26 Thesen zu menschenrechtlichen Aspekten von Pushbacks an den Grenzen Europas

Ein Beitrag von Prof. Dr. Dagmar Richter*

Von der bereitwilligen Aufnahme hunderttausender Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine abgesehen, versucht die „Festung Europa“, sich gegen Migration vor allem aus Afrika und Asien möglichst abzuschotten. Dabei schrecken einige EU-Staaten auch vor völker- und unionsrechtswidrigen Push-Backs nicht zurück.

Prof. Dagmar Richter hat die Rechtslage eingehend untersucht und dazu gerade einen Beitrag mit dem Titel „Grenzschliessungen und Push-Backs unter dem Aspekt der Menschenrechte“ veröffentlicht. Erschienen ist er im Tagungsband von Breitenmoser/Uebersax/Hilpold (Hrsg.), Schengen und Dublin in der Praxis – in der EU, in der Schweiz und in einzelnen europäischen Staaten, mit einem Blick auf 70 Jahre Flüchtlingskonvention (Dike Verlag Zürich/St. Gallen 2023), S. 433-495.

Prof. Dagmar Richter kommt dort zu folgenden Ergebnissen:

(1) Der Begriff Push-Back stellt selbst keinen Rechtsbegriff dar, sondern beschreibt einen typisierten Anwendungsfall der Zurückweisung i.S.d. völkerrechtlichen Non-Refoulement-Prinzips.

(2) Grenzschließungen verbietet das Völkerrecht nicht per se; es gibt kein Recht auf offene Grenzen. Allerdings unterliegen auch Grenzschließungen den Grenzen des Völkerrechts. Die Bewertung der menschenrechtlichen Zulässigkeit von Push-Backs an der Grenze hängt davon ab, ob Einreise- oder Bleiberechte bestehen.

(3) Zwar zählt das Recht auf Freizügigkeit in menschenrechtlichen Verträgen zum Katalog der geschützten Rechte. Es umfasst aber nicht das Recht, in einen Staat einzureisen und dort zu verbleiben, dessen Staatsangehörigkeit man nicht besitzt. Obwohl die in Art. 12 Abs. 4 IPbpR gebrauchte Formulierung „in sein eigenes Land einzureisen“ nicht nur Staatsangehörige begünstigt, können sich illegal einreisende Personen nicht auf sie berufen.

(4) Es gibt kein eigentliches Menschenrecht auf Asyl. Doch muss ein um Schutz ersuchter Staat das Recht auf Non-Refoulement beachten, wenn Schutzsuchenden im Falle der Zurückweisung Tod, Misshandlung oder willkürliche Freiheitsentziehung drohen. Relevant sind nicht nur Gefahren im Empfangsstaat selbst, sondern auch die Gefahr der Weiterschiebung in Drittländer (indirektes Refoulement). Der zurückweisende Staat muss sich aktiv vergewissern, ob das Verbot der Misshandlung auch in der Praxis im Empfangsstaat beachtet wird. Wenn jede andere Entscheidung zum Refoulement führen könnte, entsteht nötigenfalls ein Recht auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke und für die Dauer der Abklärung des Schutzersuchens.

(5) Das Recht auf Non-Refoulement nach Art. 33 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und Völkergewohnheitsrecht unterscheidet sich vom menschenrechtlich fundierten Refoulement-Verbot. Auf das menschenrechtliche Verbot der Folter und Misshandlung gestützte Schutzrechte (Art. 3 EMRK, Art. 7 IPbpR, Art. 3 Übereinkommen gegen Folter) sind anders als die Rechte aus Art. 33 GFK nicht einschränkbar. Auch sind die Gründe, die zu einem Verbot der Abweisung und vorübergehender Aufnahme führen können, im menschenrechtlichen Bereich breiter als im Genfer Flüchtlingsrecht. Der EGMR interpretiert zwar die EMRK im Lichte der Genfer Flüchtlingskonvention, ohne damit jedoch weiter reichende Verpflichtungen nach der EMRK auszuschließen.

(6) Art. 3 EMRK verbietet die Zurückweisung, wenn eine Person Gefahr läuft, dadurch Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe ausgesetzt zu werden. Obwohl der EGMR immer eine gewisse Mindestschwere der Misshandlung voraussetzt, hat er verschiedene Formen der drohenden Misshandlung als relevant anerkannt, u.a. auch das Zurückweisen von Flüchtlingen in eine Situation des materiellen Elends in einem menschenunwürdigen Flüchtlingslager. Entscheidend ist, ob das Risiko einer Verletzung des Art. 3 EMRK im konkreten Fall hinreichend real und wahrscheinlich ist.

