Katz‘ und Maus? – Die “Nichtbestehens-Ausweisung” im Lichte neuester EuGH Rechtsprechung

28.06.2021

Ein Beitrag von Karoline Dolgowski und Dennis Traudt*

Die kürzlich ergangene Entscheidung des EuGH im Fall FS gegen Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Rs. C-719/19) hat Anlass geboten, noch einmal einen Blick auf das Freizügigkeitsrecht der Europäischen Union zu werfen.[1] In weiten Teilen sind die Bestimmungen der fast zwei Jahrzehnte alten Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG (FreizügRL)[2] durch Rechtsprechung und Literatur konkretisiert und interpretiert worden. Bisher aber erstaunlich wenig Aufmerksamkeit bekommen hat die auf den ersten Blick unscheinbare Vorschrift des Art. 15 Abs. 1 FreizügRL. Hinter der Fassade einer Verfahrensregelung verbirgt sich jedoch die für die Mitgliedstaaten durchaus relevante Möglichkeit, Unionsbürger anderer Staatsangehörigkeit aus dem eigenen Hoheitsgebiet auszuweisen, wenn diese kein Recht zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat haben. Gerade diese “Nichtbestehens-Ausweisung” war zentraler Gegenstand der jüngsten Entscheidung des EuGH. Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Voraussetzungen und Wirkung der “Nichtbestehens-Ausweisung” unter Berücksichtigung dieser Entscheidung und soll die Lücken in der einschlägigen Literatur zum Ausweisungsschutz im Unionsrecht schließen. 

Das Freizügigkeitsrecht in der Union

Das Recht der Unionsbürger, sich frei in einem Raum ohne Binnengrenzen zu bewegen, sprich in andere Mitgliedstaaten ein- und auszureisen sowie dort vorübergehenden oder andauernden Aufenthalt zu nehmen, ist von fundamentaler Bedeutung für die Union. Der vom EuGH sowie in verschiedenen Sekundärrechtsakten entwickelte Freizügigkeitsbesitzstand wurde 2004 in der Freizügigkeitsrichtlinie vereinheitlicht und ist seit dem Vertrag von Maastricht auch auf Ebene des Primärrechts kodifiziert (aktuell in Art. 21 AEUV sowie für ökonomisch aktive Personen in den spezielleren Art. 45 ff., 49 ff. und Art. 56 ff. AEUV). Trotz seiner primärrechtlichen Verankerung steht das Freizügigkeitsrecht unter einem unionsrechtlichen Gesetzesvorbehalt, der sich aus Art. 21 Abs. 1 selbst ergibt (“vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen”).[3]Maßgeblich für die Reichweite dieses Individualrechts bleiben somit die ausdifferenzierten sekundärrechtlichen Bestimmungen z.B. der FreizügRL. Anderes ergibt sich auch nicht durch die Aufnahme des Freizügigkeitsrechts in den Kanon der Europäischen Grundrechte gem. Art. 45 Abs. 1 der Grundrechtecharta, gleicht Art. 52 Abs. 2 GrCH doch die Reichweite des ‘Charta-Rechts‘ an Art. 21 Abs. 1 AEUV an.

Die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG (FreizügRL)

