24.04.2020
Ein Beitrag von Annika Blaschke*
A. Einleitung
Kein anderes Thema hat es in den vergangenen Monaten geschafft, einen Großteil der Berichterstattung über den Klimawandel oder etwa nationalistische Strömungen in der Gesellschaft derart schnell zum Verstummen zu bringen; gemeint ist die derzeit wütende Corona-Pandemie. Nationale wie internationale Politik sehen sich einer Krise gegenüber, deren Bewältigung sie vor immer neue Herausforderungen stellt und Schwächen föderalistischer, aber auch zentralistischer Staatsordnungen aufzeigt. Die Schwächen einer föderalistischen Gesetzgebung zeigt sich in Deutschland insbesondere bei der Ausgestaltung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG). Um die Ausbreitung des Covid-19-Virus in Deutschland schnell und effektiv eindämmen zu können, nahm Gesundheitsminister Jens Spahn eine womöglich lang überfällige Reform des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in Angriff.[1]
B. Hitzige Debatten in der Politik
Der Gesetzentwurf des Gesundheitsministeriums sieht umfangreiche Änderungen, besonders in Bezug auf die zukünftige Kompetenzverteilung vor. So ist es in Zukunft der Bundestag, welcher „eine epidemische Notlage nationaler Tragweite“ feststellt (§ 5 Abs. 1 S. 1 IfSG).[2] Die vorherige Fassung des § 5 sah lediglich vor, dass die Bundesregierung durch eine allgemeine Verwaltungsvorschrift mit Zustimmung des Bundesrates einen Plan zur gegenseitigen Information von Bund und Ländern oder deren Zusammenarbeit erstellt. Eine weitere Kompetenzverlagerung sieht auch die Neufassung des § 5 Abs. 2 IfSG vor: Ohne Zustimmung des Bundesrates ist nun allein das Bundesgesundheitsministerium ermächtigt, durch Rechtsverordnung oder Anordnung Maßnahmen unter anderem zur Grundversorgung mit Arzneimitteln oder Stärkung der personellen Ressourcen des Gesundheitswesens zu treffen.
Die bei weitem umstrittenste Forderung Spahns, auf die kontroverse Debatten in Politik und Gesellschaft folgten, war der Ruf nach einer flächenübergreifenden Auswertung von Standortdaten bereits Erkrankter zur Ermittlung ihrer Kontaktpersonen. Ein früherer, letztlich nicht ins Gesetzgebungsverfahren eingebrachter, Entwurf des Bundesgesundheitsministerium sah nach seriösen Medienberichten[3] folgendes vor: die Bundesregierung wollte Telekommunikationsanbieter gesetzlich verpflichten, Verkehrsdaten zur Standortermittlung eines Mobilfunkgerätes an zuständige Behörden herauszugeben. „Die zuständige Behörde darf zu diesem Zweck personenbezogene Daten verarbeiten.“[4]
In eine ähnliche Richtung arbeitete das Robert-Koch-Institut (RKI) bereits seit Anfang März 2020, um so Gesundheitsämter in ihrer Arbeit unterstützen zu können.[5] Die breite Mehrheit der Politiker begegnete dem Schnellschuss Spahns jedoch eher kritisch. So wurde Spahn von FDP-Fraktionsvize Thomae vorgeworfen, mit den Bürgerrechten doch sehr „hemdsärmelig“[6] umzugehen. Kritik wurde auch an der angeblich mangelnden Zweckbindung sowie dem verfassungsrechtlich gebotenen[7] und hier anscheinend missachteten Richtervorbehalt geübt.[8] Bei den zu erfassenden Informationen handele es sich schließlich um „hochsensible Daten, die über unser privates und gesellschaftliches Leben genauen Einblick geben“.[9]
Der Gegenwind, den das Vorhaben durch unterschiedlichste Stimmen der Politik erhielt, sorgte letztendlich auch bei RKI-Präsident Wieler für ein Umdenken, so dass dieser nunmehr davor warnte, unbedarft in eine Richtung vorzupreschen, und dazu aufrief, auch ethische Beweggründe in die Debatte miteinfließen zu lassen.[10] Bislang nutzt das RKI Bewegungsdaten der Telekom.[11] Dabei handelt es sich aber um anonymisierte und aggregierte und damit eben nicht um individualisierbare Daten. Diese bisher genutzte Methode hält daher auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Kelber für mit dem geltenden Datenschutzrecht vereinbar.[12] Spahns Vorhaben wiederum kritisiert er scharf und betont, dass sämtliche Maßnahmen der Datenverarbeitung „erforderlich, geeignet und verhältnismäßig“ sein müssten.[13] Kelber zufolge fehlt jeder Nachweis, dass die individuellen Standortdaten einen Beitrag leisten könnten, Kontaktpersonen zu ermitteln.[14] Die Daten seien dafür zu ungenau.[15]
