Der Fall Kavala: ein Update? EGMR verurteilt Türkei wegen Nichtumsetzung des Kavala-Urteils von 2019, aber Kavala bleibt in Haft

Ein Beitrag von Miriam Schmitt*

Am 11.07.2022 entschied die Große Kammer des EGMR, dass die Türkei ihre Verpflichtung aus Art. 46 Abs. 1 EMRK im Fall Kavala verletzt habe.[1] Das Ministerkomitee des Europarats hatte der Türkei im Verfahren nach Art. 46 Abs. 4 EMRK vorgeworfen, das EGMR-Urteil vom 10.12.2019[2] nicht umgesetzt zu haben. In diesem hatte der EGMR eine Verletzung der Rechte von Osman Kavala aus Art. 5 Abs. 1, Art. 5 Abs. 4 und Art. 18 i.V.m. Art. 5 Abs. 1 EMRK festgestellt und Kavalas sofortige Freilassung angeordnet.[3]

Die Türkei machte geltend, dieser Verpflichtung dadurch nachgekommen zu sein, dass Kavala am 18.02.2020 freigesprochen und gegen Kaution freigelassen worden war.[4] Kavala wurde jedoch am gleichen Tag aufgrund neuer Vorwürfe erneut in U-Haft genommen.[5]  

Das Ministerkomitee sah in der Freilassung keine Umsetzung des Urteils, da die erneute Untersuchungshaft auf denselben vom EGMR bereits als unzureichend beurteilten Gründen beruhte.[6] Demgegenüber machte die türkische Regierung geltend, die neue U-Haft beruhe auf neuen Gründen, gegen die Kavala ggf. erneut Individualbeschwerde beim EGMR einreichen müsste.[7]

Zunächst musste der EGMR den maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung festlegen, ob sein vorausgegangenes Urteil umgesetzt wurde. Er entschied, dass dies der Tag sei, an dem das Ministerkomitee das Verfahren gem. Art. 45 Abs. 4 EMRK einleitet.[8] Des Weiteren betonte die Große Kammer, dass für die Beurteilung einer ausreichenden Umsetzung keine rein formale Betrachtungsweise, sondern eine Prüfung nach „Treu und Glauben“ vorzunehmen sei, die auch die „Schlussfolgerungen und den Geist des Urteils“ einbeziehe.[9] Der Gerichtshof sei gehalten, „hinter den äußeren Anschein zu blicken und die tatsächlichen Gegebenheiten zu untersuchen“, damit die Verpflichtung zur Umsetzung eines Urteils nicht ihrer Substanz beraubt werde.[10]

Im vorliegenden Fall gab es nur eine Möglichkeit zur Umsetzung des Urteils von 2019, nämlich die sofortige Freilassung Kavalas, weil nur so die fortdauernde Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK beendet werden kann.[11] Dies gilt umso mehr, als die Türkei auch wegen einer Verletzung des Missbrauchsverbots in Art. 18 EMRK i.V.m. Art. 5 Abs. 1 EMRK verurteilt wurde.[12]

Zu fragen ist mithin, ob die Freilassung Kavalas am 18.02.2020, unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten, als Umsetzung des Urteils zu qualifizieren ist. Der EGMR verneinte dies.[13] Zwar wurde Kavala formal freigelassen, er wurde jedoch nach eigenen Angaben aufgrund der neuen Anschuldigungen direkt in das Istanbuler Polizeipräsidium gebracht, ohne die Vorzüge des Freispruchs genießen zu können und wurde am nächsten Tag erneut dem Haftrichter vorgeführt.[14] Diese neuen Anschuldigungen beruhten außerdem auf Ereignissen, die im Zusammenhang mit den vom EGMR bereits 2019 geprüften Geschehnissen stehen. Es kann mithin nicht von neuen Umständen oder Ereignissen ausgegangen werden, die eine neue Anklage gerechtfertigt hätten. Eine bloße rechtliche Umwertung derselben Tatsachengrundlage, die schon einmal als Vorwand für eine Freiheitsentziehung missbraucht worden ist, kann nicht zulässig sein. Wenn ein Konventionsstaat die Möglichkeit hätte, immer neue strafrechtliche Ermittlungen in Bezug auf denselben Sachverhalt einzuleiten, wäre einer Umgehung des Art. 46 Abs. 1 EMRK Tür und Tor geöffnet. Eine solche Auslegung wäre daher mit Ziel und Zweck der Konvention unvereinbar. [15]

Neben der Feststellung der Verletzung von Art. 46 Abs. 1 EMRK verurteilte der Gerichtshof  die Türkei zudem zur Zahlung von 7500€ an Kavala, um dessen Auslagen im Verfahren nach Art. 46 Abs. 4 EMRK auszugleichen.[16] In einem solchen Vertragsverletzungsverfahren ist zwar Art. 41 EMRK nicht anwendbar, weil es allein dazu dient, die Effizienz des Überwachungsverfahrens zu erhöhen.[17] Im Interesse einer ordnungsgemäßen Rechtspflege müssen die dem Beschwerdeführer tatsächlich entstandenen notwendigen Auslagen jedoch ersetzt werden.[18]

