Ein Update zum Brexit

Stellungnahme in der Sitzung des Ausschusses für Europa und Fragen des Interregionalen Parlamentarierrates des Landtags des Saarlandes am 2.5.2019 (Erweiterte Fassung)

02.05.2019

Ein Beitrag von Thomas Giegerich

Die vertragliche Grundlage für den Brexit bildet Art. 50 EUV. Nach dieser Bestimmung beginnt eine zweijährige Frist, sobald ein Mitgliedstaat dem Europäischen Rat seine Absicht mitteilt, aus der Union auszutreten. Dies hat das Vereinigte Königreich am 29.3.2017 getan. Die Einzelheiten des Austritts werden in einem Abkommen festgelegt, das innerhalb dieser Frist zwischen der EU und dem austrittswilligen MS auszuhandeln ist. Seit November 2018 liegt der Entwurf eines umfangreichen Austrittsabkommens zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich vor.[1] Seine Kernpunkte sind folgende:

  1. Für eine Übergangsperiode bis 31.12.2020 soll das EU-Recht im Wesentlichen weiter im VK gelten, das VK aber als Nichtmitgliedstaat nicht mehr in den Organen der EU vertreten sein. Der EuGH behält seine Jurisdiktion auch über das VK. Dieses Arrangement dient der Rechtssicherheit in der schwierigen ersten Übergangsphase.
  2. Erhaltung der Unionsbürgerrechte: Staatsangehörige des VK (ca. 1 Mio.) und der 27 anderen MS (ca. 3 Mio.), die bis spätestens zum Ende der Übergangsperiode von ihren unionsbürgerlichen Freizügigkeitsrechten Gebrauch gemacht haben, sollen ihren bisherigen Rechtsstatus auch danach im Wesentlichen behalten.
  3. Finanzielle Auseinandersetzung: Sie stellt sicher, dass das VK alle seinen finanziellen Verpflichtungen erfüllt, die es während seiner Mitgliedschaft eingegangen ist (zB betr. Pensionszahlungen für EU-Bedienstete). Man hat sich insoweit nicht auf einen bestimmten Betrag geeinigt, sondern auf die Berechnungsmethode.
  4. Die Grenze zwischen Nordirland und Irland: Eine Backstop-Regelung stellt sicher, dass diese Grenze auf keinen Fall eine harte Grenze mit regelmäßigen Grenzkontrollen wird. Dies wäre die normale Konsequenz, wenn das VK aus der Zollunion der EU ausscheidet. Dann wird nämlich die Grenze zwischen Nordirland und Irland zur Zollaußengrenze der EU, an der eigentlich kontrolliert werden muss. Der Backstop soll den mühsam errungenen Frieden in Nordirland durch das Karfreitagsabkommen von 1998[2] sichern, das maßgeblich auf der EU-Mitgliedschaft des VK und Irlands beruht. Die Backstop-Regelung ist eine Art Versicherungspolice für den unwahrscheinlichen Fall, dass es nicht gelingt, bis zum 31.12.2020 eine endgültige Lösung zu finden, die eine Durchsetzung der Zollaußengrenze sicherstellt und trotzdem eine harte Grenze mit regelmäßigen Kontrollen verhindert. In diesem Fall bleibt Nordirland vorübergehend Teil der Zollunion der EU und darüber hinaus insoweit sogar Teil des EU-Binnenmarktes, wie dies erforderlich ist, um Grenzkontrollen an der Grenze zu Irland zu vermeiden (also zB in Bezug auf die Mehrwertsteuer und die Bestimmungen über den Warenverkehr). Diese weitere zeitlich offene Übergangsphase endet, sobald ein dauerhaftes Arrangement vereinbart ist, aber nicht vorher.
  5. Institutionelle Struktur: Ein Gemeinsamer Ausschuss versucht, evtl. Streitigkeiten zwischen der EU und dem VK über die Anwendung des Austrittsabkommens politisch beizulegen. Gelingt dies nicht, kann jede Seite eine verbindliche schiedsgerichtliche Entscheidung beantragen. Dem EuGH verbleibt das letzte Wort, wo es um EU-Recht geht. Sonst wäre das Austrittsabkommen auch mit dem EU-Primärrecht unvereinbar.