Nach der expliziten Gegenwehr durch vielfache Stimmen sah sich Spahn gezwungen sein Vorhaben zunächst auf Eis zu legen.[16] Da eine Kontaktnachverfolgung „per Hand“ zu aufwendig sei, um die Ausbreitung des Corona-Virus effektiv einzudämmen, ging der Bundesgesundheitsminister aber davon aus, dass wir auf Dauer nicht ohne eine elektronische Kontaktnachverfolgung auskommen.[17] Er räumte jedoch ein, dass ein Schnellverfahren verhindere, sämtliche Perspektiven und Meinungen anzuhören, die für einen solch gravierenden Eingriff in die Grundrechte notwendig seien.[18] Erfolgsversprechend, so Spahn, da datenschutzkonform und gleichzeitig effektiv, was die Kontaktverfolgung angehe, sei eine entsprechende Anti-Coronavirus-App. Durch das freiwillige Herunterladen der App werde der Datennutzung zugestimmt.
C. Rechtliche Einordnung
Auch wenn die nicht anonymisierte Handy-Ortung ohne freiwilliges Herunterladen einer App wohl für die nächsten Wochen von der Politik hintenangestellt wurde, stellt sich doch die Frage, ob eine solche Maßnahme überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar wäre. Folglich soll also geprüft werden, ob die erste Forderung Spahns (Verpflichtung der Telekommunikationsdienstleister auf Herausgabe von Standortdaten) den Anforderungen der deutschen Verfassung genügen würde. Maßgeblich für die Beantwortung dieser Frage ist der Konflikt zwischen zwei zentralen Grundrechten – dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.[19]
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erlaubt es uns, die Kontrolle über unsere Daten zu behalten und selbst über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten zu bestimmen.[20] Standortdaten von Mobiltelefonen gehören zu den personenbezogenen Daten[21], so dass der Schutzbereich des Grundrechts eröffnet ist. Nach dem modernen Eingriffsbegriff liegt in der Datenverarbeitung, genauer gesagt in der Erhebung, Speicherung und Übermittlung an die Gesundheitsämter, ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff. Notwendig wäre daher entweder die Zustimmung der Betroffenen oder aber aufgrund der entsprechenden Heranziehung der Schranken aus Art. 2 Abs. 1 GG eine gesetzliche Grundlage.[22]
Die Anforderungen an Normenklarheit, den Bestimmtheitsgrundsatz sowie das Verhältnismäßigkeitsprinzip richten sich danach, ob es sich um eine Datenerhebung in individualisierter oder anonymisierter Form handelt.[23] Bei der Erhebung individualisierter oder individualisierbarer Daten sind die Rechtfertigungsanforderungen besonders streng.[24]
Dem Gesetzesentwurf des Bundesgesundheitsministers zufolge sollten zum Zwecke der Nachverfolgung von Kontaktpersonen technische Mittel eingesetzt werden dürfen, um Kontaktpersonen von erkrankten Personen zu ermitteln, sofern aufgrund epidemiologischer Erkenntnisse gesichert ist, dass dies zum Schutz der Bevölkerung vor einer Gefährdung durch schwerwiegende übertragbare Krankheiten erforderlich ist.[25] Erforderlichkeit und Zweck der Maßnahme sollten von der zuständigen Behörde dokumentiert, und die ermittelte Kontaktperson sollte informiert werden.[26] Zu diesem Zweck sollte die Behörde personenbezogene Maßnahmen verarbeiten dürfen.[27] Fraglich ist, ob der Gesetzesentwurf mit den erhöhten Anforderungen an die Zweckgebundenheit und Normenklarheit vereinbar ist. Deutlich ist dem Wortlaut des Entwurfs zu entnehmen, dass die Daten nur zum oben genannten Zweck erhoben werden dürfen und dies streng zu dokumentieren ist.[28] Der Behörde wird durch die Auferlegung von Dokumentations- und Löschungspflichten ein Verhalten vorgegeben, an dem sie sich orientieren muss. Inwieweit die „technischen Mittel“ eingesetzt werden und wann dies zum Schutz der Bevölkerung „erforderlich“ ist, eröffnet dennoch einen Auslegungsspielraum.
