Robert Schuman – die Europäische Idee als Wunder

06.04.2022

Ein Beitrag von Merle Arndt und Nana Pazmann*

Ein Meilenstein der europäischen Geschichte ist die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950.[1] Ihr Autor, Jean-Baptiste Nicolas Robert Schuman, wurde am 29. Juni 1886 in Clausen, einem Stadtteil von Luxemburg, geboren.[2]

Der gebürtige Deutsche wuchs dreisprachig auf und wurde mit der Rückkehr Lothringens zu Frankreich zum französischen Staatsbürger.[3] Das deutsch-französische Verhältnis prägte fortwährend sein gesamtes Leben. Er selbst verstand sich zeitlebens als „Lorrain“.[4] Von seiner Mutter zum christlichen Glauben erzogen, engagierte sich Schuman sehr früh in katholischen Organisationen. Auch im öffentlichen Leben war er aktiv, so etwa in der Schülerverbindung Amicitia luxemburgensis[5], was er als Verlängerung seines kirchlichen Engagements verstand. Nach Absolvierung des französischen und anschließend des deutschen Abiturs begann er 1904 sein Studium der Rechtswissenschaft in Bonn, das er in München und Berlin fortsetzte und 1910 mit einer Promotion in Straßburg beendete.[6]

1911 wurde der junge Schuman in seinen Grundfesten erschüttert: Der Tod seiner Mutter traf ihn so tief, dass er überlegte, die Juristenlaufbahn zugunsten einer Priesterlaufbahn aufzugeben. Denn es war die verstorbene Mutter, die ihrem Sohn ihren tiefen Glauben nähergebracht hatte. Er machte die Religion dann zwar doch nicht zu seinem Beruf, verstand sein politisches Dasein dennoch zeit seines Lebens als christliche Aufgabe.[7] Nach seinem zweiten Staatsexamen im Jahr 1912 eröffnete er eine Anwaltskanzlei im damals deutschen Metz. Bei Kriegsausbruch 1914 wurde er aufgrund „schwächlicher Konstitution“ nicht eingezogen,[8] sondern musste für die deutsche Verwaltung arbeiten.[9]

Mit dem Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft aufgrund der Rückgliederung Elsass-Lothringens begann Schuman, sich in der französischen Politik zu engagieren. 1919 schloss er sich der Partei Union Républicaine Lorraine an und wurde 1920 Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung für die Region Moselle.[10] Durch sein Engagement in der katholischen Kirche war Schuman im mosellanischen Raum bekannt und genoss ein hohes Ansehen. Seine politische Laufbahn wurde jäh unterbrochen, als er 1941 von der Gestapo verhaftet wurde.[11] 1942 gelang ihm die Flucht; er lebte einige Jahre versteckt in Klöstern und kirchlichen Institutionen und beschäftigte sich dort viel mit spiritueller Literatur, insbesondere mit dem Werk von Thomas von Aquin.[12]  

Nach Kriegsende betrat Schuman 1946 wieder politisches Parkett. Nach einem einjährigen Intermezzo als französischer Finanzminister wurde er 1947 Ministerpräsident.[13] Er griff in diesem Amt eine politische Leitlinie auf, die in den 1920ern von Aristide Briand – leider vergeblich – postuliert wurde[14]: die europäische Versöhnung. 1947 schlug seine Regierung die Schaffung des Europarats vor. Später setzte er als Außenminister (1948-1952) in Verhandlungen Straßburg als dessen Sitz durch. Als Außenminister unterschrieb er 1949 den Gründungsvertrag der NATO.