Der Entwurf dieses Austrittsabkommens wird vom Entwurf einer gemeinsamen Politischen Erklärung über die zukünftigen Beziehungen zwischen EU und VK begleitet.[3] Darin wird aber nur deren Rahmen in allgemeiner Form skizziert. Die konkreten Regelungen zur Ausfüllung dieses Rahmens müssen bis Ende 2020 in einem weiteren Vertrag festgelegt werden, an dem auf EU-Seite wahrscheinlich auch alle 27 MS als Parteien beteiligt sein werden (sog. gemischtes Abkommen). Folgende Grundlinien dieser zukünftigen Beziehungen werden in der Politischen Erklärung erkennbar: Geteilte gemeinsame Werte im Bereich Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Datenschutz; eine vertiefte wirtschaftliche Partnerschaft bei Waren und Dienstleistungen (einschließlich Finanzdienstleistungen) – aber nicht bei der Personenfreizügigkeit; eine vertiefte Sicherheitspartnerschaft in den Bereichen Kriminalitätsbekämpfung und Verteidigung; schließlich ein gemeinsamer institutioneller Rahmen für das Management der zukünftigen Beziehungen, einschließlich ihrer Fortentwicklung und der Streitbeilegung. Interessant ist, dass die Bindung des VK an die EMRK in der Erklärung ausdrücklich bestätigt wird, ein „second Brexit“ in Bezug auf das Straßburger Menschenrechtsschutzsystem also nicht bevorsteht.

Das Austrittsabkommen wird vom Rat der EU und dem Europäischen Parlament mit großer Mehrheit unterstützt, ist aber im britischen Unterhaus dreimal von einer großen Mehrheit abgelehnt worden. Allerdings hat sich in Westminster auch für keine mögliche Alternative (etwa die Rücknahme der Austrittserklärung) eine Mehrheit gefunden. Interessanter Weise hat eine noch größere Mehrheit der Unterhausabgeordneten gegen die Möglichkeit eines ungeregelten Brexit gestimmt. Ein solcher ungeregelter Brexit würde das Verhältnis EU-VK von einer Sekunde auf die andere auf WTO-Niveau reduzieren und beiden Seiten schaden, ganz besonders aber dem VK. Denn dessen Wirtschaft ist mit derjenigen der 27 anderen MS insgesamt stärker verflochten als die Wirtschaft jedes dieser 27 mit der britischen. M.a.W.: Die große Mehrheit im britischen Unterhaus will keinen ungeregelten Brexit, aber sie schließt bislang auch die einzige realistische Möglichkeit aus, einen solchen zu vermeiden, indem sie das Austrittsabkommen akzeptiert.

Wegen der politischen Blockade im VK ist es bereits zweimal zu einer Verlängerung der eigentlich schon am 29.3.2019 abgelaufenen zweijährigen Verhandlungsfrist gekommen, nach derzeitigem Stand bis längstens zum 31.10.2019.[4] Niemand weiß, ob bis dahin eine Lösung gefunden werden kann, die einen ungeregelten Brexit vermeidet. Da die Regierung May, die von den Konservativen und der nordirischen Democratic Unionist Party getragen wird, im eigenen Lager offenbar keine Mehrheit zugunsten des Austrittsabkommens zustande bringen kann, verhandelt sie seit einigen Wochen mit der Labour-Opposition über einen fraktionsübergreifenden Ansatz. Bisher ist eine Einigung vor allem daran gescheitert, dass Labour sich für einen Verbleib des VK in der Zollunion mit der EU ausspricht, die Regierung May dies jedoch vehement ablehnt.

Inzwischen haben sowohl die EU als auch die MS begonnen, Auffangregelungen für den Fall eines ungeregelten Brexit zu treffen. Z.B. ist der EU-Visakodex ergänzt worden, um zu verhindern, dass die Bürgerinnen und Bürger des VK dann für ihre Einreise in einen EU-Staat von einer Minute auf die andere ein Visum benötigen. Sie werden dann allerdings – wie alle Drittstaatsangehörigen – dem neuen Einreise-Autorisierungsverfahren unterliegen, das die EU von den USA übernommen hat. Zudem werden die MS eine Übergangsregelung einführen, um den innerhalb ihrer Grenzen lebenden Briten die Möglichkeit zu geben, ihren Aufenthaltsstatus zu regularisieren.

