Genozide gegen die Ukraine

Verhütung, Erinnerung, Aufarbeitung und Sühnung historischer und aktueller Völkermordverbrechen

Ein Beitrag von Univ.-Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M.

Im neuesten Saar Expert Paper „The Holodomor-Genocide and the Ongoing Russian Genocide in Ukraine: Intent, Victims and Perpetrators“ vergleicht Dr. Myroslava Antonovych aus Kyiv den Holodomor als ersten Völkermord an Ukrainerinnen und Ukrainern, den die Sowjetunion vor 90 Jahren beging, mit dem gegenwärtigen Angriffskrieg Russlands, den sie ebenfalls als Völkermord einstuft.

Das historische Geschehen des Holodomor kann – ebenso wie der Völkermord deutscher Kolonialtruppen an den Herero und Nama in Namibia 1904 – 1908[1] und der Völkermord des Osmanischen Reichs an seinen Armeniern 1915 – 1917[2] – nur politisch aufgearbeitet werden und muss dies auch.

Sowohl der Deutsche Bundestag[3] als auch das Europäische Parlament[4] haben den Holodomor als Völkermord eingestuft. Der Bundestag formulierte vorsichtig und nur in den Begründungserwägungen, nicht in der eigentlichen Erklärung folgendermaßen: „Damit liegt aus heutiger Perspektive eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe. Der Deutsche Bundestag teilt eine solche Einordnung.“ Demgegenüber heißt es in Ziff. 1 der Entschließung des Europäischen Parlaments viel dezidierter: „Das Europäische Parlament … 1. erklärt, dass es den Holodomor, die wissentlich und vorsätzlich von der Sowjetmacht herbeigeführte Hungersnot 1932/1933 in der Ukraine, als Völkermord am ukrainischen Volk anerkennt, da er in der Absicht begangen wurde, eine Gruppe von Menschen zu vernichten, und zwar durch die vorsätzliche Unterwerfung unter Lebensbedingungen mit dem Ziel, ihre körperliche Zerstörung herbeizuführen …“

Die Vorsicht des Bundestages erklärt sich mit der Rückwirkungsproblematik. Denn die Definition des Völkermordtatbestands erfolgte erst in Art. II der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9.12.1948.[5] Allerdings heißt es in Art. I ebendieser Konvention (Hervorhebung ergänzt): „Die Vertragschließenden Parteien bestätigen, daß Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten.“ Mit anderen Worten wollte man 1948 einen im Völkergewohnheitsrecht bereits vorgefundenen Straftatbestand für die Zukunft vertraglich kodifizieren.[6] Ob und inwieweit ein historisches Geschehen als Völkermord qualifiziert werden kann, ist nicht nur für politische Erklärungen wie die Resolutionen des Bundestages und des Europäischen Parlaments relevant. Es kann im Hinblick auf gesetzliche Bestimmungen, die die Leugnung historischer Verbrechen nach Völkerrecht unter bestimmten Umständen mit Strafe bedrohen wie der neu eingefügte §130 Abs. 5 StGB[7] auch rechtliche Bedeutung erlangen.[8]

Im Gegensatz zum Holodomor wird es sicherlich Entscheidungen nationaler und vor allem internationaler Gerichte zu der Frage geben, ob im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine[9] das Makroverbrechen des Völkermords begangen wird oder worden ist. Völkermord ist einerseits ein Verbrechen nach Völkerrecht gem. Art. 6 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs,[10] das die individuelle Verantwortlichkeit der Täterinnen und Täter sowie der sonstigen Beteiligten[11] nach Völkerstrafrecht und nationalem Strafrecht[12] begründet. Andererseits stellt der Völkermord ein völkerrechtliches Delikt dar, dessen Begehung zur Verantwortlichkeit nach Völkerrecht desjenigen Staates führt, dem der Völkermord zurechenbar ist.[13] Sowohl als völkerrechtlicher Straftatbestand als auch als völkerrechtliches Delikt setzt ein Völkermord über die vorsätzliche Tathandlung (etwa eine Tötung, schwere Misshandlung oder gewaltsame Überführung von Kindern) voraus, dass diese in einer besonderen Absicht (dolus specialis) verübt wurde, nämlich in der Absicht, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.[14]

