Werte oder Interessen?

Soll die EU ihre unilaterale Regulierungsmacht nutzen, um Menschenrechte global zu fördern?

Ein Beitrag von Dennis Traudt*

In der letzten Rede zur Lage der Union rief Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Geburt einer geopolitischen Union aus. Damit bekommt die Europäische Union ein weiteres Gewand, mit dem sie auf der Weltbühne auftreten soll. Diese Rückbesinnung auf strategische Interessen stellt eine Reaktion auf eine sich abzeichnende Neuausrichtung internationaler Politik dar, wie wir sie in diesem Ausmaß zuletzt mit dem Mauerfall erlebten. Eine EU, die aktive Geopolitik betreibt oder zumindest in Zukunft betreiben möchte, ist das Resultat einer angepassten Interpretation der 2019 von der Kommission ausgegebenen politischen Leitlinien, die ein stärkeres Europa in der Welt als eines der wichtigsten Kommissionsprioritäten deklarieren.

Nun hat die EU ihr außenpolitisches Selbstvertrauen jedoch gerade in der Epoche nach Ende des Kalten Krieges gewonnen, in der man davon ausging, der Liberalismus werde seinen Siegeszug in den internationalen Beziehungen ungestört fortsetzen. In dieser Zeit entwickelte die Union sich zu einer normativen Macht, die dem Export eigener Werte eine zentrale Rolle in jeglichem Außenhandeln zuschreibt. Das Selbstverständnis, mit dem die EU auf internationaler Ebene auftritt, ist dabei geprägt von einer Extrapolation der Grundsätze, die für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgeblich waren. Insoweit versteht sie sich als Förderer des Ideals einer freiheitlichen rechtsstaatlichen und demokratischen Gesellschaft, die das Individuum in den Mittelpunkt staatlicher Ordnung stellt. Verfassungsrechtlich ist die Union seit dem Vertrag von Lissabon an die Wahrung und Förderung ihrer Gründungswerte in ihrem gesamten internen sowie externen Handeln gebunden.

So zumindest die Theorie.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich das Außenhandeln der EU aufgrund des Kompetenzgefüges vornehmlich im Bereich des Handels- und Wirtschaftsrechts abspielt. In diesem prima facie wertneutralen Politikbereich überwiegen naturgemäß wirtschaftliche und nun auch vermehrt geowirtschaftliche Interessen, auch wenn die Union nach eigener Aussage eine wertegeleitete Handelspolitik führt.

Wie lassen sich nun Interessen und Werte in Einklang bringen?

Seit den Neunzigern entwickelte die EU mehrere Instrumente, um ihre Werte global zu fördern und diese mit ihren wirtschaftlichen Interessen zu harmonisieren. Die klassischste Methode stellt dabei die Konditionalität von Handels- sowie Entwicklungshilfebeziehungen dar. Diese Methode ist dadurch charakterisiert, dass sie auf völkerrechtlichen Freihandelsabkommen basiert, bei denen sich die Vertragsparteien zumindest aus formeller Sicht gleichberechtigt gegenüberstehen: Der Drittstaat, der einen präferierten Zugang zum europäischen Markt wünscht, willigt per Vertragsschluss in die von der EU gestellten Bedingungen ein.

Gänzlich anders sieht es hingegen bei einem neuen Weg der externen Menschenrechtsförderung aus, den die EU eingeschlagen ist. Dabei setzt sie vermehrt auf die Methode der unilateralen Regulierung von Wirtschaftsakteuren und Wirtschaftsströmen mittels extraterritorial wirkender Rechtsakte. Die Idee dahinter ist simpel: Es werden die bereits bestehenden Interdependenzen ausgenutzt. Wirtschaftliche Verbindungen zwischen der EU und Drittstaaten, sei es in Form von Wertschöpfungsketten oder gesellschaftsrechtlichen Verbindungen innerhalb multinationaler Konzerne, fungieren dabei als Brücken zum Werteexport. Dieses Mittel ist europäischer Regulierung nicht fremd. Bis weilen wurde unilaterale Regulierung aber vor allem dazu benutzt, ökonomische Interessen in Form von europäischen Produktstandards und Anforderungen an Herstellungsmethoden, zu fördern. Heutzutage geht es jedoch um deutlich fundamentalere Materien, wie den sensibleren Bereich der Werte. Als prominentestes Beispiel erfolgreicher unilateraler Regulierung, die auch zu einem Wertetransport führte, kann die DSGVO genannt werden, die dem europäischen Verständnis von Datenschutz zu weltweiter Verbreitung verhalf.