Am 29. April 1950 reiste Schuman in seine Heimat Scy-Chazelles mit einem Dokument im Gepäck, das ihm Jean Monnet[15] mitgegeben hatte und das eine revolutionäre Idee enthielt: Monnet schwebte die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) vor. Diese beiden Materialien waren von großer Bedeutung für die Kriegsindustrie; eine Vergemeinschaftung dieser Ressourcen würde einen erneuten Kriegsausbruch faktisch unmöglich machen. Dabei strebte man zunächst die Vergemeinschaftung der französischen und deutschen Kohle- und Stahlproduktion an. Schließlich war Deutschland in beiden Weltkriegen Kriegstreiber; außerdem verfügte Deutschland mit dem Ruhrgebiet über große Reservoirs an Kohle und Stahl. Hier befürchtete man eine Vormachtstellung Deutschlands auf dem Stahlmarkt. Deutschlands Interesse an einem solchen Kompromiss lag darin, dass ihm als Kriegsverlierer eine Hand gereicht wurde, auf internationales Parkett zurückzukehren und den Nachbarstaaten wieder auf Augenhöhe zu begegnen.

Diese Situation machte sich Schuman zunutze. Er erkannte früh, dass auch nationale Interessen langfristig nur in Zusammenarbeit mit den europäischen Nachbarn zu erreichen sind:

„Nach zwei Weltkriegen haben wir erkannt, dass die beste Garantie für die Nation nicht mehr in ihrer glanzvollen Isolation liegt, auch nicht in ihrer eigenen Stärke, sondern in der Solidarität der Nationen, die sich vom gleichen Geist leiten lassen und gemeinsame Aufgaben im gemeinsamen Interesse übernehmen.“ – Robert Schuman[16]

Diese Idee galt zur damaligen Zeit als revolutionär. Bisher waren völkerrechtliche Beziehungen geprägt durch Verträge, die zwei oder mehr Staaten aus eigennützigen Motiven schlossen. Diese wurden von Behörden der Vertragsstaaten geschlossen und ausschließlich von diesen umgesetzt. Man war erpicht darauf, keinerlei Souveränitätsverlust zu erleiden.[17]

„Bis zum letzten Krieg manifestierte sich ihre Zusammenarbeit vor allem in Form von Bündnisverträgen, diesen kurzlebigen Konstellationen, die je nach Ambitionen und Ressentiments gebildet und wieder aufgelöst wurden.“ Robert Schuman[18]

Die EGKS sollte hier eine strukturelle Wende einleiten: Die Schaffung einer von den Nationalstaaten unabhängigen Kontrollbehörde, die sog. „Hohe Behörde“, die sich um die Umsetzung des Vertrags kümmerte, stellte eine Abkehr vom bisherigen Modell dar. Dies war die Geburtsstunde der Supranationalität: Hoheitliche Aufgaben werden auf einer über den Vertragspartnern stehenden Ebene durch eine mitgliedstaatsunabhängige Institution wahrgenommen.[19] Die Schaffung gemeinsamer, von den Regierungen der Mitgliedstaaten unabhängiger Organe, wie einem Gerichtshof und einer Gemeinsamen Versammlung, war zum damaligen Zeitpunkt beispiellos.

„Das Gefühl der Solidarität der Nationen wird über die mittlerweile überholten Nationalismen siegen. Diese hatten den Vorteil, dass sie die Staaten mit einer Tradition und einer soliden inneren Struktur ausstatteten. Auf diesen alten Fundamenten muss ein neues Stockwerk errichtet werden. Das Supranationale wird auf nationalen Fundamenten ruhen.“ – Robert Schuman[20]

Für solch avantgardistisches Denken war die große Mehrheit innerhalb der europäischen Bevölkerung aber noch nicht wirklich bereit. Dies zeigt sich auch an dem letztlich gescheiterten Versuch, eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu etablieren.[21]
Der Verlust eines derart bedeutenden Bereichs wie das Militär an eine supranationale Organisation erschien als undenkbare Beschneidung der nationalen Souveränität – zumindest in Frankreich; das noch entmilitarisierte und unter Besatzungshoheit stehende Deutschland ratifizierte hingegen den EVG-Vertrag.[22] Schuman stand also vor der großen Aufgabe, seinen Plan in Bezug auf Kohle und Stahl in einem Klima, das dem Vorschlag keineswegs gewogen war, politisch umzusetzen. Dabei benutzte er den Deckmantel der bloßen Verfolgung eigener nationaler Interessen, um die europäische Idee zu verwirklichen. Er knüpfte hierbei an bekannte Strukturen an, um innerhalb dieses Rahmens Revolutionäres auf den Weg zu bringen.

