09.05.2023
Ein Beitrag von Thomas Giegerich
Am zweiten Europa-Tag nach der Zeitenwende werfe ich einen Blick zurück und einen Blick nach vorn. Die Europäische Union ist seit ihrem Beginn vor mehr als 70 Jahren ein Friedensprojekt. Der französische Außenminister Robert Schuman leitete seine berühmte Erklärung vom 9.5.1950, die den europäischen Integrationsprozess startete, folgendermaßen ein: „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen. Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen.“[1]
Robert Schuman hatte dabei zwei unterschiedliche Friedensziele im Blick: zuerst den internen Frieden zwischen den Mitgliedstaaten des vereinigten Europas, insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland. Er dachte aber auch an den externen Frieden zwischen der Europäischen Union und der übrigen Welt, insbesondere der damaligen Sowjetunion, die unter der Herrschaft des Diktators Stalin eine große Bedrohung des Friedens und der Freiheit darstellte. Dementsprechend wurde der EWG-Vertrag 1957 von den damaligen sechs Mitgliedstaaten ausdrücklich mit dem Ziel geschlossen, durch den Zusammenschluss ihrer Wirtschaftskräfte Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen.[2] Die anderen Völker Europas wurden aufgefordert, sich diesen Bestrebungen anzuschließen. 21 weitere haben das seither getan, und etliche andere europäische Völker stehen an der Schwelle zum Beitritt.
2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis, weil sie mehr als sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung beigetragen und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Aussöhnung auch mit Osteuropa vorangebracht hatte. Der Beitritt von mehreren mittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten wurde lobend hervorgehoben. Zusammenfassend hieß es: „Das Norwegische Nobelkomitee wünscht den Blick auf das zu lenken, was es als wichtigste Errungenschaft der EU sieht: den erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte; die stabilisierende Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens.“[3]
Diese stabilisierende Rolle der EU drückt sich in ihrer Nachbarschaftspolitik aufgrund von Art. 8 EUV und ihrer Assoziierungspolitik aufgrund von Art. 217 AEUV aus. Die Ukraine ist unmittelbarer Nachbar der EU, denn sie grenzt an die Mitgliedstaaten Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien. Nach mehrjährigen Verhandlungen lag im November 2013 ein Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine unterschriftsreif vor. Auf Druck aus Moskau, das die Ukraine in eine Zollunion mit Russland ziehen wollte, weigerte sich aber der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch im letzten Moment, dieses Abkommen zu unterzeichnen. Dies löste die Euromaidan-Revolution in Kiew aus, die im Februar 2014 zum Sturz und zur Flucht von Janukowitsch nach Russland führte.[4] Diese Geschehnisse hatten zwei weitreichende Folgen: Erstens unterzeichnete die neue ukrainische Übergangsregierung prompt das Assoziierungsabkommen mit der EU, das dann 2017 in Kraft trat.[5] Zweitens übernahm Russland wenige Tage nach der Flucht von Janukowitsch mit militärischer Gewalt die Kontrolle über die ukrainische Halbinsel Krim und marschierte außerdem in die ostukrainische Region Donbas ein. Der Ukraine-Krieg begann daher nicht erst 2022, sondern bereits 2014. Schon seit 2014 hat die EU auf die russische Aggression mit Sanktionen geantwortet,[6] aber zu zaghaft, weil viele – auch ich – zu lange glaubten, man könne mit Wladimir Putin einen friedlichen Ausgleich finden. Der massive russische Angriff auf die gesamte Ukraine seit dem 24.2.2022, der die Völkerrechtsordnung des UN-Zeitalters untergräbt,[7] hat unseren Irrtum offengelegt.