(7) Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK, Art. 17 IPbpR) verschafft grundsätzlich kein Recht auf Einreise in ein bestimmtes Land. Dennoch kann die Verweigerung der Einreise im Hinblick auf ihre konkreten Umstände Art. 8 EMRK verletzen. Ob ausnahmsweise ein Recht auf Einreise besteht, muss durch Abwägung im Einzelfall ermittelt werden, wobei dem Kindeswohl besonderes Gewicht zukommt. Es besteht ein Recht auf zügige Durchführung des Asylverfahrens mit dem Ziel, die Situation der Ungewissheit im Hinblick auf den Schutz der Familie so kurz wie möglich zu halten.

(8) Aus dem Recht auf Schutz der physischen und psychischen Integrität (Art. 8 EMRK) folgt nur dann ein Zurückweisungsverbot, wenn eine drohende Gefahr für die Gesundheit die Dimension der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK erreicht. Dafür genügt eine bloße Verschlechterung des Gesundheitszustands nicht. Eine mangelnde Abklärung von Gesundheitsgefahren kann jedoch gegen Art. 13 i.V.m. Art. 8 EMRK verstoßen.

(9) Das Risiko, einem unfairen Verfahren (Art. 6 EMRK) oder einer willkürlichen Freiheitsentziehung (Art. 5 EMRK) ausgesetzt zu werden, kann nach der Rechtsprechung des EGMR ein Refoulement-Verbot nur dann auslösen, wenn eine „flagrante“ Verletzung droht. Mit diesem strengen Maßstab kann die Reichweite des menschenrechtlichen Non-Refoulement bei Freiheitsbedrohungen hinter den Standard des Art. 33 Abs. 1 GFK zurückfallen.

(10) Das flüchtlingsrechtliche Verbot des Refoulement (Art. 33 Abs. 1 GFK) enthält nach heutigem Verständnis ein Recht auf Einreise und zum vorübergehenden Aufenthalt zum Zwecke der Klärung der Schutzbedürftigkeit, wenn eine Refoulement-Gefahr nicht anders ausgeschlossen werden kann. Durch die Pflicht zur Identifizierung Schutzbedürftiger kann sich indirekt ein Recht auf Zugang zu einem fairen und effektiven Asylverfahren ergeben.

(11) Der prozessuale Aspekt des Art. 3 EMRK verlangt die Gewährleistung eines Verfahrens, das zur Abwendung von Refoulement-Gefahren führen kann. Das umschließt auch das Recht, nicht vor Abschluss einer unabhängigen und ordnungsgemäßen Prüfung des Schutzbegehrens zurückgewiesen zu werden. Aus Art. 3 EMRK kann dem entsprechend ein Recht auf Einreise zum Zwecke der Durchführung einer solchen Prüfung folgen. Die schutzsuchende Person muss ihr Asylbegehren unverzüglich unterbreiten und substanzielle Gründe für ein „wirkliches und konkretes Risiko“ einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung angeben.

(12) Die Pflichten des Staates können danach variieren, ob eine schutzsuchende Person in ihr Heimatland oder einen Drittstaat zurückgewiesen werden soll. Der EGMR akzeptiert, dass ein Staat im Rahmen einer Sicheren-Drittstaat-Regelung keine inhaltliche Prüfung des eigentlichen Asylbegehrens vornimmt. Er muss sich aber davon überzeugen, dass hinreichender Schutz im Drittstaat tatsächlich zu erwarten ist. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen EU-Staaten enthebt von dieser Verpflichtung nicht.

(13) Aus dem Recht auf wirksame Beschwerde können im Zusammenhang mit Refoulement-Gefahren (Art. 13 i.V.m. Art. 2, 3 und 8 EMRK sowie Art. 4 ZP IV) prozessuale Anforderungen erwachsen, die über die prozessualen Garantien aus Art. 2 und 3 EMRK hinausreichen. Können Schutzsuchende glaubhaft machen, dass im Falle ihrer Zurückweisung schwerwiegende Konventionsverletzungen drohen, verlangt eine wirksame Beschwerde eine strenge und unabhängige Untersuchung, eine zügige Behandlung der Beschwerde, die Bereitstellung notwendiger Informationen einschließlich rechtlicher Beratung und Übersetzung sowie eine effektive Möglichkeit, den Vollzug einer Zurückweisungsverfügung zu suspendieren. Drohen irreversible Schäden infolge von Misshandlung (Art. 3 EMRK) oder Tötung (Art. 2 EMRK), erfordert Art. 13 EMRK darüber hinaus einen automatisch aufschiebenden Rechtsschutz.