Weiterhin erscheint problematisch, ob durch diesen einschneidenden Eingriff das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt ist. Legitimer Zweck ist die öffentliche Gesundheit. Die Standortermittlung einzelner Bürger hilft dabei, Kontaktpersonen nachzuverfolgen und damit auch mögliche Infektionsketten zu unterbinden. Das Mittel der individualisierten Datenerhebung ist mithin geeignet und auch erforderlich, da bisherige Maßnahmen nach Aussagen von RKI-Präsident Wieler oft nur auf 500 Meter genau sind und sich damit keine einzelnen Ansteckungswege nachverfolgen lassen.[29] Weiterhin kann eine solche Handy-Ortung als Möglichkeit angesehen werden, um andere Grundrechtseingriffe, wie das Recht auf Freizügigkeit oder die Allgemeine Handlungsfreiheit, weniger stark beschneiden zu müssen. In Anbetracht der Gesamtheit aller Eingriffsstärken und der damit verbundenen Zahl von Grundrechtseinschränkungen, wäre eine solche Maßnahme das mildere Mittel. Die Auferlegung oder Aufrechterhaltung einer allgemeinen Ausgangssperre, wodurch es mit Sicherheit gelingen würde, den Anstieg der Infektionszahlen auf ein Minimum zu reduzieren, wäre wesentlich einschneidender.
Schwieriger wird es bei der Frage der Angemessenheit. Grundsätzlich stellt sich hier die Frage, ob ein solcher Zugriff auf das Nutzerverhalten und damit Eingriff in das Privatleben des Einzelnen im Hinblick auf die Sphärentheorie überhaupt zumutbar ist. Es stellt sich die schwierige Frage, ob Bewegungsabläufe der Menschen der Intimsphäre, der Privatsphäre oder der Sozialsphäre zuzuordnen sind. Von der Intimsphäre umfasst ist die eigene Gedanken- und Gefühlswelt, also Sachverhalte, denen es am Sozialbezug fehlt. Die Intimsphäre als Kernbereich privater Lebensgestaltung ist nach der Rechtsprechung des BVerfG unantastbar.[30] Aufgrund dieser restriktiven Auslegung werden nur wenige Verhaltensweisen von der Rechtsprechung dem Kernbereich der privaten Lebensgestaltung zugeordnet. In den allermeisten Fällen entsteht durch das Verlassen der Wohnung eine soziale Interaktion, weshalb die entsprechenden Handlungen und deren Folgen nicht mehr im alleinigen Kontrollbereich der Einzelperson liegen, sondern Auswirkungen auf die Gemeinschaft, hier speziell auf deren Gesundheit, haben. Da folglich ein Sozialbezug gegeben ist, unterfallen die Bewegungsabläufe des Einzelnen zumindest außerhalb der Wohnung der Privatsphäre. Eingriffe sind damit auch nach der Sphärentheorie grundsätzlich möglich, lassen sich jedoch nur unter besonders strengen Vorgaben an die Verhältnismäßigkeit, insbesondere nur aus überwiegenden Gründen des Gemeinwohls rechtfertigen.[31]
Hier spielt nun die eingangs erwähnte direkte Konfliktstellung zweier essentieller Grundrechte eine große Rolle: das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Einzelperson gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ihrer Mitmenschen. Die Grundrechtsträgerin oder der Grundrechtsträger muss nur dann Einschränkungen ihres/seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung hinnehmen, wenn das Allgemeininteresse überwiegt.[32] Das VG Saarlouis hat erst kürzlich im Rahmen eines Eilantrages entschieden, dass die im Saarland geltende Allgemeinverfügung voraussichtlich rechtmäßig und insbesondere nicht unverhältnismäßig sei: „Im Rahmen einer Folgenabwägung habe das private Interesse des Antragstellers hinter dem öffentlichen Interesse an einem wirksamen Gesundheitsschutz der Bevölkerung des Saarlandes zurückzutreten.“[33] In diesem Fall wurde bereits entschieden, dass in der aktuellen Situation einer neuartigen und leicht übertragbaren Infektionskrankheit die Verlangsamung der Ausbreitung oberste Priorität habe. Ähnlich entschied auch das BVerfG über erst kürzlich eingegangene Eilanträge.[34] Das VG hat vorliegend zwar über die Rechtmäßigkeit der Allgemeinverfügung entschieden, welche hauptsächlich in das Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 GG eingreift und damit nicht als direkter Vergleich dienen kann. Jedoch können der Entscheidung durchaus einige Wertungsgesichtspunkte und der aktuelle Blick der Rechtsprechung auf die Corona-Pandemie entnommen werden.