Wie Dr. Antonovych in ihrem Saar Expert Paper darlegt, sind der Internationale Gerichtshof und die internationalen Strafgerichte streng in Bezug auf den Nachweis einer solchen spezifischen Absicht. Deshalb hat etwa der Generalbundesanwalt Ende letzten Jahres einen Anfangsverdacht für Völkermord in der Ukraine infolge des russischen Angriffskriegs verneint.[15] Demgegenüber hat der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs am 2.3.2022 Ermittlungen in Bezug auf die Situation in der Ukraine seit dem 21.11.2013[16] aufgenommen.[17] Dies geschah gem. Art. 13 Buchst. a, 14 Abs. 1 des Römischen Statuts aufgrund einer Unterbreitung durch zunächst 39 Vertragsstaaten, darunter Deutschland, die neben Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausdrücklich auch Völkermord umfasst.[18] Irgendwann wird der Ankläger eine Entscheidung darüber zu treffen haben, ob er genügend Beweise besitzt, um gegen bestimmte Personen Anklage wegen Völkermordes zu erheben. Dann bleibt abzuwarten, ob der IStGH die Angeklagten antragsgemäß verurteilen wird. Auch der Generalstaatsanwalt der Ukraine hat längst Ermittlungen zu einem möglichen Völkermord seitens Russlands aufgenommen.[19]

Ein anderes internationales Gericht, das darum ersucht werden könnte, über das Vorliegen eines Völkermordes in der Ukraine zu entscheiden, ist der Internationale Gerichtshof (IGH). Das beruht darauf, dass die Konvention gegen Völkermord in Art. IX eine kompromissarische Klausel im Sinne von Art. 36 Abs. 1, 3. Var. des IGH-Statuts[20] enthält, die es einer Vertragspartei ermöglicht, Streitigkeiten mit einer anderen Vertragspartei hinsichtlich der Auslegung, Anwendung oder Durchführung der Konvention einseitig dem IGH zu unterbreiten. Voraussetzung dafür ist, dass keine der Parteien einen Vorbehalt gegen Art. IX der Konvention eingelegt hat. Auf dieser Grundlage ist der IGH schon mit einigen Völkermordfällen befasst worden, in denen es um die Feststellung von Staatenverantwortlichkeit und ihren Konsequenzen ging und geht. Vor ihm schwebt derzeit etwa ein Verfahren Gambias gegen Myanmar betreffend den möglichen Völkermord an den Rohingyas durch Myanmar. In diesem hat der IGH einstimmig völkerrechtlich verbindliche vorsorgliche Maßnahmen gegen Myanmar erlassen[21] und inzwischen auch mit 15:1 Stimme seine Gerichtsbarkeit und die Zulässigkeit der Klage bejaht;[22] das Hauptsacheverfahren schwebt noch.

Insbesondere aber ist vor dem IGH auch ein von der Ukraine schon am 26.2.2022 gegen Russland eingeleitetes Verfahren anhängig. Darin geht es nicht um einen von Russland gegen die Ukraine begangenen Völkermord, sondern darum, dass Russland umgekehrt der Ukraine fälschlich einen Völkermord im Donbas als Rechtfertigung für seinen Angriffskrieg vorwirft.[23] Diesem Verfahren sind inzwischen gem. Art. 63 Abs. 2 IGH-Statut zahlreiche weitere Vertragsparteien der Konvention gegen Völkermord auf Seiten der Ukraine beigetreten. Darüber hinaus hat die Europäische Union, die mangels eigener Staatlichkeit einem IGH-Verfahren nicht beitreten kann, am 18.8.2022 dem IGH gemäß Art. 34 Abs. 2 des IGH-Statuts und Art. 69 Abs. 2 der IGH-Verfahrensordnung von sich aus Auskünfte zu dem anhängigen Verfahren erteilt.[24] Es handelt sich um eine konzertierte Aktion,[25] für die es weder vor dem IGH noch seinem Vorgänger, dem Ständigen Internationalen Gerichtshof, jemals Vergleichbares gegeben hat.

Mit Beschluss vom 16.3.2022 hat der IGH mit 13:2 Stimmen seine Gerichtsbarkeit dem ersten Anschein nach bejaht und Russland gem. Art. 41 IGH-Statut aufgegeben, erstens seine am 24.2.2022 begonnenen Militäroperationen in der Ukraine sofort auszusetzen und zweitens sicherzustellen, dass keine von ihm kontrollierten oder unterstützten Militäreinheiten oder irregulären bewaffneten Einheiten sowie von ihm kontrollierten oder angeleiteten Organisationen oder Personen irgendwelche Schritte zur Förderung dieser Militäroperationen unternehmen. Darüber hinaus hat der IGH einstimmig beiden Parteien aufgegeben, sich jeder Maßnahme zu enthalten, die den vor dem Gerichtshof anhängigen Streit verschlimmern oder erweitern oder seine Beilegung erschweren könnte. Unter Zurückweisung gegenteiliger Behauptungen Russlands hat der IGH im Einzelnen belegt, dass dieses in offiziellen Verlautbarungen der Ukraine die Begehung von Völkermord im Donbas vorgeworfen und diesen Vorwurf als Rechtfertigung für seinen militärischen Angriff verwendet hat.