(14) Art. 4 ZP IV (Verbot der Kollektivausweisung) gebietet, dass jede schutzsuchende Person eine „echte und effektive Möglichkeit“ hat, Argumente gegen ihre Ausweisung vorzubringen und dass diese in angemessener Weise gewürdigt werden. Der Begriff „Ausweisung“ umfasst dabei alle einem Staat zurechenbare Akte, durch die ausländische Personen ohne Einzelfallprüfung pauschal als Gruppe gezwungen werden, einen Ort zu verlassen. Der Schutz entfällt nicht schon deshalb, weil der Grenzübertritt illegal erfolgte (vgl. aber Ziff. 15). Soweit Europaratsstaaten wie z.B. die Schweiz das 4. Zusatzprotokoll zur EMRK nicht ratifiziert haben, ergeben sich entsprechende Verpflichtungen aus den prozeduralen Anforderungen des Art. 3 EMRK bzw. Art. 13 i.V.m. Art. 3 EMRK.

(15) Eine Verletzung des Verbots der Kollektivausweisung liegt nicht vor, wenn das Entfallen einer Einzelfallprüfung auf eigenes Fehlverhalten der schutzsuchenden Person zurückzuführen ist. Dringen Personen im Rahmen eines Massenansturms in das Gebiet eines Staates ein, obwohl reguläre Grenzübergangsstellen verfügbar und zugänglich sind, können sie ohne jede Prüfung zurückgeschoben werden. Weil die Rechte aus Art. 3 EMRK davon aber unberührt bleiben, ergibt sich eine Pflicht zur Einzelfallprüfung in den meisten Fällen aus den prozeduralen Aspekten dieser Bestimmung.

(16) Ob sich ein bestimmter Staat mit einem Schutzantrag beschäftigen und gegebenenfalls Schutz gewähren muss, hängt von seiner Verantwortlichkeit (Art. 1 EMRK; Art. 2 Abs. 1 IPbpR) ab. Primär greift die territoriale Verantwortlichkeit für die Ausübung von Hoheitsrechten auf dem Staatsgebiet einschließlich des Küstenmeeres, nur ausnahmsweise werden extra-territoriale Sachverhalte erfasst.

(17) „Heiße Zurückweisungen“, bei denen der um Schutz ersuchte Staat seine Grenze schließt und keinerlei Verfahren zur Klärung der Situation eröffnet, verstoßen sowohl gegen Art. 33 GFK als auch gegen die Menschenrechte. Bestreitet er jeden Kontakt mit Schutzsuchenden, kann eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast u.U. zur Annahme einer unzulässigen Kollektivausweisung führen. Auf dem eigenen Staatsgebiet trifft den Staat ohne Weiteres die Pflicht zur Abklärung von Refoulement-Gefahren.

Erklärt ein Staat bestimmte Teile seines Gebiets für „extra-territorial“, enthebt dies nicht von der menschenrechtlichen Verantwortlichkeit. Grenzübergangsstellen liegen regelmäßig auf staatlichem Territorium. Betreiben Bedienstete eines Staates einen bestimmten Kontrollpunkt an der Grenze nach ihrem jeweiligen Recht, entsteht eine Vermutung für die Ausübung hoheitlicher Gewalt, die Verantwortlichkeit begründet. Auch schon vor der eigentlichen Grenze kann das Refoulement-Verbot eingreifen, wenn Personen erkennbar um Schutz ersuchen. Mit Kontrollvorgängen an der Grenze von wenigen Minuten Dauer und dem Erlass von Zurückweisungsentscheidungen innerhalb weniger Stunden kann ein Staat seiner Schutzverantwortung nicht gerecht werden.