Damit die zweite Verlängerung, die ja über den Termin der Europawahl hinaus reicht, das ordnungsgemäße Funktionieren der Union und ihrer Institutionen nicht beeinträchtigt, hat der Europäische Rat der 27 am 10.4.2019 Folgendes betont: Wenn das Vereinigte Königreich zum Zeitraum der Europawahl (23. – 26.5.2019) noch ein Mitgliedstaat der EU sein und das Austrittsabkommen nicht bis zum 22.5.2019 ratifiziert haben sollte, muss es die Europawahl im Einklang mit dem Unionsrecht abhalten. Anderenfalls erfolgt sein (dann ungeregelter) Austritt am 1.6.2019. Diese Regelung begründet einen starken Anreiz für die Brexiteers im Unterhaus, das Austrittsabkommen vor dem 22.5. zu ratifizieren, um sich die Teilnahme an der Europawahl zu ersparen.[5]

Sollte diese Ratifikation aber nicht erfolgen und das VK an der Europawahl teilnehmen, dann werden wie bei der letzten Europawahl unionsweit 751 Europa-Abgeordnete gewählt. Eigentlich sollte deren Zahl in Reaktion auf den Brexit auf 705 reduziert werden; von den derzeit 73 im VK gewählten Abgeordneten sollten 27 zur Bereinigung von Ungereimtheiten im System der degressiven Proportionalität auf andere Mitgliedstaaten verteilt werden, die anderen entfallen (bzw. für zukünftig der EU beitretende „freigehalten“ werden).[6] Diese Reduktion steht aber unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass das VK zu Beginn der Wahlperiode 2019 – 2014 nicht mehr zu den EU-Mitgliedstaaten zählt. Anderenfalls bleibt es solange bei der bisherigen Zusammensetzung des Europäischen Parlaments,[7] bis der Brexit wirksam wird. Die den anderen Mitgliedstaaten zusätzlich gewährten und bereits gewählten 27 Abgeordneten treten ihr Mandat erst in diesem Moment an.[8]

Vier weitere Abschnitte in den Schlussfolgerungen der letzten Tagung des Europäischen Rats der 27 vom 10.4.2019 sind wichtig:

Es wird keine neuen Verhandlungen über das Austrittsabkommen geben, das einen Gesamtkompromiss darstellt, der nicht wieder aufgeschnürt werden kann. Während der Verlängerungsphase werden auch keine Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen eingeleitet. Sollte sich jedoch der Standpunkt des Vereinigten Königreichs, auf dem die Entwürfe des Abkommens und der Politischen Erklärung beruhen, verändern, so ist der Europäische Rat bereit, die Politische Erklärung zu den künftigen Beziehungen zu überprüfen, auch im Hinblick auf den territorialen Geltungsbereich des Rahmens für diese künftigen Beziehungen. Dies lässt die Möglichkeit offen, dass für verschiedene Teile des Vereinigten Königreichs und der EU (insbesondere Nordirland und Irland) Sonderregelungen getroffen werden könnten.

Das VK bleibt während des Verlängerungszeitraums bis längstens 31.10.2019 ein Mitgliedstaat mit allen Rechten und Pflichten und ist berechtigt, sein Austrittsgesuch zu jedem Zeitpunkt zurückzuziehen. Eine solche Rücknahme ist nach der Rechtsprechung des EuGH möglich.[9] Sie muss allerdings im Einklang mit den nationalen verfassungsrechtlichen Vorschriften stehen. Im VK dürfte dies eine parlamentsgesetzliche Ermächtigungsgrundlage voraussetzen. Politische Voraussetzung wäre überdies ein weiteres Referendum mit einer klaren Mehrheit für den Verbleib in der EU. Für die Abhaltung eines solchen zweiten Referendums gibt es bislang keine mehrheitliche Unterstützung im britischen Unterhaus. Unklar ist weiterhin, ob eine klare Mehrheit für ein „remain“ zustande käme.

