Kavala jetzt aufgrund neuer Vorwürfe weiter in Untersuchungshaft.[17]  

Ein rechtskräftiges Urteil gegen Kavala ist bisher nicht ergangen.[18]

Das im Dezember 2021 gegen die Türkei eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 46 Abs. 4 EMRK dient der Durchsetzung der EGMR-Anordnung zur Freilassung von Kavala.

Das Verfahren ist mehrstufig aufgebaut: Zunächst wurde die Türkei formell über die Entwicklung benachrichtigt, und ihr wurde Gelegenheit gegeben bis zum 19.02.2021 Stellung zu beziehen.[19]

In dieser Stellungnahme argumentierte die Türkei, dass sie die Voraussetzungen des Art. 46 Abs. 1 EMRK erfüllt und dem Urteil des EGMR Folge geleistet habe. Die Türkei machte geltend, dass die Haft bezüglich der Anschuldigung der Verletzung von Art. 309 tStGB am 20. März 2020 beendet worden sei.[20] Zudem sei Kavala am 18. Februar 2020 von den Anschuldigungen der Verletzung von Art. 312 tStGB freigesprochen.[21] Der Umstand, dass sich Kavala jedoch nach wie vor in U-Haft befinde, wird mit einer neuen Anschuldigung erklärt, über deren Rechtmäßigkeit der EGMR zum jetzigen Stand noch nicht entschieden habe: Kavala werde nunmehr vorgeworfen, politische oder militärische Spionage i.S.d. Art. 328 tStGB begangen zu haben. Aufgrund dieser Anschuldigungen sei er seit dem 9. März 2020 in erneuter U-Haft im Gefängnis von Silivri.[22]

Das Ministerkomitee hat trotz dieser Stellungnahme am 02.02.2022 in einer Interim Resolution bei seinem 1432. Treffen der Türkei formal mitgeteilt, den Fall erneut an den EGMR weiterzuleiten, der EGMR erhielt das förmliche Ersuchen des Ministerkomitees am 21. Februar 2022.[23] Dieser muss nun prüfen, ob tatsächlich eine Verletzung von Art. 46 Abs. 1 EMRK gegeben ist. Insbesondere hat der EGMR zu prüfen, ob ein „Austauschen“ der Anschuldigungen ausreicht, um von einer Befolgung des Urteils trotz weiterer U-Haft ausgehen zu können. Es bleibt abzuwarten, ob der EGMR dieser Argumentation der Türkei folgen wird. Eine solche Auslegung birgt das Risiko, andere Staaten zu motivieren, in gleich gelagerten Fällen ebenfalls Haftgründe auszutauschen und so die Person weiterhin in Untersuchungshaft zu halten, ohne gegen Art. 46 Abs. 1 EMRK zu verstoßen. Ein solches Austauschen der Gründe könnte so oft fortgesetzt werden, wie der Staat die jeweilige Untersuchungshaft aufrechterhalten will. Die Folge wäre, dass jedes Mal ein erneutes Individualbeschwerdeverfahren nach Art. 34 EMRK durchgeführt werden müsste, das viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Eine solche Auslegung würde daher dem Sinn und Zweck der Garantien der EMRK widersprechen. Der EGMR wird sie jedenfalls dann nicht befürworten, wenn sich herausstellt, dass auch die neuen Vorwürfe entgegen Art. 18 EMRK missbräuchlich sind.

Sollte der EGMR wegen der Nichtumsetzung des Kavala-Urteils einen Verstoß der Türkei gegen Art. 46 Abs. 1 EMRK feststellen, müsste das Ministerkomitee, an den die Rechtssache dann nach Art. 46 Abs. 5 EMRK zur Prüfung der zu treffenden Maßnahmen zurückverwiesen wird, über weitere Schritte entscheiden.[24]