Das Freizügigkeitsrecht der Europäischen Union ist im Wesentlichen in der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG kodifiziert. Während Art. 4 FreizügRL ein allgemeines Recht auf Ausreise statuiert, sieht Art. 5 FreizügRL spiegelbildlich ein Recht auf Einreise vor. Das Einreiserecht erfordert lediglich, dass der Unionsbürger einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führt, und ist an keine weiteren materiellen Voraussetzungen geknüpft (Art. 5 Abs. 1 FreizügRL). Dieses Recht ermöglicht es einem Unionsbürger einerseits, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen, um sich dort aufgrund einer anderen Vorschrift der FreizügRL aufzuhalten, andererseits kann das Recht auf Einreise grundsätzlich auch selbständig ausgeübt werden. Dies hat der EuGH kürzlich in seinem Urteil in der Rs. C-719/19 klargestellt. Demnach darf sich ein Unionsbürger, der über kein Aufenthaltsrecht aus der FreizügRL im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verfügt, trotzdem zu anderen Zwecken als zum dortigen Aufenthalt punktuell in dessen Hoheitsgebiet begeben.[4] Wesentlich komplexer sind die Regelungen der FreizügRL zum Aufenthaltsrecht selbst. Hier sieht die FreizügRL ein abgestuftes System vor.[5] Grundsätzlich unterscheidet die Richtlinie zwischen vorübergehenden Aufenthaltsrechten (Kapitel III) und dem Recht auf Daueraufenthalt, geregelt in Kapitel IV. Art. 6 FreizügRL gewährt ein sog. kurzfristiges Aufenthaltsrecht.[6] Demnach dürfen sich Unionsbürger bis zu drei Monate in einem anderen Mitgliedstaat der EU aufhalten und benötigen hierzu lediglich einen gültigen Personalausweis oder Reisepass. Allerdings dürfen sie gem. Art. 14 Abs. 1 FreizügRL in diesem Zeitraum die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmestaates nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Ein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten steht einem Unionsbürger gem. Art. 7 Abs. 1 FreizügRL zu, wenn er entweder in diesem Mitgliedstaat arbeitet, mit Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht oder über ausreichende Existenzmittel für sich und seine Familienangehörigen sowie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt. Diese enumerativ aufgelisteten Bedingungen sollen ebenfalls verhindern, dass der Unionsbürger Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nimmt (vgl. Erwägungsgrund 10). Das Recht auf einen dauerhaften Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates ist in den Art. 16 ff. FreizügRL geregelt. Dieses entsteht gem. Art. 16 Abs. 1 FreizügRL grundsätzlich, wenn sich ein Unionsbürger rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat ausgehalten hat. Die Familienangehörigen eines Unionsbürgers haben ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht gem. Art 6 Abs. 2 bzw. Art. 7 Abs. 1 lit d und Abs. 2 FreizügRL, wenn sie den Unionsbürger, dem ein Aufenthaltsrecht zusteht begleiten oder ihm nachziehen. Relevant ist dies für diejenigen Familienangehörigen, die Drittstaatsangehörige sind und daher keine eigenständigen unionsbürgerlichen Einreise- und Aufenthaltsrechte besitzen.

Die FreizügRL soll zwar vornehmlich die Rechte der Unionsbürger und ihrer Familienmitglieder stärken (Erwägungsgrund 3). Sie respektiert jedoch auch die Zu- und Abwanderungskontrolle der Mitgliedstaaten als deren grundlegende Souveränitätsrechte sowie den Schutz der mitgliedstaatlichen Sozialsysteme vor übermäßiger Inanspruchnahme (Erwägungsgründe 10, 16). Dazu können die Aufnahmestaaten folglich auch eine „Entscheidung […] [treffen], die die Freizügigkeit von Unionsbürger und ihren Familienangehörigen beschränkt“ (Art. 15 FreizügRL). Solche mitgliedstaatlichen Maßnahmen sind dann aber wiederum im Lichte des primärrechtlichen Freizügigkeitsrechts auszulegen. Nach ständiger EuGH-Rspr. führt dies aufgrund der fundamentalen Bedeutung der Personenfreizügigkeit für die Union zu einer extensiven Auslegung der Individualrechte mit einer korrespondierenden restriktiven Auslegung der Beschränkungen.[7] Als solche Beschränkungen des Aufenthaltsrechts sieht die Richtlinie neben den Tatbestandsvoraussetzungen der einzelnen Aufenthaltstitel vor allem das Mittel der Ausweisung vor. Diese soll hier, insbesondere unter Berücksichtigung des EuGH Urteils vom 22.06.2021 in der Rs. C-719/19, beleuchtet werden. 