Wirksamkeitserfordernis für solche einseitigen Methoden ist die Marktmacht des europäischen Binnenmarktes, der mit über 440 Millionen kaufkräftigen Konsumenten einen solch hohen wirtschaftlichen Anreiz für ausländische Unternehmen setzt, dass diese den erhöhten Regulierungsdruck in Kauf nehmen. Dies kann sich unter bestimmten Bedingungen sogar auf Drittstaaten auswirken, die eigentlich geringere Standards verlangen oder gar konträre Wertevorstellungen propagieren. Dies ist in der Literatur als Brüssel-Effekt bekannt. Demnach verfügt die EU heute über eine unilaterale Macht zur Regulierung der globalen Märkte, die weltweit einzigartig erscheint.

Auch wenn die EU diese Macht, zumindest aus ihrer Sicht nur für gutartige Zwecke, nämlich zur Förderung (meist) universeller Menschenrechte nutzt, ist die Methode einseitiger Regulierung nicht unproblematisch. Da es sich um reines Binnenrecht der Union handelt, sind betroffene Drittstaaten und folglich auch die dortigen natürlichen und juristischen Personen grundsätzlich weder bei Entstehung noch bei der Durchsetzung der Normen beteiligt. Dies wirft Fragen in Bezug auf das völkerrechtliche Fundamentalprinzip staatlicher Souveränität wie auch demokratischer Legitimität auf und führt letztendlich zu der eingangs gestellten Frage, ob eine machtbasierte Politik überhaupt mit den europäischen Werten vereinbar ist. Kurzum, kann der Zweck die Mittel heiligen?

Teilweise wird davon ausgegangen, eine an Macht orientierte Außenpolitik stelle das Gegenteil zu einer Werte-orientierten Außenpolitik dar. Erstere stehe an sich sogar im Konflikt mit den Gründungswerten der Union, erst recht, wenn die genutzten unilateralen Instrumente möglicherweise völkerrechtswidrig erscheinen. Eine Instrumentalisierung der eigenen Wirtschaftsmacht stelle reine Interessenpolitik dar, versteckt hinter dem Schleier der Menschenrechtsförderung. Und auch wenn man der Union eine wertegeleitete Außenpolitik nicht abstreiten kann, so sei die Oktroyierung europäischer Werte nur ein anderer Weg hegemonialer Machtausübung gegenüber wirtschaftlich schlechter gestellten Staaten.

Diese Ansicht verkennt, dass auch die prima facie einseitigen Methoden der Kooperation mit Drittstaaten Vorrang einräumen und allesamt Mechanismen enthalten, die eine Beteiligung der ausländischen stakeholder vorsehen. Zwar wird die Marktmacht der Union instrumentalisiert, dies jedoch eingebettet in den normativen Rahmen einer regelbasierten internationalen Ordnung. Darüber hinaus ergänzen die neuartigen unilateralen Methoden die europäische human rights toolbox und können als Reaktion auf einen stagnierenden Multilateralismus gelesen werden. Nichtsdestotrotz setzt die EU auch weiterhin auf kooperative Lösungen wie Freihandelsabkommen oder setzt sich in multilateralen Foren für ihre Werte mittels diplomatischer Methoden ein.

Auch wenn das Begriffspaar Interessen und Werte sowie der Begriff der „normativen Macht“ dem ersten Vernehmen nach wie Antonyme klingen, ist es der Europäischen Union gelungen eine Konvergenz von wirtschaftlichen Interessen und Werten zu erzeugen. Sie ist aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte und supranationalen Struktur besonders dazu geeignet. Insoweit heiligt der Zweck die Mittel. Insbesondere in den aktuellen weltpolitisch unruhigen Zeiten wäre es fahrlässig nicht die möglichen „Machtinstrumente“ zu nutzen, um für liberale Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, weltweit einzutreten. Geraten diese auf der Freiheit des Individuums beruhenden Werte doch von allen Seiten, sogar innerhalb der EU, unter Beschuss.

Soll die EU also ihre unilaterale Regulierungsmacht nutzen, um Menschenrechte global zu fördern?

Ich sage: Ja!


*Dennis Traudt ist Doktorand und wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl von Univ.-Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M. (Univ. of Virginia). Er promoviert zu Fragen der auswärtigen Beziehungen der EU und des europäischen Menschenrechtsschutzes. Dennis Traudt ist Mitglied des Redaktionsteams des Fachblogs Jean Monnet Saar.

Dieser Beitrag wurde zuvor in der 80. Ausgabe des Freiraums, der Monatszeitschrift des Verbands der Stipendiaten und Altstipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit e.V. veröffentlicht, abrufbar unter: https://vsa-freiheit.org/news/390/.

Zitiervorschlag: Traudt, Dennis, Werte oder Interessen? – Soll die EU ihre unilaterale Regulierungsmacht nutzen, um Menschenrechte global zu fördern?, jean-monnet-saar 2024.

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer: 525576645

Print Friendly, PDF & Email