(18) Werden Schutzsuchende auf eingezäuntem Gelände, in Gebäuden oder auf Schiffen festgehalten, müssen die Anforderungen an eine Inhaftierung erfüllt sein. Die Mindestanforderungen des Art. 31 Abs. 2 GFK werden insoweit durch die Menschenrechte (z.B. Art. 5 EGMR) und Regelungen des Rechts der Europäischen Union ergänzt. Die Inhaftierung von Schutzsuchenden kommt nur als letztmögliches Mittel in Betracht, wenn Gefahren für die öffentliche Sicherheit durch „Untertauchen“ nicht anders abzuwehren sind. Die Gefahr muss dabei von der einzelnen Person ausgehen. Eine generelle Inhaftierung aller ankommenden Schutzsuchenden aus Gründen der Verwaltungsökonomie und leichterer Kontrollierbarkeit ist selbst im Falle des massiven Zustroms unzulässig.

(19) Bei Flughafenregelungen, bei denen schutzsuchende Personen auf einem vermeintlich „extra-territorialen Gelände“ des Flughafens festgehalten werden, kann die Verantwortlichkeit des Flughafenstaates vermutet werden (Ziff. 17). Da sie nach ständiger Rechtsprechung des EGMR zur Freiheitsentziehung führen, müssen die Anforderungen an eine Inhaftierung (Art. 5 EMRK) beachtet werden. Mit heutigen Standards sind Flughafenregelungen nur noch bedingt vereinbar, weil eine generelle Inhaftierung von Schutzsuchenden unzulässig ist.

(20) Beim Aufenthalt in umzäunten Transitzonen geht der EGMR von einer „effektiven Kontrolle“ des Staates über die Schutzsuchenden aus, ohne zwischen territorialer oder extra-territorialer Verantwortlichkeit zu unterscheiden. Damit werden die Maßstäbe für die Begründung extra-territorialer Verantwortlichkeit im Zweifel auch auf territoriale Situationen erstreckt. Art. 3 EMRK kann im Hinblick auf menschenunwürdige oder nicht kindgerechte Zustände im Lager relevant werden, aber auch im Hinblick auf direkte oder indirekte Refoulement-Risiken. Der Transitlagerstaat muss sich vergewissern, dass Schutzsuchende vor der Rückschiebung in den vorgelagerten Staat eine ordnungsgemäße Prüfung erhalten. Pauschale Annahmen („Wirtschaftsflüchtlinge“ oder Ankunft aus sicherem Drittland) entheben davon nicht.

Anderes gilt in Bezug auf das Recht auf Freiheit: Selbst wenn ein Risiko des indirekten Refoulement besteht, geht der EGMR von einer „nicht rein theoretischen“ Rückkehrmöglichkeit aus, so dass der Schutz des Art. 5 EMRK entfällt. Damit können Schutzsuchende, die von einem Flughafen aus nur noch in den Verfolgerstaat zurückfliegen können, von den Garantien des Art. 5 EMRK profitieren (Ziff. 19), Schutzsuchende, die in einen Drittstaat ausweichen können, jedoch nicht. Als Regel gilt, dass der freiwillige Eintritt in ein Transitlager keine Freiheitsentziehung begründet, sofern das Verlassen in mindestens eine Richtung möglich bleibt. Dabei hält es der EGMR anders als der EuGH für irrelevant, ob der einzig verbleibende Weg aus einem Transitlager illegal oder unzumutbar ist. Die jüngste Kammer-Rechtsprechung des EGMR in R.R. u.a. (2021) kompensiert die entstehende Schutzlücke bedingt, indem sie eine Freiheitsentziehung ausnahmsweise anerkennt, wenn der um Schutz ersuchte Staat keine hinreichenden Vorkehrungen trifft, um die Dauer des Aufenthalts in Transitlagern während der Klärung der Schutzbedürftigkeit zu limitieren und keine anfechtbaren Entscheidungen im Einzelfall trifft.

Die vom EGMR vertretene Intensitätshypothese, wonach die Intensität der Einwirkung die bloße Freizügigkeitsbeschränkung in eine Freiheitsentziehung umschlagen lässt, ist allerdings aus logischen, systematischen und teleologischen Gründen nicht haltbar. Im Ergebnis bewirkt das System der Transitzonen eine Modifikation des grundsätzlichen Rechts auf Einreise zum Zwecke der Prüfung der Schutzbedürftigkeit in Situationen großer Flüchtlingsströme und reduziert die Reichweite des Rechts auf Freiheit. Da der EuGH den Begriff der Freiheitsentziehung jedoch weiter fasst, erfüllt er im Anwendungsbereich der europäischen Verträge eine menschenrechtliche Reservefunktion.