Möglichkeit der Ausweisung nach der FreizügRL: Die Nichtbestehens-Ausweisung gem. Art. 15 Abs. 1 FreizügRL 

Eine Ausweisungsverfügung kann aus zweierlei Gründen erfolgen: Entweder ein Unionsbürger verstößt gegen die öffentliche Sicherheit, Ordnung und Gesundheit, oder die Voraussetzungen für einen Aufenthalt (gem. Art. 6 oder 7 FreizügRL) sind nicht (mehr) erfüllt. Der ganz überwiegende Anteil derjenigen Ausweisungen, die Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen waren, erfolgte gestützt auf Art. 27 FreizügRL (im dt. Recht § 6 Abs. 1 FreizügG/EU) aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit. Die Voraussetzungen und Wirkungen einer solchen Ausweisung sind daher ganz überwiegend geklärt und sollen daher hier nicht zentraler Gegenstand der Betrachtung sein.[8]

Wesentlich weniger Aufmerksamkeit in Rechtsprechung und Literatur hat die Nichtbestehens-Ausweisung gem. Art. 15 Abs. 1 FreizügRL (im dt. Recht sog. Nichtbestehensfeststellung[9]) erfahren. Der Wortlaut des Art. 15 Abs. FreizügRL ist zunächst wenig aufschlussreich, enthält er doch vornehmlich Verfahrensgarantien und keine materiellen Voraussetzungen. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH regelt Art. 15 jedoch die Fälle, in denen “ein aufgrund der Richtlinie bestehendes Recht zum vorübergehenden Aufenthalt endet, insbesondere wenn ein Unionsbürger oder ein Angehöriger seiner Familie, dem in der Vergangenheit ein Recht auf Aufenthalt von bis zu drei Monaten oder für mehr als drei Monate nach Art. 6 bzw. Art. 7 der Richtlinie zustand, die Voraussetzungen für das betreffende Aufenthaltsrecht nicht mehr erfüllt und daher vom Aufnahmemitgliedstaat grundsätzlich ausgewiesen werden darf.[10] Dieses Ausweisungsrecht besteht aber nicht schrankenlos. Zum einen ist Art. 15 Abs. 1 FreizügRL aufgrund seiner systematischen Stellung nur auf die in Kapitel III normierten Aufenthaltsrechte (also solche aus Art. 6 und 7) anwendbar und nicht auf das Daueraufenthaltsrecht, welches im Kapitel IV der Richtlinie geregelt ist.[11]Darüber hinaus darf gem. Art. 14 Abs. 3 FreizügRL die Ausweisung nicht allein darauf gestützt werden, dass der Betroffene überhaupt Sozialhilfeleistungen in Anspruch nimmt, sondern nur auf eine übermäßige Inanspruchnahme solcher Leistungen. Auch Arbeitnehmer, Selbstständige oder mit Erfolgsaussicht Arbeitssuchende dürfen gem. Art. 14 Abs. 4 FreizügRL nicht durch eine auf Art. 15 Abs. 1 FreizügRL gestützte Ausweisungsverfügung ausgewiesen werden.[12]