Russland hat die vorsorglichen Maßnahmen des IGH missachtet und inzwischen gemäß Art. 79bis der Verfahrensordnung des IGH[26] vorgängige prozessuale Einreden gegen die Gerichtsbarkeit des IGH und die Zulässigkeit der Klage erhoben. Damit wurde das Hauptsacheverfahren zunächst suspendiert, und der Gerichtshof wird voraussichtlich zunächst über diese Vorfragen entscheiden.[27]

Falls der IGH nicht letztlich doch seine Gerichtsbarkeit oder die Zulässigkeit der ukrainischen Klage verneint, was nicht zu erwarten ist, wird das Hauptsacheverfahren weiter anhängig bleiben. Sein Gegenstand ist aber gerade nicht ein möglicherweise von Russland zulasten der Ukraine begangener Völkermord. Das auch für IGH-Verfahren geltende Prinzip ne ultra petita[28] verhindert, dass der Gerichtshof im Rahmen dieses anhängigen Verfahrens entscheidet, ob ein solcher vorliegt oder nicht.

Nichts hindert die Ukraine jedoch daran, entweder ihren Antrag im anhängigen Verfahren entsprechend zu erweitern oder ein neues Verfahren aufgrund von Art. IX der Konvention gegen Völkermord einzuleiten mit dem Antrag, der IGH möge feststellen, dass Russland im Zuge seines Angriffskriegs gegen die Antragstellerin auch seine Verpflichtungen aus der Konvention gegen Völkermord verletzt sowie zur Bestrafung der dafür individuell verantwortlichen Personen und zur Wiedergutmachung des daraus erwachsenen Schadens verpflichtet ist.[29] Derzeit sammelt die Ukraine allem Anschein nach alle erreichbaren Beweise, insbesondere um die spezifische Vernichtungsabsicht (dolus specialis) auf russischer Seite zu belegen. Sobald sie Beweise in einem Ausmaß besitzt, das eine Verurteilung Russland durch den IGH wegen Völkermordes wahrscheinlich macht, wird sie ein solches Verfahren einleiten.

Optimistisch betrachtet ist es ein großer Fortschritt gegenüber dem Zeitalter des Holodomor, dass wir heute über Institutionen und Verfahren verfügen, die es wahrscheinlicher machen, dass die Begehung von Völkermord weder für Staaten noch für Individuen ungesühnt bleibt.


[1] Vgl. die Joint Declaration by the Federal Republic of Germany and the Republic of Namibia “United in Remembrance of Our Colonial Past, United in Our Will to Reconcile, United in Our Vision of the Future” vom 28.5.2021 (https://www.dngev.de/images/stories/Startseite/joint-declaration_2021-05.pdf). Sara Wissmann/Julius Adler, Good Things Come to Those Who Wait? The Joint Reconciliation Declaration of Germany and Namibia for the Herero and Nama Genocide, GYIL 64 (2021), 511 ff.; Henning Melber, Germany and reparations: the reconciliation agreement with Namibia, The Round Table vol. 111/4 (2022), 475 ff. (https://www.tandfonline.com/doi/epdf/10.1080/00358533.2022.2105540?needAccess=true&role=button).

[2] Vgl. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15.4.2015 zum 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern (2015/2590(RSP)). Kritisch Kai Ambos, The Armenian „Genocide“?, EJIL Talk, 11.5.2015 (https://www.ejiltalk.org/the-armenian-genocide/). Vgl. auch EGMR (GK), Urt. v. 15.10.2015, Perinçek v. Switzerland (Appl. No. 27510/08) sowie Daniel-ErasmusKhan, „Unrecht kann unmöglich Recht sein“. 100 Jahre später: Einige Bemerkungen zum Prozess gegen Soghomon Tehlirian, Friedens-Warte 93 (2020), 268 ff.

[3] BT Drs. 20/4681 vom 29.11.2022, S. 2. Der Beschluss wurde mit großer Mehrheit ohne Gegenstimmen, aber bei einigen Enthaltungen, angenommen (BT Plenarprotokoll 20/72, S. 8427).