Weiterhin waren in dem Gesetzesentwurf auch Löschungs- und Auskunftspflichten vorgesehen und die Maßnahmen sollten auch einer zeitlichen Befristung unterliegen. In der heutigen digitalen Welt trägt der Großteil der Menschen sein Mobiltelefon stets bei sich, wodurch sich Tagesabläufe leicht nachkonstruieren lassen[35] und die Gefahr eines Missbrauchs der Daten nicht zu verkennen ist. Man muss jedoch die absolute Notsituation des Landes mit in die Wertung einbeziehen, und diese spricht dafür, dass es auch notwendig sein kann, Maßnahmen zu ergreifen, die vor wenigen Monaten noch undenkbar gewesen wären. Besondere Situationen erfordern besondere (aber dennoch verfassungsmäßige) Maßnahmen.
Wichtig im Zusammenhang mit der Verwendung der Ortung ist, dass sie „nur“ abstrakte Bewegungsdaten aufnimmt und weitergibt. Die meisten Deutschen gehen täglich größere digitale Risiken ein. Vielen anderen Diensten, etwa Facebook oder Instagram, werden freiwillig und ohne erkennbaren Mehrwert Zugang zu Kontaktlisten und Bildergalerien gewährt. Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die öffentliche Gesundheit gehören zu den höchstrangigen Schutzgütern, die ein Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern gewährleisten muss. Eine zu zurückhaltende Umgangsweise mit diversen Maßnahmen kann in kürzester Zeit dazu führen, dass auch in Deutschland erschreckende Zustände wie in Italien oder Spanien herrschen. Gerade die Erfahrungswerte aus unseren EU-Nachbarländern zeigen, dass eine erhebliche Bedrohung für die Gesundheit gerade von Älteren und Kranken besteht. Ein Eingriff in die Privatsphäre ist nicht zu verkennen. Jedoch steht ihm ein mindestens ebenbürtiges Schutzgut (Leben und Gesundheit der Bevölkerung) gegenüber. Auch ein Blick auf Staaten wie Südkorea zeigt, dass es durch eine solche Maßnahme gelingen kann, die Infektionszahlen einzudämmen, ohne gleichzeitig das gesamte öffentliche Leben herunterfahren zu müssen.[36] Wie oben bereits aufgezeigt, ist die Methode der Handy-Ortung in Form einer datenschutzkonformen App eine verhältnismäßige Maßnahme, gerade im Hinblick auf die weniger starke Einschränkung anderer Grundrechte.
Auf europäischer Ebene ergibt sich eine ähnliche Ausgestaltung. Art. 2 und Art. 3 GRC[37] enthalten eine vergleichbare Bestimmung zum deutschen Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Deutschland gehört in diesem Fall zu den wenigen Ausnahmen, denen das Recht auf körperliche Unversehrtheit schon vor der Normierung in der Charta bekannt war.[38]
Art. 8 GRC normiert das Recht der Einzelperson auf den Schutz sie betreffender persönlicher Daten. Ebenso wie im deutschen Recht sind Eingriffe nur auf gesetzlicher Grundlage mit strikter Zweckbindung oder durch Einwilligung zu rechtfertigen. Durch eine doppelte Normierung hat das europäische Recht dem Datenschutz eine besonders ausgeprägte Rolle eingeräumt. Art. 16 Abs. 1 AEUV wiederholt das Grundrecht der Charta und weist dem Parlament und dem Rat eine Rechtssetzungsbefugnis zu. Sekundärrechtliche Ausgestaltung findet diese Befugnis in der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 DSGVO legen dabei ausdrücklich fest, dass durch die Verordnung insbesondere das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten sichergestellt werden soll. Dieses Recht ist jedoch nicht bedingungslos ausgestaltet. Art. 9 Abs. 2 lit. i DSGVO setzt fest, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten aus Gründen der öffentlichen Gesundheit, insbesondere zum Schutz vor schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren, erforderlich sein kann. National ausgestaltet wurde die Norm in § 22 Abs. 1 Nr. 1 lit. c, Abs. 2 BDSG. Das Europarecht erlaubt an dieser Stelle weitergehende Eingriffe als derzeit das nationale Recht. So würde hiernach sogar die Einzelperson dazu gezwungen werden können, eine (nach nationalem Recht freiwillige) App herunterzuladen. Gem. Art. 9 DSGVO, ErwG 54 S. 1 zur DSGVO und Art. 8 Abs. 2 S. 1 GRC kommt es in den oben genannten Fällen eben nicht mehr auf die Einwilligung an. Nach Art. 53 GRC dürfen die Verfassungen der Mitgliedstaaten aber einen stärkeren Schutz gewähren.