Wirkung der Nichtbestehens-Ausweisung gem. Art. 15 Abs. 1 FreizügRL

Ungeklärt war bis dato, welche Anforderungen an das Erlöschen der Rechtswirkung einer Nichtbestehens-Ausweisung zu stellen sind, das zur Folge hätte, dass deren Adressat erneut unter Berufung auf Art. 6 FreizügRL in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einreisen und sich dort kurzfristig aufhalten dürfte. Diese Frage hat der EuGH nun in seinem Urteil in der Rs. C-719/19 geklärt. Dem Urteil liegt ein Rechtsstreit zwischen dem polnischen Staatsangehörigen FS und dem niederländischen Staat zugrunde. Die Niederlande wiesen den FS gem. Art. 15 Abs. 1 FreizügRL aus, nachdem er sein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 FreizügRL verloren hatte. FS kam dieser Ausweisung auch augenscheinlich (innerhalb der ihm zur Ausreise gesetzten Frist) nach und hielt sich vorübergehend bei Freunden in Deutschland auf. Einen Monat später wurde er jedoch von der niederländischen Polizei bei einem mutmaßlichen Ladendiebstahl in den Niederlanden aufgegriffen. Die Polizei nahm den FS in Verwaltungshaft, da sie befürchteten, dass er sich ansonsten der Ausländerkontrolle und insbesondere der Ausweisung entziehen würde. Hiergegen wehrte sich der FS gerichtlich. Er ist der Meinung, dass er, indem er die Niederlande verlassen und vorübergehend in Deutschland gewohnt habe, der Ausweisungsverfügung nachgekommen und diese somit erloschen sei. Jetzt stehe ihm wieder ein Aufenthaltsrecht in den Niederlanden nach Art. 6 FreizügRL zu. Der niederländische Raad van State (Staatsrat) hat den Fall dem EuGH vorgelegt (Vorabentscheidungsverfahren). Der Staatsrat wollte wissen, ob die Rechtswirkung einer Ausweisungsverfügung gem. Art. 15 FreizügRL bereits dann erlischt, wenn der ausgewiesene Unionsbürger das Hoheitsgebiet des Aufnahmestaates kurzfristig physisch verlässt. Für den Fall, dass ein kurzfristiges Verlassen nicht genügt, forderte das niederländische Gericht den EuGH auf zu entscheiden, für wie lange der Unionsbürger das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates verlassen muss, um die Ausweisungsverfügung zu erfüllen. 

Aus dem Wortlaut des Art. 15 FreizügRL selbst lässt sich kein Rückschluss auf die (zeitliche) Wirkung einer hierauf gestützten Ausweisungsverfügung ziehen.[13] Nach allgemeinem Verständnis des Begriffs der Ausweisung würde man davon ausgehen, dass das physische Verlassen des Hoheitsgebiets genügt, um diese zum Erlöschen zu bringen. Dieses traditionelle Verständnis kommt aber in Anbetracht der besonderen Situation des europäischen Binnenmarktes, bei dem es zumindest innerhalb des Schengen-Raums auch keine stationären Grenzkontrollen gibt, an seine Grenzen.[14] Die Durchsetzung einer Ausweisung ist mangels solcher Grenzkontrollen deutlich erschwert, kann der ausgewiesene Unionsbürger doch problemlos wieder in den Aufnahmestaat zurückkehren und sich dann dort wiederum auf ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 FreizügRL berufen. Dabei muss er sich noch nicht einmal bei den zuständigen Behörden anmelden (arg. ex. Art. 8 Abs. 1 FreizügRL). Der EuGH hat in seiner jüngsten Entscheidung festgestellt, dass 

“ … der Möglichkeit des Aufnahmemitgliedstaats, den Aufenthalt eines Unionsbürgers nach Art. 6 der Richtlinie 2004/38 zu beenden, die praktische Wirksamkeit genommen würde, wenn dieser am Ende seines dreimonatigen Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats angelangt ist, indem ihm faktisch ein Aufenthalt von mehr als drei Monaten in diesem Hoheitsgebiet ermöglicht würde, obwohl gegen ihn eine Ausweisung verfügt worden ist und die in Art. 7 dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Nach dieser Auslegung würde diesem Unionsbürger nämlich allein dadurch, dass er alle drei Monate die Grenze des Aufnahmemitgliedstaats überquert, in Wirklichkeit ein unbefristetes Aufenthaltsrecht zuerkannt, obwohl er zum einen die in Art. 7 dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen womöglich nicht erfüllt und sich zum anderen Art. 6 dieser Richtlinie, auf den er sich für die Zwecke dieses Aufenthalts ohne echte zeitliche Begrenzung beriefe, wiederum nur für Aufenthalte von bis zu drei Monaten gedacht ist, wie sich schon aus der Überschrift dieses letzten Artikels ableitet.[15]

Hierdurch würden im Ergebnis nicht nur die Grenzen zwischen dem vorübergehenden Aufenthalt und dem Daueraufenthalt in Frage gestellt, sondern auch das fragile Gleichgewicht zwischen dem Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen auf der einen Seite und dem Schutz des Sozialhilfesystems des Aufnahmemitgliedstaats auf der anderen, das die Richtlinie versucht zu gewährleisten.[16] Ein Unionsbürger könnte mit dem Aufnahmemitgliedstaat gewissermaßen Katz‘ und Maus spielen und sich ständig neue Kurzaufenthalte erschleichen.