Der EGMR klärte außerdem die Voraussetzungen eines Vertragsverletzungsverfahrens im Allgemeinen. Diese ergeben sich einerseits aus Art. 46 Abs. 4 EMRK, wonach sich ein Vertragsstaat weigern muss, einem rechtskräftigen Urteil des EGMR Folge zu leisten. Zudem soll nach dem Explanatory Report zum 14. Zusatzprotokoll der EMRK[19] und der Regel 11 der „Rules of the Committee of Ministers for the supervision of the execution of judgements and of the terms of friendly settlements“[20] ein Vertragsverletzungsverfahren nur bei Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen eingeleitet werden. Es dient dem Ministerkomitee als letztes Mittel, wenn es alle anderen ausgeschöpft hat, um die Umsetzung eines Urteils zu erreichen, so dass vor seiner Einleitung eine hohe Schwelle zu überwinden ist.[21] Der EGMR betonte jedoch, dass es nicht seine Aufgabe sei, die Ausübung dieser verfahrensrechtlichen Befugnis des Ministerkomitees zu hinterfragen.[22]

Der EGMR hat die Sache nach Art. 46 Abs. 5 Satz 1 EMRK an das Ministerkomitee zurückverwiesen, das weiter für die Durchsetzung des Urteils von 2019 zuständig bleibt.[23] Welche Maßnahmen dieses nun einleiten wird, nachdem das Versäumnis der Türkei bezüglich der Umsetzung des Urteils gerichtlich festgestellt wurde, bleibt abzuwarten.[24] Wie bereits in meinem letzten Saar Brief[25] dargestellt, stehen nach wie vor die Möglichkeiten der Suspendierung der Mitgliedschaftsrechte wie auch des Ausschlusses aus dem Europarat gemäß Art. 8 seiner Satzung (hypothetisch) im Raum.

Eine erste politische Konsequenz hat des neue EGMR-Urteil schon gehabt: Während des Türkei-Besuchs der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock kam es kürzlich zu einem öffentlichen Schlagabtausch zwischen ihr und dem türkischen Außenminister Cavusoglu, in dem die Bundesaußenministerin forderte, dass Urteilen des EGMR Folge zu leisten sei und Kavala freigelassen werden müsse.[26] Allerdings ist die Kooperation der Türkei mit ihren europäischen Partnerstaaten aus vielerlei Gründen – Ukraine-Krieg, Syrien, Libyen, Zypern, Flüchtlingskrise – derzeitig so wichtig wie selten zuvor. Deshalb wird der Druck, den sie zugunsten Kavalas auf die türkische Regierung ausüben, begrenzt bleiben. Angesichts der 2023 in der Türkei anstehenden Präsidentschaftswahl wird eine viel entscheidendere Rolle spielen, ob die dortige Opposition im Wahlkampf mit dem Kavala-Fall gegen den Amtsinhaber punkten kann – das würde Wunder wirken.

*Miriam Schmitt ist studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und öffentliches Recht von Prof. Dr. Thomas Giegerich, L.LM. und am Europa-Institut.


[1] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18.

[2] EGMR, Urteil vom 10.12.2019, Case of Kavala v. Turkey, Appl. No. 28749/18.

[3] Vgl, auch: Schmitt, Miriam, Die Türkei und der Europarat – ein sich zuspitzender Konflikt?, jean-monnet-saar 2022, DOI:10.17176/20220309-120328-0; abrufbar unter: https://jean-monnet-saar.eu/?page_id=158289 (zuletzt abgerufen am 06.08.2022).

[4] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 24, 95.

[5] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 25, 108.

[6] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 108.

[7] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 95, 112.

[8] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 135.

[9] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 130.

[10] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 162.

[11] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 147; EGMR, Urteil vom 10.12.2019, Case of Kavala v. Turkey, Appl. No. 28749/18 Rn. 240.

[12] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 169.

[13] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 174.

[14] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 119.

[15] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 143 ff.

[16] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 176.

[17] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 132.

[18] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 176.

[19] Explanatory Report to Protocol No. 14 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, amending the control system of the Convention, Council of Europe Treaty Series – No 194, Rn. 100.

[20] Rules of the Committee of Ministers for the supervision of the execution of judgements and of the terms of friendly settlements, adopted by the Committee of Ministers on 10 May 2006 at the 964th meeting of the Ministers’ Deputies and amended on 18 January 2017 at the 1275th meeting of the Ministers‘ Deputies.

[21] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 129.

[22] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 129 ff.

[23] EGMR, Urteil vom 11.07.2022, Proceedings under Article 46 § 4, in the case of Kavala v.Türkiye, Appl. No. 28749/18, Rn. 175.

[24] Tecimer, Cem, On Osman Kavala and Turkish Judicial Failures, VerfBlog, 2022/7/21, DOI: 10.17176/20220721-113625-0, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/on-osman-kavala-and-turkish-judicial-failures/ (zuletzt abgerufen am 04.08.2022).

[25] Schmitt, Miriam, Die Türkei und der Europarat – ein sich zuspitzender Konflikt?, jean-monnet-saar 2022, DOI:10.17176/20220309-120328-0, abrufbar unter: https://jean-monnet-saar.eu/?page_id=158289 (zuletzt abgerufen am 06.08.2022).

[26] WDR Nachrichten, Besuch in der Türkei: Baerbock fordert Freilassung von Kavala, 30.07.2022, abrufbar unter: https://www1.wdr.de/nachrichten/baerbock-tuerkei-kavala-opposition-100.html (zuletzt abgerufen am 05.08.2022).

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