Ist also am Ende die EU schuld an diesem Krieg, weil sie die Ukraine auf einer gemeinsamen Grundlage der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte zur Annäherung eingeladen hat? Natürlich nicht, selbst wenn Russland das behauptet. Schuld ist allein der Diktator im Kreml, der das 1991 untergegangene Sowjetimperium mit Gewalt wieder herstellen und dazu auch die Ukraine unterwerfen möchte, obwohl die große Mehrheit der Ukrainer:innen sich mit der EU assoziieren und ihr sogar beitreten will.[8] Im Einklang mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker liegt diese Entscheidung allein bei ihnen; sie dürfen daran von einem anderen Staat nicht mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt gehindert werden.[9] Für die EU kann es keine ernsthafte politische Alternative sein, ihre friedliche Nachbarschafts- und Assoziierungspolitik aufzugeben und ihre Nachbarn stattdessen der willkürlichen Gewalt Russlands preiszugeben. Im Gegenteil: Sie muss der russischen Gewaltpolitik viel entschlossener entgegentreten, als sie dies zwischen 2014 und 2022 tat. Dazu muss die EU dringend die bisher nur in Ansätzen vorhandene Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik gemäß Art. 42 EUV ausbauen und zu einer echten Verteidigungsunion werden. Die europäischen Staaten müssen mit anderen Worten nicht nur, wie bisher, ihre Wirtschaftskräfte, sondern auch ihre militärischen Kräfte zusammenschließen und leider gemeinsam aufrüsten, um Frieden und Freiheit in Europa und der weiteren Welt effektiv wahren zu können, was ja nach Art. 3 Abs. 5 und Art. 21 EUV zu ihren außenpolitischen Zielen gehört.
Die traurige Lehre aus dem Ukraine-Krieg und der von ihm verursachten Zeitenwende lautet daher: Die EU muss von einer Friedensmacht viel stärker zu einer Friedensmacht werden und dazu auch ihre militärische Kapazität ausbauen. Es gibt dafür übrigens eine Blaupause, die in die Anfangszeit der europäischen Integration zurückreicht: den gescheiterten Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft von 1952,[10] der eine Reaktion auf den Korea-Krieg darstellte. Damals kam der Vertrag nicht zustande, weil eine gemeinsame europäische Armee noch nicht konsensfähig war. Aber nach der Zeitenwende von 2022 sollte man ihn entstauben und aktualisieren. Der Vertrag über die Europäische Union enthält in der 11. Erwägung seiner Präambel eine klare Formulierung des politischen Ziels der gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU: „… die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern“. Der Zeitpunkt ist gekommen, eine Europäische Verteidigungsunion zu gründen.
[1] https://european-union.europa.eu/principles-countries-history/history-eu/1945-59/schuman-declaration-may-1950_de
[2] 8. Erwägung der Präambel des EWG-Vertrags (https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:11957E/TXT). Vgl. die wortgleiche 8. Erwägung der Präambel des AEUV.
[3] Englische Presseerklärung des Norwegischen Nobelkomitees vom 12.10.2012 (https://www.nobelprize.org/prizes/peace/2012/press-release/) – Übersetzung des Autors.
[4] Überblick über die Geschehnisse bei Gwendolyn Sasse, Der Krieg gegen die Ukraine, 2022, S. 51 ff.¸ Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder, Neuausgabe 2023, S. 217 ff.
[5] Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Ukraine andererseits vom 27.6.2014, ABl. Nr. L 161/3.
[6] Überblick über die EU-Sanktionen gegen Russland unter https://www.consilium.europa.eu/de/policies/sanctions/restrictive-measures-against-russia-over-ukraine/sanctions-against-russia-explained/
[7] Thomas Giegerich, Die Fundamente der heutigen Völkerrechtsordnung – Eine Bekräftigung anlässlich des Ukraine-Kriegs, Saar Expert Paper vom 17.3.2022 (https://jean-monnet-saar.eu/wp-content/uploads/2022/03/Ukraine-Krieg.pdf).
[8] Die Ukraine hat am 28.2.2022 einen Beitrittsantrag gestellt, und am 23.6.2022 hat ihr der Europäische Rat den Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt. Überblick unter https://www.consilium.europa.eu/de/policies/enlargement/ukraine/
[9] Zum Selbstbestimmungsrecht der Völker vgl. den gleichlautenden Art. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966 () und des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 16.12.1966 () sowie die Friendly Relations Declaration (Resolution 2625 (XXV) der UN Generalversammlung vom 24.10.1970).
[10] Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vom 27.5.1952 (BGBl. 1954 II S. 343). Näher Thomas Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, 2003, S. 169 ff.
Suggested Citation: Giegerich, Thomas, Die Europäische Union als Friedensmacht: Eine Europäische Verteidigungsunion muss jetzt gegründet werden, jean-monnet-saar 2023, DOI: 10.17176/20230509-112113-0.