Dieses Problem stellt sich freilich nur dann, wenn mit der Ausweisungsverfügung nicht gleichzeitig ein Einreise- bzw. Aufenthaltsverbot ausgesprochen werden darf. Dann könnte sich der ausweisende Staat nämlich unabhängig von der zeitlichen Wirkung der Ausweisungsverfügung auf das Einreise- bzw. Aufenthaltsverbot berufen, um den Unionsbürger von seinem Staatsgebiet fernzuhalten. Für den Fall einer Ausweisung wegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Sicherheit, Ordnung und Gesundheit sieht die FreizügRL genau diese Möglichkeit vor: die Ausweisungsverfügung kann mit einem (befristeten) Aufenthaltsverbot bzw. einem Einreiseverbot verbunden werden (Art. 27 Abs. 1 FreizügRL; im deutschen Recht § 6 Abs. 1 S. 2 FreizügG/EU).[17] Im Falle der Nichtbestehens-Ausweisung ist die Verhängung eines Einreiseverbots aber explizit ausgeschlossen (Art. 15 Abs. 3 FreizügRL).

Aufgrund dieses Verbots lehnt auch der EuGH den Vorschlag ab, dass der Ausgewiesene sich für einen gewissen Zeitraum (bspw. 3 Monate, wie von den Niederlanden gefordert) in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten muss, damit die Ausweisungsverfügung erlischt. Durch ein solches Erfordernis würde der Ausweisungsverfügung nämlich de facto eine einreise- bzw. aufenthaltsverbietende Wirkung zukommen, was Sinn und Zweck des Art. 15 Abs. 3 FreizügRL widerspräche.[18] Auch die Grenze zu einer Ausweisung nach Art. 27 FreizügRL würde verschwimmen. An eine solche Ausweisung werden bereits auf Tatbestandsebene wesentlich höhere Anforderungen gestellt als an eine Nichtbestehens-Ausweisung. So genügt allein eine strafrechtliche Verurteilung noch nicht, sondern das persönliche Verhalten des Betroffenen muss “eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt” (Art. 27 Abs. 2 FreizügRL). Generell müssen die Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach ständiger EuGH-Rechtsprechung eng ausgelegt werden. Die von den Niederlanden geforderte extensive Auslegung der Rechtsfolgen einer Ausweisung nach Art. 15 Abs. 1 durch eine Angleichung an die Folgen einer Ausweisung nach Art. 27 Abs. 1 wird der Konzeption der Richtlinie und den allgemeinen Wertungen im Freizügigkeitsrecht (s.o.) daher nicht gerecht.[19]

Dies führt zu einem Dilemma: Fordert man, dass sich der Betroffene für einen gewissen Zeitraum in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten muss, damit die Ausweisungsverfügung erlischt, wird eine eindeutige sekundärrechtliche Regel umgangen, in dem einer Verfügung eine Wirkung zugesprochen wird, die diese nach einer strikten Wortlautauslegung nicht haben kann. Praktisch würde dem Art. 15 Abs. 1 FreizügRL aber andererseits jegliche Wirksamkeit genommen, ginge man davon aus, dass es ausreichen würde, wenn der Ausgewiesene das Hoheitsgebiet des ausweisenden Staates nur kurzfristig verlässt, um sogleich zurückzukehren.