Das VK hat zusagt, während des Verlängerungszeitraums getreu seiner unionsrechtlichen Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit konstruktiv und verantwortungsvoll zu handeln. In diesem Sinne wird das VK die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen und alle Maßnahmen unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten, insbesondere wenn es an den Beschlussfassungsprozessen der Union mitwirkt. Damit tritt der Europäische Rat der 27 Vorstellungen entgegen, das Vereinigte Königreich könne die EU durch eine Blockadepolitik zu weiteren Zugeständnissen zwingen. Das würde nicht zuletzt daran scheitern, dass in der Endphase der Wahlperiode des gegenwärtigen Europäischen Parlaments und der Amtszeit der Kommission Juncker ohnehin keine großen Entscheidungen mehr anstehen, die der Zustimmung aller Mitgliedstaaten bedürften.

Welche Optionen gibt es für die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und dem VK auf der Grundlage des in der gemeinsamen Politischen Erklärung abgesteckten Rahmens? Man kann überlegen, ein bereits existierendes Modell für enge Beziehungen der EU zu einem Drittstaat zu nutzen: Das EWR-Modell (Island, Liechtenstein, Norwegen); das Modell Schweiz (Bündel miteinander verkoppelter bilateraler Verträge); die Assoziierung der Ukraine; die Zollunion mit der Türkei. Doch alle diese Modelle scheitern an „roten Linien“, die die Regierung von Theresa May gezogen hat. Sie will damit den Brexiteers in ihrer Tory-Fraktion entgegenkommen, ohne dass diese Ausschlüsse politischer Optionen durch das Ergebnis des Austrittsreferendums von 2016 klar vorgegeben wären. Mays „rote Linien“ sind: Keine Gerichtsbarkeit des EuGH; keine Freizügigkeit; keine substantiellen Finanzbeiträge zum EU-Haushalt; regulatorische Autonomie; unabhängige Außenhandelspolitik. Es bleibt daher nur das Modell des Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) mit Kanada,[10] das ggf. zu einem CETA Plus aufgestockt werden könnte. Aber ernsthafte Verhandlungen über das zukünftige Verhältnis wird es erst geben, nachdem der Brexit – geregelt oder ungeregelt – wirksam geworden ist.

[1] 185 Artikel, 3 Protokolle (betr. Irland, die souveränen Militärbasen auf Zypern, Gibraltar) und neun Anhänge (abrufbar unter https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/draft_withdrawal_agreement_0.pdf [2.5.2019]).

[2] Text des Abkommens auf Englisch abrufbar unter https://peacemaker.un.org/sites/peacemaker.un.org/files/IE%20GB_980410_Northern%20Ireland%20Agreement.pdf (2.5.2019).

[3] Abrufbar unter https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/outline_of_the_political_declaration.pdf (2.5.2019).

[4] Auf einer außerordentlichen Tagung des Europäischen Rats am 10.4.2019 haben die EU-27 und das Vereinigte Königreich gemäß Art. 50 Abs. 3 EUV Einvernehmen darüber erzielt, den Zeitraum für die Ratifizierung des Austrittsabkommens ein weiteres Mal höchstens bis zum 31.10.2019 zu verlängern (Beschluss (EU) 2019/584 des Europäischen Rates, im Einvernehmen mit dem Vereinigten Königreich gefasst, vom 11.4.2019 zur Verlängerung der Frist nach Art. 50 Abs. 3 AEUV, ABl. L101 v. 11.4.2019).

[5] Schlussfolgerungen des Europäischen Rates der 27 vom 10.4.2019 abrufbar unter https://data.consilium.europa.eu/doc/document/XT-20015-2019-INIT/de/pdf (2.5.2019).

[6] Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses (EU) 2018/937 des Europäischen Rates vom 28.6.2018 über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments (abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ:L:2018:165I:FULL&from=DE [2.5.2019]).

[7] Diese ergibt sich aus Art. 3 des Beschlusses des Europäischen Rates vom 28.6.2013 über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments (ABl. Nr. L 181/57, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ:L:2013:181:FULL&from=DE [2.5.2019).

[8] Art. 3 Abs. 2 des Beschlusses (EU) 2018/937.

[9] Urteil vom 10.12.2018 (Rs. C-621/18 – Wightman).

[10] Text des noch nicht in Kraft getretenen (aber Großteils bereits vorläufig angewendeten) CETA abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:22017A0114(01)&from=EN (2.5.2019).

Suggested Citation: Giegerich, Thomas, Ein Update zum Brexit, jean-monnet-saar 2019, DOI: 10.17176/20220422-163034-0

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