Europawahlreform als unendliche Geschichte

Wir müssen auch dort die Vetomacht einzelner Mitgliedstaaten eliminieren

Ein Beitrag von Univ.-Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M.

Am 16.08.2022 habe ich auf dem Verfassungsblog einen Beitrag unter dem Titel „Die Verflechtungsfalle des Europawahlrechts – Wird der zweite Reformversuch des Europäischen Parlaments Erfolg haben?“ veröffentlicht. Darin gebe ich einen Überblick über die wichtigsten Neuerungen, die das EP in seinem Entwurf gem. Art. 223 Abs. 1 AEUV vom 3.5.2022 vorschlägt: die Regelung des Europawahlrechts durch eine unmittelbar in jedem Mitgliedstaat geltende Verordnung; den zusätzlichen unionsweiten Wahlkreis mit transnationalen Listen zur Wahl von zunächst 28 Europa-Abgeordneten, gekoppelt mit dem Spitzenkandidatensystem; die Sicherstellung der Geschlechterparität in der Repräsentation durch Reißverschlusssystem oder Quoten bei der Aufstellung der Wahllisten; die obligatorische Sperrklausel von 3,5% für große nationale Wahlkreise; den unionsweit einheitlichen Wahltag am Europatag (9.5.) sowie die unabhängige Europäische Wahlbehörde.

Ergänzend sind noch die EP-Vorschläge zum aktiven Wahlrecht und zur Barrierefreiheit interessant. Art. 4 Abs. 1 des VO-Entwurfs (VO-E) regelt das aktive Wahlrecht folgendermaßen: Es steht allen Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern ab 16 Jahren zu, einschließlich Menschen mit Behinderungen, unabhängig von ihrer Geschäftsfähigkeit – allerdings unbeschadet geltender Verfassungsordnungen, die ein Mindestwahlalter von 18 bzw. 17 Jahren vorsehen. In Deutschland gibt es eine verfassungsrechtliche Altersvorgabe von 18 Jahren in Art. 38 Abs. 2 GG nur für Bundestagswahlen; für Europawahlen findet sich eine entsprechende Regelung nur in §6 EuWG, so dass das Wahlalter hierzulande auf 16 abzusenken wäre.

Art. 6 VO-E erlegt den Mitgliedstaaten auf sicherzustellen, dass „alle Unionsbürger, einschließlich derjenigen, die in einem Drittland leben oder arbeiten, die keinen ständigen Wohnsitz haben, derjenigen, die in geschlossenen Einrichtungen leben, derjenigen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind oder derjenigen, die in der Union eine Freiheitsstrafe verbüßen, ihr aktives Wahlrecht ausüben können.“ In Bezug auf Sträflinge lässt Art. 6 Abs. 2 VO-E das nationale Recht oder die danach ergangenen Gerichtsentscheidungen jedoch unberührt. Für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger mit Wohnsitz im Drittausland müsste §6 EuWG jedenfalls angepasst werden.

Art. 7 VO-E verpflichtet die Mitgliedstaaten schließlich, für die Barrierefreiheit der Europawahl zu sorgen, insbesondere in Bezug auf Menschen mit Behinderungen. Hier kämen auf Deutschland Gewährleistungspflichten zu, die ihm regulative und sonstige Bemühungen abverlangten. In den Begründungserwägungen der Legislativen Entschließung des EP, deren Anhang der VO-E darstellt, wird auf Art. 29 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) verwiesen, der die gleichberechtigte, wirksame und umfassende Teilhabe am politischen Leben garantiert, einschließlich des Rechts und der Möglichkeit, zu wählen und gewählt zu werden. Die EU ist neben ihren Mitgliedstaaten gem. Art. 44 BRK eigenständige Vertragspartei. Das BVerfG hat es für richtig gehalten, den Gewährleistungsgehalt von Art. 29 BRK enger zu interpretieren als das zuständige Vertragsgremium, der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Nach der von der Auffassung des Vertragsgremiums abweichenden Meinung des BVerfG steht die BRK behindertenspezifischen Wahlrechtsausschlüssen nicht entgegen, „wenn diese an die Unfähigkeit zur Teilnahme am demokratischen Diskurs und das daraus folgende Unvermögen zu einer selbstbestimmten Wahlentscheidung anknüpfen.“ Das letzte Wort zur Reichweite des Art. 7 VO-E und zu Art. 29 BRK als Bestandteil des Unionsrechts (Art. 216 Abs. 2 AEUV) hätte allerdings der EuGH. Anders als an die Auffassungen des Vertragsgremiums sind dessen Urteile auch für das BVerfG verbindlich.

Wird der Reformversuch des EP Erfolg haben? Art. 223 Abs. 1 AEUV macht die Regelung des Europawahlrechts durch Gesetzgebungsakte fast so schwer wie die Vertragsänderung nach Art. 48 EUV. Neben einen einstimmigen Ratsbeschluss mit Zustimmung des Europäischen Parlaments tritt die Notwendigkeit der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten, so dass jeder Mitgliedstaat zunächst über seine Regierungsvertreterin im Rat und sodann über das in das Ratifikationsverfahren regelmäßig eingebundene nationale Parlament an zwei verschiedenen Stellen über ein Vetorecht verfügt. Diese Verflechtung der Unionsgesetzgebung mit nationalen Entscheidungsprozessen lähmt die Handlungsfähigkeit der EU. Sie hat dazu geführt, dass der 2015 begonnene erste Versuch des EP zur Reform des Europawahlrechts erst 2018 zu einem einstimmigen Ratsbeschluss geführt hat und dieser weiterhin nicht in Kraft ist, weil ihn drei Mitgliedstaaten – darunter Deutschland – immer noch nicht ratifiziert haben. Wenn die mit jetzt 27 und bald mehr als 30 Mitgliedstaaten politisch, wirtschaftlich und sozial breit gefächerte EU nach innen und außen handlungsfähig bleiben will, muss sie die nationalen Vetomöglichkeiten Schritt für Schritt eliminieren. Warum nicht bei Art. 223 Abs. 1 AEUV anfangen, wie es das EP im Kontext seiner zweiten Reforminitiative konkret vorgeschlagen hat?

Print Friendly, PDF & Email