Einen Ausweg aus diesem Dilemma hat der EuGH nun erstmals aufgezeigt. Wie bereits von GA Rantos in seinen Schlussanträgen vorgeschlagen, stellt der EuGH fest, dass der ausgewiesene Unionsbürger seinen vorübergehenden Aufenthalt im Hoheitsgebiet des ausweisenden Staates tatsächlich und wirksam beendet haben muss. Hierbei sind laut EuGH “sämtliche Umstände zu berücksichtigen, die eine Lösung der Bindungen zwischen dem betreffenden Unionsbürger und dem Aufnahmemitgliedstaat erkennen lassen. Ein Antrag auf Löschung in einem Einwohnermelderegister, die Kündigung eines Miet- bzw. Pachtvertrags oder eines Vertrags über die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen wie Wasser oder Elektrizität, ein Umzug, die Abmeldung von einem Dienst zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt oder die Beendigung sonstiger Beziehungen, die mit einer gewissen Integration dieses Unionsbürgers in diesen Mitgliedstaat einhergehen, können insoweit von gewisser Bedeutung sein.” Die Dauer des Zeitraums, indem ein Unionsbürger sich in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, kann bei dieser Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden, ist aber nicht ausschlaggebend.[20]

Diese Entscheidung muss von den nationalen Behörden des ausweisenden Staates unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls bewertet werden. Dabei sind laut EuGH vor allem solche Gesichtspunkte von Relevanz, die “die besondere Situation des betreffenden Unionsbürgers kennzeichnen”. Kommt man zu dem Ergebnis, dass eine tatsächliche und wirksame Beendigung nicht vorliegt, gilt die Ausweisungsverfügung als nicht vollstreckt. Hält sich der Unionsbürger weiterhin im Aufnahmestaat auf, muss die nationale Behörde keine erneute Ausweisungsverfügung erlassen – auch wenn er das Hoheitsgebiet zwischendurch kurzzeitig physisch verlassen hatte –, sondern kann sich auf die bereits ergangene Verfügung stützen, um ihn zu verpflichten, das Hoheitsgebiet zu verlassen.

Für eine solche Auslegung spricht nicht nur die Lösung des aufgezeigten Dilemmas, sondern auch die Monatsfrist, die dem Betroffenen nach Art. 30 Abs. 3 FreizügRL generell gewährt werden muss, um der Ausweisungsverfügung nachzukommen. Würde sich die Regelungswirkung der Ausweisung auf das bloß tageweise physische Verlassen des Hoheitsgebiets beschränken, bedürfte es einer solchen einmonatigen Schonfrist nicht. Diese soll vielmehr dem Betroffenen die Vorbereitung der tatsächlichen Ausreise ermöglichen.[21]

Durch diese Lösung wird dem Art. 15 Abs. 1 FreizügRL darüber hinaus ein hohes Maß an Effektivität verliehen: Rein praktisch wird es den Ausgewiesenen deutlich erschwert, ohne finanzielle Mittel (die ja Voraussetzung für ein mehr als dreimonatiges Aufenthaltsrecht nach Art. 7 FreizügRL sind) in den ausweisenden Staat zurückzukehren und dort erneut ihren Lebensmittelpunkt zu begründen: Beispielsweise müssen beim Abschluss eines Mietvertrags regelmäßig ausreichende finanzielle Mittel gegenüber dem Vermieter nachgewiesen werden. Damit wird der Sinn und Zweck des Art. 15 Abs. 1 FreizügRL erfüllt, die Sozialhilfesysteme der Mitgliedstaaten vor einer übermäßigen Inanspruchnahme zu schützen.

Unabhängig davon stellt der EuGH aber klar, dass es dem Unionsbürger jederzeit unbenommen bleibt, das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 FreizügRL in Anspruch zu nehmen: Im Falle einer materiellen Änderung der Umstände des Unionsbürgers, auf Grund derer dieser  nunmehr die Voraussetzungen des Art. 7 FreizügRL erfüllt, ist eine Rückkehr in den Aufnahmestaat wieder möglich. Die gegen ihn ergangene Ausweisungsverfügung verliert in diesem Fall ihre Wirkung.[22] Auch diese Regelung steht im Einklang mit Sinn und Zweck des Art. 15 Abs. 1 FreizügRL, besteht doch in diesem Falle keine Gefahr, dass das Sozialhilfesystem des Aufnahmestaates übermäßig belastet wird. Diese Gefahr wird schon durch die Voraussetzungen des Art. 7 FreizügRL gebannt.