[4] Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. 12.2022 zu dem Thema „90 Jahre nach dem Holodomor: Anerkennung der Massentötung durch Hunger als Völkermord“ (2022/3001(RSP)).

[5] BGBl. 1954 II S. 730.

[6] Näher Christian J. Tams, in: ders./Lars Christian Berster/Björn Schiffbauer, Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, 2014, Art. I Rn. 98 ff.

[7] Eingefügt durch Art. 4 Ziff. 2 Buchst. c des Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes und des Strafgesetzbuchs vom 4.12.2022 (BGBl. I S. 2146).

[8] Michael Kubiciel, Welcher Skandal?, Verfassungsblog, 27.10.2022; Paula Rhein-Fischer, Regieren der Erinnerung durch Recht, Verfassungsblog, 31.10.2022.

[9] Thomas Giegerich, Die Fundamente der heutigen Völkerrechtsordnung – Eine Bekräftigung anlässlich des Ukraine-Kriegs, Saar Expert Paper vom 17.3.2022 (https://jean-monnet-saar.eu/wp-content/uploads/2022/03/Ukraine-Krieg.pdf).

[10] Vom 17.7.1998 (BGBl. 2000 II, S. 1394). Spätere Änderungen des Römischen Statuts betreffen nicht Art. 6.

[11] Vgl. Art. 25 des Römischen Statuts.

[12] Z.B. nach §6 VStGB vom 26.6.2002 (BGBl. I S. 2254), der von späteren Änderungen des VStGB nicht betroffen ist.

[13] Vgl. die in Art. 4 ff. der Artikel über die Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen vom 12.12.2001 (Anhang zur Resolution 56/83 der UN-Generalversammlung) kodifizierten Zurechnungsgründe des Völkergewohnheitsrechts.

[14] Art. II der Konvention gegen Völkermord und Art. 6 des Römischen Statuts.

[15] Kritisch Patrick Heinemann, Generalbundesanwalt sieht keinen Anfangsverdacht: Russlands Krieg wirklich kein Völkermord?, Legal Tribune Online, 6.12.2022 (https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/generalbundesanwalt-ermittlungen-ukraine-russland-voelkermord-vstgb-de-ukrainisierung/).

[16] Das Datum ergibt sich aus der ersten Erklärung der Ukraine, die nicht Vertragspartei des Römischen Statuts ist, gem. Art. 12 Abs. 3 zur Anerkennung der Gerichtsbarkeit des IStGH (https://www.icc-cpi.int/sites/default/files/itemsDocuments/997/declarationRecognitionJuristiction09-04-2014.pdf).

[17] https://www.icc-cpi.int/news/statement-icc-prosecutor-karim-aa-khan-qc-situation-ukraine-receipt-referrals-39-states.

[18] State Party Referral under article 14 of the Rome Statute (https://www.icc-cpi.int/sites/default/files/2022-04/State-Party-Referral.pdf).

[19] Ashish Kumar Sen, Is Russia Committing Genocide in Ukraine?, Sept. 21, 2022 (https://www.usip.org/publications/2022/09/russia-committing-genocide-ukraine).

[20] Statut des Internationalen Gerichtshofs vom 26.6.1945 (BGBl. 1973 II S. 505).

[21] Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (The Gambia v. Myanmar), Beschluss vom 23.1.2020.

[22] Urteil vom 22.7.2022.

[23] Allegations of Genocide under the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Ukraine v. Russian Federation).

[24] IGH, Press Release No. 2022/29 vom 18.8.2022 (https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/182/182-20220818-PRE-01-00-EN.pdf). Alexander Melzer, The ICJ’s only Friend in Ukraine v. Russia. On the EU’s Memorial in the Case of Ukraine v. Russia before the ICJ, Völkerrechtsblog vom 7.10.2022.

[25] Joint statement on supporting Ukraine in its proceeding in the International Court of Justice vom 13.7.2022 (https://www.eeas.europa.eu/eeas/joint-statement-supporting-ukraine-its-proceeding-international-court-justice_en).

[26] https://www.icj-cij.org/en/rules.

[27] Vgl. Beschluss des IGH vom 7.10.2022.

[28] Vgl. Robert Kolb, General Principles of Procedural Law, in: Andreas Zimmermann/Christian J. Tams (eds.), The Statute of the International Court of Justice, 3rd ed. 2019, Rn. 33 ff. (S. 986 ff.).

[29] Vgl. als Beispiel die Anträge Gambias im Verfahren gegen Myanmar.