Konkret hieß das: Er führte den Franzosen die wirtschaftlichen Vorteile einer solchen Vereinigung für das eigene Land vor Augen. Frankreichs wirtschaftliche Lage war kritisch, was zu politischem Aufruhr führte.[23] Die Deutschen standen wirtschaftlich dank des Marshall-Plans und vorhandener Bodenressourcen verhältnismäßig schnell wieder auf den Beinen. Der Schuman-Plan sollte dazu verhelfen, gewissermaßen von der deutschen Prosperität profitieren zu können. Vordergründig lag dem Schuman-Plan also eine rein wirtschaftliche Motivation zugrunde.[24] Auch saß die Angst vor den Deutschen noch tief; eine Chance, diesen das Anzetteln eines neuen Kriegs erheblich zu erschweren, schien somit verlockend.

Die wirtschaftliche Integration, die wir gerade erreichen, ist auf Dauer nicht ohne ein Mindestmaß an politischer Integration denkbar. “ – Robert Schuman[25]

Sowohl der Krieg und seine Zerstörung als auch der befreiende Sieg waren ein Gemeinschaftswerk. Der Frieden, wenn er zu einem dauerhaften Sieg über den Krieg werden soll, muss von allen Völkern gemeinsam aufgebaut werden, auch von jenen, die sich gestern bekämpft haben und die Gefahr laufen, sich erneut in blutigen Rivalitäten zu begegnen. “ – Robert Schuman[26]

Schon in seiner Erklärung vom 9.5.1950 hat Robert Schuman deutlich gemacht, dass die europäische Integration von Kohle und Stahl für ihn nur ein Schritt auf dem Weg zu einer Wirtschaftsgemeinschaft sein sollte. Er dachte aber weiter in die Zukunft und verstand seinen Vorschlag als „ersten Grundstein einer europäischen Föderation […], die zur Bewahrung des Friedens unerläßlich ist.“[27]

Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass Monnet der geistige Vater des Schuman-Plans war, es jedoch Schumans politischem Einfluss und Geschick bedurfte, um diese Idee in die Realität umzusetzen.[28] Schuman war gewissermaßen die Hebamme der EU, Monnet ihr Vater. Er war sodann auch der erste Präsident des Europäischen Parlaments von 1958-1960. Schumans politisches Engagement wurde schon zu seinen Lebzeiten durch die Kirche gewürdigt[29], also bereits damals von dieser als christliches Werk betrachtet. Dies entsprach auch Schumans Selbstverständnis.

“Die Aufgabe des verantwortlichen Politikers besteht darin, diese beiden Betrachtungsweisen, die geistliche und die profane, in einer manchmal heiklen, aber notwendigen Synthese miteinander in Einklang zu bringen.” –Robert Schuman[30]  

Nach seinem Ableben soll sein politisches Engagement vom Vatikan mit der Seligsprechung gewürdigt werden. Dies setzt den heroischen Tugendgrad und den Nachweis eines Wunders voraus.[31] Der Tugendgrad wurde Robert Schuman am 19.6.2021 von Papst Franziskus zuerkannt. Das noch nachzuweisende Wunder könnte in der von Schuman maßgeblich mitbeeinflussten deutsch-französischen Versöhnung liegen[32] – hier bleibt die Entscheidung des Vatikans abzuwarten.

Beide Autorinnen sind studentische Hilfskräfte am Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und öffentliches Recht von Prof. Dr. Thomas Giegerich, L.LM.