(21) Ob Schutzsuchende ein Recht haben, auf Schiffen über die Territorialgewässer eines Staates in einen bestimmten Hafen einzureisen bzw. Staaten ihre Seegrenze schließen können, entscheidet sich sowohl nach seerechtlichen Grundsätzen als auch nach menschenrechtlichen Verpflichtungen und Regeln des internationalen Flüchtlingsschutzes. Dabei kommt Schutzsuchenden zwar wie allen anderen Schiffbrüchigen die Pflicht zur Seenotrettung zugute. Das Recht der Küstenstaaten, die Einreise in ihre Häfen zu regulieren, ist aber nur durch das sog. Nothafenrecht beschränkt. Nach Seerecht besteht auch kein automatisches Recht auf Ausschiffung, sondern nur die Pflicht, Gerettete innerhalb angemessener Zeit an einen sicheren Ort zu bringen, ohne dass jedoch klare Kriterien die Identifizierung dieses Ortes erlauben.

(22) Bei Schutzsuchenden auf See gelten jedoch auch die Verpflichtungen aus dem Non-Refoulement-Prinzip gemäß GFK und EMRK, sofern ein Staat verantwortlich wird. Die Verantwortlichkeit (Art. 1 EMRK) trifft nicht automatisch nur die Flaggenstaaten, da Schiffe keine schwimmenden Territorien dieser Staaten sind. Im Küstenmeer übt der jeweilige Küstenstaat nahezu unbeschränkte Gebietshoheit aus. Er darf zwar nach Seerecht ein Schiff als Sicherheitsrisiko ansehen und dessen Recht auf friedliche Durchfahrt beschränken, wenn es Personen illegal an Land abzusetzen versucht. Auch kann aufgrund der Verordnung (EU) 656/2014 die Kursänderung eines Schiffes zur Verhinderung illegaler Schleusung erzwungen werden. Das schließt jedoch die Schutzverantwortlichkeit nach EMRK und GFK nicht aus. Sobald Schutzsuchende per Boot in das Küstenmeer einfahren, können sie Schutzansprüche an den Küstenstaat richten. Ohne Prüfung der Schutzbedürftigkeit kann die Illegalität der Einreise nicht begründet werden. Grenzschließungen in Form der Verhinderung der Einfahrt in das Küstenmeer verletzen die Menschenrechte in gleicher Weise wie die „heiße“ Zurückschiebung an Landgrenzen.

Durch aktives Blockieren der Einfahrt in das Küstenmeer wird „effektive Kontrolle“ ausgeübt und Verantwortlichkeit i.S.v. Art. 1 EMRK auch außerhalb des Küstenmeeres begründet. Das ungeprüfte Abdrängen von Handelsschiffen, die Schutzsuchende im Rahmen einer Seenotrettung an Bord genommen haben und im nächstgelegenen Küstenstaat absetzen wollen, verletzt Art. 3 EMRK und gegebenenfalls Art. 4 ZP IV. Bei fremden staatlichen Schiffen mit Schutzsuchenden kommt u.U. eine Verantwortlichkeit des Flaggenstaates in Betracht: Hat er die Schutzsuchenden erst im Küstenmeer eines anderen Staates aufgenommen, kommt der Verantwortlichkeit des Küstenstaates Vorrang gegenüber derjenigen des Flaggenstaates zu; fährt das Staatsschiff erst nach der Rettungsaktion in das Küstengewässer ein, gilt dies nur, wenn den Schutzsuchenden gerade vom Flaggenstaat Gefahr droht oder eine zügige Ausschiffung im nächstgelegenen Küstenstaat aus humanitären Gründen erforderlich ist.

(23) Gerettete sind an einem sicheren Ort abzusetzen. Dabei sollte es sich um den nächsten planmäßigen Anlaufhafen (port of call) handeln. Verbindliche Regeln zum Ort der Ausschiffung bestehen aber nur für Frontex-Schiffe. Bei Flüchtlingssuchschiffen fehlt es i.d.R. schon an einem „port of call“. Ob allein dieser Umstand spezielle Bewertungen erfordert, ist umstritten. Es kann aber auch aus menschenrechtlichen Garantien ein Notausschiffungsrecht folgen. Im Übrigen spricht einiges dafür, dass derjenige Staat, den die primäre Verantwortlichkeit für die Prüfung von Schutzgesuchen i.S.v. Art. 1 EMRK trifft (Ziff. 22), die Schutzsuchenden nötigenfalls auch an Land lassen muss. Nach Auffassung des EGMR ist ein verantwortlicher Küstenstaat aber nicht generell verpflichtet, schutzsuchende Schiffbrüchige an Land zu lassen; er muss lediglich die Versorgung der Menschen an Bord mit dem Nötigsten sicherstellen, Minderjährigen Rechtshilfe und Betreuung leisten und gegebenenfalls den Gerichtshof regelmäßig über die Situation informieren. Nicht ausgeschlossen ist, dass die Ausschiffung aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls menschenrechtlich geboten sein kann.