Der Blick auf die europäische Ebene zeigt, dass auch dort angesichts der grundrechtlichen Normierung beider Rechtspositionen ein vergleichbares Spannungsverhältnis vorzufinden ist. Abgesehen von dem möglichen Zwang in Bezug auf die Installation einer App, der im Einzelfall nach der DSGVO zulässig sein kann, sind die Wertung und Gewichtung im Europarecht ähnlich vorzunehmen. Im Hinblick darauf, dass vorliegend jedoch nicht über herunterladbare Tracking-Apps entschieden werden soll, sondern über den Entwurf Spahns, ergibt sich aus dem Primär- und Sekundärrecht im Wesentlichen nichts anderes als auf der nationalen Ebene.
Oberste Priorität sollte aktuell für alle Beteiligten sein, das öffentliche Leben schrittweise wieder in die Normalität übergehen zu lassen. Dies ist sicherlich in unser aller Interesse. Auf Dauer kann also die Allgegenwärtigkeit des Handys in unserem Alltag als Chance gesehen werden, weniger Eingriffe in anderen Bereichen hinnehmen zu müssen. Es ist die Wahl des kleineren Übels. Die Erstellung eines umfassenden Persönlichkeitsprofils wird auch nach der Erfassung persönlicher Standortdaten nicht möglich sein. Der gläserne Bürger wird jedenfalls aufgrund dieser Maßnahme nicht Realität werden.
D. Fazit
Nach der hier vertretenen Auffassung ist der Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung bei entsprechend formulierter gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage grundsätzlich gerechtfertigt. Eine solche gesetzliche Grundlage müsste mindestens Auskunftspflichten des Einzelnen, klar vorgegebene Löschungspflichten nach der üblichen Inkubationszeit von circa 2 Wochen und eine zeitliche Befristung der Maßnahme vorsehen. Es ist dennoch ein Drahtseilakt, das Vertrauen der Bürger in den Gesetzgeber und die notwendigen Überwachungsmaßnahmen des Staates nicht zu erschüttern, aber gleichzeitig die erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie zu gewährleisten. Downloadbare Tracking-Apps könnten durchaus ein erster Schritt in diese Richtung sein. Diese Apps bauen, anders als der erste Entwurf von Spahn, auf der Freiwilligkeit der Bevölkerung auf. Durch die Freiwilligkeit wird in diesen Fällen ein Eingriff gänzlich vermieden. In allen Fällen besteht gleichwohl die Gefahr eines Missbrauchs sensibler Daten.
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*Annika Blaschke ist Mitarbeiterin am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Integration, Antidiskriminierung, Menschenrechte und Vielfalt zugleich Lehrstuhl für Europarecht, Öffentliches Recht und Völkerrecht von Prof. Dr. Thomas Giegerich an der Universität des Saarlandes.
[1] Bundesgesundheitsministerium, abrufbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/S/Entwurf_Gesetz_zum_Schutz_der_Bevoelkerung_bei_einer_epidemischen_Lage_von_nationaler_Tragweite.pdf (23.03.2020).
[2] Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage nationaler Tragweite, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 27.03.2020 (BGBl. I S. 587).
[3] Handelsblatt, abrufbar unter: https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/handytracking-spahn-will-zugriff-auf-mobilfunkdaten-von-corona-kontaktpersonen/25669028.html?ticket=ST-1660136-D5anRz3qHjkhhQaghegV-ap (21.03.2020); LTO, abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/gesetzentwurf-corona-jens-spahn-entmachtung-laender-aerzte-zwangsverpflichten-handyortung/ (22.03.2020).