[1] https://european-union.europa.eu/principles-countries-history/history-eu/1945-59/schuman-declaration-may-1950_de (24.02.2022).

[2] https://www.hdg.de/lemo/biografie/robert-schuman.html (24.02.2022).

[3] Böttcher, Klassiker des europäischen Denkens, 2014, S. 555.

[4] Pelt, Robert Schuman – Père de L’Europe, 2002, S. 55.

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Schuman (24.02.2022).

[6] https://www.hdg.de/lemo/biografie/robert-schuman.html (24.02.2022); Böttcher, Klassiker des europäischen Denkens, 2014, S. 555.

[7] Schuman, Pour l’Europe, 1963, S. 48.

[8] http://www.centre-robert-schuman.org/robert-schuman/seine-biographie?langue=de (24.02.2022).

[9] Pelt, Robert Schuman – Père de L’Europe, 2002, S. 18.

[10] https://www.robert-schuman.eu/en/robert-schuman-s-life-history (24.02.2022).

[11]http://www.centre-robert-schuman.org/robert-schuman/seine-biographie?langue=de (24.02.2022).

[12] Pelt, Robert Schuman – Père de L’Europe, 2002, S. 19.

[13] https://www.robert-schuman.eu/en/robert-schuman-s-life-history (24.02.2022).

[14] Streinz, Europarecht, 11. A. 2019, Rn. 11; Bieber/Epiney/Haag/Kotzur, Die Europäische Union, 14. A. 2022, § 1 Rn. 9.

[15] Siehe dazu Laura Katharina Woll, Saar Brief vom 09. Mai 2021, https://jean-monnet-saar.eu/?page_id=52941 (24.02.2022).

[16] Schuman, Pour l’Europe, 1963, S. 25 (von den Verfasserinnen ins Deutsche übersetzt).

[17] Streinz, Europarecht, 11. A. 2019, Rn. 11.

[18] Schuman, Pour l’Europe, 1963, S. 26 (von den Verfasserinnen ins Deutsche übersetzt).

[19] Herdegen, Europarecht, 23. A. 2022, S. 87 f.

[20] Schuman, Pour l’Europe, 1963, S. 19 f. (von den Verfasserinnen ins Deutsche übersetzt).

[21] Streinz, Europarecht, 11. A. 2019, Rn. 14; Herdegen, Europarecht, 23. A. 2022, S. 61; Bieber/Epiney/Haag/Kotzur, Die Europäische Idee, 14. A. 2022, § 1 Rn. 15.

[22] BGBl. 1954 II S. 342. Vgl. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, 2003, S. 169 ff.

[23] Böttcher, Klassiker des europäischen Denkens, 2014. S. 555 f.

[24] Ebd., S. 555.

[25] Schuman, Pour l’Europe, 1963, S. 102 (von den Verfasserinnen ins Deutsche übersetzt).

[26] Ebd., S. 34 (von den Verfasserinnen ins Deutsche übersetzt).

[27] https://european-union.europa.eu/principles-countries-history/history-eu/1945-59/schuman-declaration-may-1950_de (24.02.2022).

[28] Böttcher, Klassiker des europäischen Denkens, 2014, S. 577.  

[29] Verleihung des Großkreuzes des Ordens von Pius IX.

[30] Schuman, Pour l’Europe, 1963, S. 48 (von den Verfasserinnen ins Deutsche übersetzt).

[31]  https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/eu-gruendervater-robert-schuman-steht-vor-der-seligsprechung-17443420.html (24.02.2022).

[32] Ebd.; https://de.catholicnewsagency.com/story/eu-vater-und-ehrwuerdiger-diener-gottes-heroischer-tugendgrad-fuer-robert-schuman-8648 (20.03.2022).

Suggested CitationArndt/Pazmann, Robert Schuman – die Europäische Idee als Wunder, jean-monnet-saar 2022, DOI: 10.17176/20220406-141118-0.

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