(24) Außerhalb des Küstenmeeres begründet das Flaggenprinzip allein noch keine extra-territoriale Verantwortlichkeit für Schutzsuchende, sondern nur dann, wenn ein Staat auf einem Schiff auch „effektive Kontrolle“ über sie ausübt. Das ist bei staatlichen Schiffen in der Regel der Fall. Bei privaten Schiffen wird der jeweilige Flaggenstaat nur verantwortlich, wenn er es an der erforderlichen Aufsicht fehlen lässt oder ihm privates Handeln zugerechnet werden kann. Ob die Flaggenstaaten ihren Handelsschiffen nicht nur die Pflicht zur Seenotrettung, sondern auch zur Abwehr von Refoulement-Gefahren auferlegen müssen, ist umstritten. Während der Menschenrechtsausschuss schon festgestellt hat, dass die Koordinationszuständigkeit nach dem SAR-Abkommen für eine bestimmte Rettungszone bzw. eine „spezielle Abhängigkeitsbeziehung“ zwischen Schiffbrüchigen und zur Rettung befähigtem Staat für die Ausübung „effektiver Kontrolle“ genügt, ist ein Verfahren zur selben Problematik beim EGMR noch anhängig. Das effective control-Kriterium könnte sich dabei auch im Bereich der EMRK an die Besonderheiten einer seerechtlich fundierten Schutzpflicht anpassen und insoweit einen funktionalen Zusammenhang genügen lassen.

(25) Eine Kernfrage des internationalen Flüchtlingsrechts lautet, ob Schutzsuchende tatsächlich erst bis an die Grenzen eines möglichen Schutzstaates gelangen müssen oder ob sie nicht einfach in der Auslandsvertretung eines sicheren Staates ihren Antrag auf Schutz oder Visa-Erteilung zum Zwecke der Durchführung eines Asylverfahrens stellen könnten. Nach Auffassung des EGMR fehlt es in solchen Fällen aber schon an der Anwendbarkeit der EMRK, weil die bloße Einleitung eines Verfahrens nicht genüge, um Hoheitsgewalt i.S.d. Art. 1 EMRK zu begründen. Jede andere Entscheidung hätte eine unbegrenzte Verpflichtung der Konventionsstaaten zur Gestattung der Einreise zur Folge. In vergleichbarer Weise verneint auch der EuGH ein Recht auf Erteilung eines humanitären Visums zum Zwecke der Betreibung eines Asylverfahrens.

Völlig überzeugen kann diese Rechtsprechung aber nicht, weil sich der befürchtete Ansturm auf die Auslandsvertretungen bestimmter Staaten letztlich nicht vom „Massenzustrom“ von Flüchtlingen an den Grenzen bestimmter europäischer Staaten unterscheidet. Entscheidend erscheint stattdessen, ob nach den allgemeinen Grundsätzen der Verantwortlichkeit eine exklusive Schutzbeziehung zwischen der schutzsuchenden Person und dem ersuchten Staat besteht. Die Aussicht auf eine lebensgefährliche Flucht bis vor die Grenzen des Schutzstaates reduziert jedenfalls den Kreis der Schutzsuchenden und so das Ausmaß der Prüfungs- und folgender Schutzpflichten. Diesem unausgesprochenen Ziel dient der völlige Ausschluss jeder Möglichkeit, Schutzanträge von außerhalb des potenziellen Schutzstaates zu stellen, in erster Linie.

(26) Das Problem der Massenmigration erlaubt Modifizierungen, kann aber nicht durch eine bereichsspezifische Relativierung der Menschenrechte gelöst werden.


Alle Informationen zu Prof. Dr. Dagmar Richter finden Sie hier.

Suggested Citation: Richter, Dagmar, 26 Thesen zu menschenrechtlichen Aspekten von Pushbacks an den Grenzen Europas, jean-monnet-saar 2022, DOI: 10.17176/20221219-131734-0