In der EMRK selbst sind mögliche weiteren Schritte nicht festgeschrieben. Möglichkeiten ergeben sich jedoch aus Art. 8 der Satzung des Europarats: „Jedem Mitglied des Europarates, das sich einer schweren Verletzung der Bestimmungen des Artikels 3 schuldig macht, kann sein Recht auf Vertretung vorläufig entzogen und es kann von dem Ministerkomitee aufgefordert werden, gemäß den in Artikel 7 vorgesehenen Bestimmungen seinen Austritt zu erklären. Kommt es dieser Aufforderung nicht nach, so kann das Komitee beschließen, daß das Mitglied von einem vom Komitee bestimmten Zeitpunkt an dem Rat nicht mehr angehört.“[25]

Es geht mit anderen Worten um die Suspendierung der Vertretungsrechte im Ministerkomitee und in der Parlamentarischen Versammlung[26] und letzten Endes um den Ausschluss aus dem Europarat.

Art. 3 der Satzung des Europarates bestimmt unter anderem, dass jedes Mitglied „den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts“ anerkennt.[27] Würde festgestellt werden, dass die Türkei Art. 46 Abs. 1 EMRK verletzt hat und sie sich weiterhin beharrlich weigert, Kavala aus der Haft zu entlassen, würde sie damit die Verbindlichkeit der Urteile des EGMR missachten. Das könnte man sehr gut als eine Verletzung von Art. 3 der Satzung einstufen, womit die Voraussetzungen des Art. 8 der Satzung des Europarates gegeben wären.

Allerdings hat es einen solchen Ausschluss in der Geschichte des Europarates bisher nicht gegeben. Erwogen wurde ein Ausschluss in den sechziger Jahren gegen Griechenland. Zwar wurden Griechenland schwerste Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, zu einem Ausschlussverfahren kam es jedoch nicht, da Griechenland diesem durch eine Austrittserklärung 1969 zuvorkam (1974 erneutes Beitreten seitens Griechenlands zum Europarat).[28] Momentan steht der Europarat vor der Frage, ob die Russische Föderation wegen ihres Angriffskrieges gegen die Ukraine – ein anderes Mitglied des Europarates – ausgeschlossen werden sollte.

Ankara kritisiert das Verfahren und forderte den Europarat auf, weitere Schritte zu unterlassen, die als „Einmischung in die unabhängige Justiz“ gewertet werden.[29] Die Konventionsstaaten bleiben jedoch dafür verantwortlich, dass ihre Gerichte die sie betreffenden Verpflichtungen aus der EMRK einhalten, einschließlich derjenigen, die sich aus Art. 46 EMRK ergeben.

Es ist aber fraglich, ob das Ministerkomitee wirklich ein Ausschlussverfahren nach Art. 8 der Satzung des Europarates gegen die Türkei einleiten wird. Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines solchen Vorgehens kommen insbesondere dann auf, wenn man es aus Sicht der Menschenrechte betrachtet: Denn nach Art. 58 Abs. 3 EMRK scheidet eine Vertragspartei, deren Mitgliedschaft im Europarat endet, automatisch auch aus der Konvention aus.

Um eine Einhaltung der EMRK durch die Türkei weiter zu gewährleisten, kann es daher nur sinnvoll sein, sie im Europarat zu belassen. Allenfalls wäre eine Suspendierung ihrer Vertretungsrechte als eine Art Warnschuss zu erwägen.

*Miriam Schmitt ist studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und öffentliches Recht von Prof. Dr. Thomas Giegerich, L.LM. und am Europa-Institut.


[1] CM/ResDH(2021)432.

[2] EGMR, Urteil vom 10.12.2019, Case of Kavala v. Turkey, Appl. No. 28749/18.

[3] EGMR, Pressemitteilung v. 23.02.2022, ECHR 057 (2022).

[4] Konsolidierte Fassung der Satzung des Europarates in: Sammlung der Europäischen Verträge – Nr. 1, abrufbar unter: https://rm.coe.int/1680306051 (zuletzt aufgerufen am 8.03.2022).

[5] CM/ResDH(2021)432.

[6] Beck-aktuell, Europarat leitet Vertragsverletzungsverfahren gegen Türkei ein, 03.12.2021, https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/europarat-leitet-vertragsverletzungsverfahren-gegen-tuerkei-ein (zuletzt aufgerufen am 08.03.2022).