Nach der Ausweisung ist vor der Ausweisung? 

Es bleibt die Frage zu beantworten, was gilt, wenn der Unionsbürger seinen Aufenthalt tatsächlich und wirksam beendet hat. Auch hierauf hat der EuGH in seiner jüngsten Entscheidung eine Antwort gegeben: Grundsätzlich kann der Unionsbürger anschließend jederzeit erneut seinen kurzfristigen Aufenthalt in dem Mitgliedstaat gestützt auf Art. 6 der FreizügRL begründen. Auch wenn sich der Unionsbürger zuvor bereits länger als 3 Monate in dem Mitgliedstaat aufgehalten hat und daher eigentlich nunmehr die Anforderungen des Art. 7 FreizügRL erfüllen muss, kommt dem tatsächlichen und wirksamen Verlassen des Hoheitsgebiets die Wirkung einer Zäsur zu. Dieses Verständnis fügt sich in die Systematik der FreizügRL ein. So fordert doch beispielsweise Art. 16 Abs. 1 FreizügRL, dass sich ein Unionsbürger rechtmäßig und ununterbrochen fünf Jahre lang in einem Mitgliedstaat aufgehalten haben muss, damit er ein Daueraufenthaltsrecht erwerben kann. Auch hier kommt der tatsächlichen und wirksamen Beendigung des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat eine Zäsur Wirkung zu, die dazu führt, dass sich der Unionsbürger erneut fünf Jahre in einem Mitgliedstaat aufhalten muss, um eine Daueraufenthaltsrecht gemäß Art. 16 Abs.1 FreizügRL zu erwerben.

Fazit

Der EuGH schließt mit seiner jüngsten Entscheidung überzeugend bestehende Lücken im Ausweisungsschutz. Durch die Einführung des Erfordernisses einer tatsächlichen und wirksamen Beendigung des Aufenthaltes für das Erlöschen einer Ausweisungsverfügung nach Art. 15 Abs. 1 FreizügRL sichert der EuGH ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Freizügigkeitsrecht als Kerngarantie ihrer Unionsbürgerschaft und dem berechtigten Interesse der Mitgliedstaaten zum Schutz ihrer Sozialhilfesysteme vor unangemessener Inanspruchnahme. Wann ein Unionsbürger den Aufenthalt aber tatsächlich und wirksam beendet hat, muss weiterhin im Einzelfall entschieden werden. Der EuGH gibt den nationalen Gerichten zwar Kriterien an die Hand. Es bleibt aber abzuwarten, inwiefern diese Kriterien für die mitgliedstaatlichen Gerichte praktikabel sind, oder ob es einer weiteren Präzisierung durch den EuGH bedarf. Mit dieser Grundsatzentscheidung zu Ausweisungen nach Art. 15 FreizügRL öffnet der Gerichtshof sicherlich die Tore für weitere Vorabentscheidungsersuche in diesem Bereich.

*Ass. iur. Karoline Dolgowski, Master II en droit (Lille-Warwick) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Thomas Giegerich an der Universität des Saarlandes.

Dipl.-Jur. Dennis Traudt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand ebenda.


[1] Für eine knappe Analyse der Entscheidung siehe Dolgowski/Traudt, Bloße Ausreise genügt nicht, LTO, 22.06.2021, verfügbar unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/eugh-c71919-ausweisung-von-unionsbuergern-tatsaechliche-wirksame-beendigung-des-aufenthalts/; zuletzt abgerufen am 25.06.2021.

[2] Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (FreizügRL); ABl. L 158 v. 30.04.2004, S.77f.

[3] Giegerich, in: Schulze, Janssen, Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 4. Aufl., S. 417.