[4] Handelsblatt, (21.03.2020).
[5] DW, abrufbar unter: https://www.dw.com/de/corona-immer-mehr-infektionen-im-inland-experten-prüfen-handy-ortung-deutschland-robert-koch/a-52650326 (06.03.2020).
[6] Handelsblatt, (21.03.2020).
[7] Art. 104 GG.
[8] So Thomae, Handelsblatt, (21.03.2020).
[9] So Marit Hansen, Datenschutzbeauftragte des Landes Schleswig-Holsteins, Handelsblatt, (21.03.2020).
[10] Handelsblatt, (21.03.2020).
[11] Handelsblatt, abrufbar unter: https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/coronavirus-telekom-gibt-bewegungsdaten-an-das-robert-koch-institut-weiter/25655516.html (18.03.2020).
[12] Handelsblatt, (21.03.2020).
[13] So twitterte Ulrich Kelber am (22.03.2020).
[14] Morgenpost, abrufbar unter: https://www.morgenpost.de/politik/article228746575/Coronavirus-Jens-Spahns-Corona-Gesetz-wird-heftig-kritisiert-jetzt-rudert-er-zurueck.html (24.03.2020).
[15] Die Zeit, 24.03.2020, abrufbar unter: https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2020-03/handytracking-coronavirus-mobilfunkdaten-standorte-virus-eindaemmung (24.03.2020); Morgenpost, (24.03.2020).
[16] Handelsblatt, abrufbar unter: https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/corona-eindaemmung-gesundheitsminister-spahn-rudert-bei-handytracking-zurueck/25670426.html?ticket=ST-3817482-yjHQN1LxI3yL3lrekC6R-ap2 (22.03.2020).
[17] Handelsblatt, abrufbar unter: https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/anti-corona-massnahmen-spahn-befeuert-debatte-um-handy-ortung-zur-corona-eindaemmung/25686796.html (26.03.2020).
[18] Handelsblatt, (26.03.2020).
[19] BVerfGE 65, 1.
[20] BVerfGE 65, 1, 43.
[21] Standortdaten werden ausdrücklich auch in Art. 4 Nr. 1 DSGVO genannt.
[22] Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Art. 2 Abs. 1 GG, Rn. 177
[23] Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Art. 2 Abs. 1 GG, Rn. 177.
[24] Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Art. 2 Abs. 1 GG, Rn. 184.
[25] Handelsblatt, (21.03.2020).
[26] Handelsblatt, (21.03.2020).
[27] Handelsblatt, (21.03.2020).
[28] Handelsblatt, (21.03.2020).
[29] Handelsblatt, abrufbar unter: https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/coronakrise-wie-die-eu-handy-ortung-gegen-das-coronavirus-einsetzen-will/25690342.html (29.03.2020).
[30] Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Art. 2 Abs. 1 GG, Rn. 158.
[31] Di Fabio, Maunz/Dürig (Hrsg.), Art. 2 Abs. 1 GG, Rn. 159.
[32] Di Fabio, Maunz/Dürig (Hrsg.), Art. 2 Abs. 1 GG, Rn. 181.
[33] Pressestelle des Verwaltungsgericht des Saarlandes, abrufbar unter: https://www.juris.de/jportal/portal/page/homerl.psml?nid=jnachr-JUNA200300906&cmsuri=%2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht.jsp (31.03.2020).
[34] Pressemitteilung, abrufbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-023.html (08.04.2020).
[35] Bewegungen von Personen sollen auf diese Weise nachverfolgt werden können. Süddeutsche, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/digital/coronavirus-smartphone-daten-tracking-ueberwachung-datenschutz-1.4855065 (23.03.2020).
[36] ZDF, abrufbar unter: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-suedkorea-handy-tracking-100.html (30.03.2020).
[37] Seit dem Vertrag von Lissabon entfaltet die GRC auch Bindungswirkung für die Mitgliedsstaaten.
[38] Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Art. 2 Abs. 2 Nr. 1, Rn. 51.
Suggested Citation: Blaschke, Annika, Flatten the curve! Doch mit welchen Mitteln?: Handy-Ortung während der Corona-Krise, jean-monnet-saar 2020, DOI: 10.17176/20220607-093927-0