[7] EGMR, Urteil vom 29.05.2019, Proceedings under Article 46 § 4 in the case of Ilgar Mammadov v. Azerbaijan, 15172/13, Rn. 115.

[8] Süddeutsche Zeitung, Europarat: Vertragsverletzungsverfahren gegen Türkei, 03.12.2021, https://www.sueddeutsche.de/politik/europarat-europarat-vertragsverletzungsverfahren-gegen-tuerkei-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-211203-99-240111 (zuletzt aufgerufen am 08.03.2022).

[9] EGMR, Urteil vom 22.05.2014, Ilgar Mammadov v. Azerbaijan, Appl. No. 15172/13.

[10] EGMR, Urteil vom 29.05.2019, Proceedings under Article 46 § 4 in the case of Ilgar Mammadov v. Azerbaijan, Appl. No. 15172/13.

[11] CM/Del/Dec(2020)1377bis/H46-3, Rn. 2.

[12] EGMR, Urteil vom 10.12.2019, Case of Kavala v. Turkey, Appl. No. 28749/18, Rn. 159.

[13] EGMR, Urteil vom 10.12.2019, Case of Kavala v. Turkey, Appl. No. 28749/18, Rn. 196.

[14] EGMR, Urteil vom 10.12.2019, Case of Kavala v. Turkey, Appl. No. 28749/18, Rn. 240.

[15] HK-EMRK/Jens Meyer-Ladewig/Kathrin Brunozzi, 4. Aufl. 2017, EMRK Art. 46 Rn. 6.

[16] EGMR, Urteil vom 10.12.2019, Case of Kavala v. Turkey, Appl. No. 28749/18.

[17] Vgl. CM/ResDH(2021)432.

[18] Deutschlandfunk, Der Fall Osman Kavala / Was hinter Erdogans Konfrontationskurs mit dem Westen steckt, 19.01.2022, https://www.deutschlandfunk.de/der-fall-osman-kavala-was-hinter-erdogans-100.html (zuletzt aufgerufen am 07.03.2022).

[19] CM/ResDH(2021)432.

[20] CM/ResDH(2022)21, Appendix Rn. 11.

[21] CM/ResDH(2022)21, Appendix Rn. 10.

[22] CM/ResDH(2022)21, Appendix Rn. 12; EGMR, Pressemitteilung v. 23.02.2022, ECHR 057 (2022).

[23] Interim Resolution CM/ResDH(2022)21; EGMR, Pressemitteilung v. 23.02.2022, ECHR 057 (2022).

[24] Beck-aktuell, Europarat leitet Vertragsverletzungsverfahren gegen Türkei ein, 03.12.2021, https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/europarat-leitet-vertragsverletzungsverfahren-gegen-tuerkei-ein (zuletzt aufgerufen am 08.03.2022).

[25] Konsolidierte Fassung der Satzung des Europarates in: Sammlung der Europäischen Verträge – Nr. 1, abrufbar unter: https://rm.coe.int/1680306051 (zuletzt aufgerufen am 8.03.2022).

[26] Vgl. die Suspendierung der Vertretungsrechte Russlands durch das Ministerkomitee am 25.02.2022 mit sofortiger Wirkung wegen seines bewaffneten Angriffs auf die Ukraine (CM/Del/Dec(2022)1426ter/2.3).

[27] Konsolidierte Fassung der Satzung des Europarates in: Sammlung der Europäischen Verträge – Nr. 1, abrufbar unter: https://rm.coe.int/1680306051 (zuletzt aufgerufen am 8.03.2022).

[28] WD 2-3000-062/18, S. 5 Fn. 4.

[29] Beck-aktuell, Europarat leitet Vertragsverletzungsverfahren gegen Türkei ein, 03.12.2021, https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/europarat-leitet-vertragsverletzungsverfahren-gegen-tuerkei-ein (zuletzt aufgerufen am 07.03.2022).

Suggested Citation: Schmitt, Miriam, Die Türkei und der Europarat – ein sich zuspitzender Konflikt?, jean-monnet-saar 2022, DOI:10.17176/20220309-120328-0.

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