[4] EuGH, Urt. v. 22.06.2021, FS gegen Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid, Rs. C-719/19, Rn. 102.

[5] Ibid. Rn. 78.

[6] Kadelbach, in: Harje/Müller-Graff/Wollenschläger [Hrsg.), Europäischer Freizügigkeitsraum – Unionsbürgerschaft und Migrationsrecht, § 5 Rn. 83.

[7] Giegerich, in: Schulze, Janssen, Kadelbach, Europarecht, 4. Aufl., S. 416.

[8] Hier sei verwiesen auf eine umfassende Aufarbeitung in: Kadelbach, in: Hatje/Müller-Graf/Wollenschläger, (En. 6), § 5 Rn. 91 ff.; Kießling, in dies., § 6, Rn 17. ff; Interessant in diesem Zusammenhang: EuGH, Urt. 22.06.2021, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a, Rs. C-718/19: Der EuGH präzisierte in dieser Entscheidung die Anforderungen, die an nationale Vorschriften zu stellen sind, die die Vollstreckung einer gem. Art. 27 Abs. 1 FreizügRL ergangenen Ausweisung betreffen. Die FreizügRL selbst enthält hierzu keinerlei Regelung. Der EuGH stellte nun aber klar, dass Maßnahmen zur Vollstreckung einer Ausweisung nach Art. 27 Abs. 1 am Freizügigkeitsrecht zu messen sind. Er kam zu dem Ergebnis, dass eine solche Ausweisungsverfügung immer eine Beschränkung des Freizügigkeitsrechts darstellt, die aber gerechtfertigt sein kann, wenn sie ausschließlich auf dem persönlichen Verhalten der betroffenen Person beruht und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. Konkret entschied der EuGH, dass eine nationale Regelung, die für den Fall, dass ein Unionsbürger einer Ausweisungsverfügung nicht innerhalb der gesetzten Frist nachkommt, eine Haftmaßnahme für eine Höchstdauer von acht Monaten für die Zwecke der Abschiebung vorsieht, wobei diese Dauer gleich lang ist wie jene, die im nationalen Recht für Drittstaatsangehörige gilt, nicht (mehr) verhältnismäßig ist. 

[9] Kurzidem, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK Ausländerrecht, 29. Edition. Stand: 01.01.2021, § 5 FreizüG/EU Rn. 14.

[10] EuGH, C-719/19, Rn. 66, 71.

[11] GA Rantos, Schlussanträge v. 10.02.2021 zu FS gegen Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid, Rs. C-719/19, Rn. 45.

[12] EuGH, Urt. v. 10.09.2019, Chenchooliah, Rs. C‑94/18, Rn. 74.

[13] EuGH, C-719/19, Rn. 69.

[14] GA Rantos, Schlussanträge, C-719/19, Rn. 4.

[15] EuGH, C-719/19, Rn. 74.

[16] Ibid. Rn. 75.

[17] Art. 27 Abs. 1 spricht von der Möglichkeit von Beschränkungen zu denen natürlich auch Aufenthalts- und Einreiseverbote fallen, die dort im Gegensatz zu Art. 15 gerade nicht explizit ausgeschlossen sind. Für das deutsche Recht: Kurzidem, in: Kluth/Heusch (Hrsg.),BeckOK Ausländerrecht, 29. Edition. Stand: 01.01.2021, § 6 FreizüG/EU Rn. 35, § 7 Rn. 9.

[18] EuGH, C-719/19, Rn. 102.

[19] Ibid. Rn. 89, GA Rantos, Schlussnträge, Rn. 91ff.

[20] EuGH, C-719/19, Rn. 90f.

[21] Ibid. Rn. 80.

[22] Ibid. Rn. 95.

Suggested Citation: Dolgowski, Karoline, Traudt, Dennis, Katz‘ und Maus?: Die “Nichtbestehens-Ausweisung” im Lichte neuester EuGH Rechtsprechung, jean-monnet-saar 2021, DOI: 10.17176/20220509-101854-0

Print Friendly, PDF & Email