09.07.2021
Ein Beitrag Thomas Giegerich
In meinem Saar Brief vom 20.1.2021 berichtete ich über eine weitere Verzögerung der europäischen Patentreform durch neue Verfassungsbeschwerden und Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Diese richteten sich gegen die Ausfertigung und Verkündung des (zweiten) Zustimmungsgesetzes zum Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht, ohne das Deutschland dieses EPGÜ gem. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG nicht ratifizieren darf, welches wiederum ohne deutsche Ratifikation nicht in Kraft treten kann. Ich appellierte an die der Integrationsverantwortung des BVerfG in ihrer europäischen Dimension, die dieses zur schnellstmöglichen Durchführung jener Verfahren veranlassen sollte, um die neuerliche Verzögerung in engen Grenzen zu halten.
Meine Hoffnung hat sich erfüllt: Mit heute veröffentlichtem Beschluss vom 23.6.2021 (2 BvR 2216/20, 2 BvR 2217/20) hat der Zweite Senat die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen. Ob der Beschluss einstimmig gefasst wurde, wird nicht mitgeteilt. Seine Begründung lautet, dass die Verfassungsbeschwerden in der Hauptsache unzulässig seien. Dies gelte sowohl für die Rüge einer Verletzung des Rechtsstaatsprinzips, des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz und von Verstößen gegen das Unionsrecht als auch für die Rüge einer unzulässigen Berührung der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität. Die Beschwerdeführer hätten entgegen § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung durch das Übereinkommen nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Gerügt worden waren einerseits Verletzungen von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 sowie Art. 79 Abs. 3 GG, andererseits von Art. 19 Abs. 4 i.V.m. Art. 97 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK (Art. 20 Abs. 3, Art. 79 Abs. 3 GG werden hier erstaunlicherweise nicht mit zitiert, obwohl des zweite Zustimmungsgesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 2 GG entsprechend den Vorgaben des BVerfG in seinem Beschluss vom 13.2.2020 [2 BvR 739/17] mit verfassungsändernder Mehrheit verabschiedet wurde]).
Von besonderem Interesse sind folgende Aspekte der Begründung des BVerfG: Soweit Verstöße gegen Unionsrecht gerügt würden, scheide eine Verletzung von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG von vornherein aus. Aus dem Unionsrecht ergäben sich keine formellen oder materiellen Anforderungen, welche die Gültigkeit deutscher Gesetze in Frage stellen könnten. Vor diesem Hintergrund könne die Verletzung von Unionsrecht – von einer Verletzung der Grundrechte der Grundrechtecharta abgesehen – grundsätzlich nicht mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden (Rn. 70 mit Nachweisen aus der früheren BVerfG-Rechtsprechung). Die Verfassungsbeschwerde bleibt also im Wesentlichen ein Integrationsverhinderungsinstrument und kann zum Schutz und zur Durchsetzung des Unionsrechts nur begrenzt eingesetzt werden.
Ein Beschwerdeführer hatte sich insbesondere gegen Art. 20 EPGÜ gewandt und damit einen Einwand aufgegriffen, den das BVerfG selbst in seinem Beschluss vom 13.2.2020 (Rn. 166) geäußert hatte. Dieser Einwand besagt, dass „die Festschreibung des unbedingten Vorrangs des Unionsrechts in Art. 20 EPGÜ gegen Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG“ verstoßen könnte, was damals aber nicht zu entscheiden war, weil das verfahrensgegenständliche (erste) Zustimmungsgesetz zum EPGÜ bereits aus anderen Gründen für nichtig erklärt wurde. Art. 20 EPGÜ verpflichtet das Einheitliche Patentgericht als gemeinsames Gericht der EPGÜ-Mitgliedstaaten dazu, das Unionsrecht in vollem Umfang anzuwenden und seinen Vorrang zu achten.
Im Beschluss vom 23.6.2021 führt das BVerfG dazu nun näher aus, seine europaverfassungsrechtlichen Kontrollvorbehalte – d.h. die vom BVerfG beanspruchte Ultra-vires-Kontrolle und Identitätskontrolle (die m.E. weder mit dem Unionsrecht noch mit dem integrationsoffenen Grundgesetz vereinbar sind [näher Giegerich, BVerfG verzögert europäische Patentreform, EuZW 2020, 560 [564 f.]) – stünden einem uneingeschränkten Anwendungsvorrang des Unionsrechts entgegen. „Die ihnen zugrunde liegenden Anforderungen des Grundgesetzes binden alle Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland und dürfen weder relativiert noch unterlaufen werden.“ (Rn. 75) Das BVerfG weist zutreffend darauf hin, dass EUV und AEUV keine ausdrückliche Festlegung zum Vorrang des Unionsrechts enthalten und sich dadurch vom nie in Kraft getretenen Vertrag über eine Verfassung für Europa vom 29.10.2004 (ABl. 2004 C 310/12), den sie ersetzen, unterscheiden. Die Erklärung Nr. 17 zum Vorrang im Anhang zur Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon vom 13.12.2007 (ABl. 2012 Nr. C 326/346) schreibe nur den Status quo ante fest, so dass gegen sie keine verfassungsrechtlichen Einwände bestünden (Rn. 76).
Vor diesem Hintergrund interpretiert das BVerfG Art. 20 EPGÜ in sinnvoller Weise so, dass er nur die Vereinbarkeit des EPGÜ mit dem Unionsrecht gewährleiste, nicht hingegen eine über den Status quo hinausgehende Regelung des Verhältnisses des Unionsrechts zum nationalen Verfassungsrecht treffen solle (Rn. 77). Zur Bestätigung verweist der Senat auf die entsprechende Auffassung der Bundesregierung sowie die Protokollerklärungen von vier Ländern im Bundesrat, nicht ohne anzumerken, dass die Bundesregierung ihr Verständnis von Art. 20 EPGÜ den anderen Vertragsmitgliedstaaten des EPGÜ nicht mitgeteilt habe (Rn. 78 ff.).
Da das BVerfG nur die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen hat, sind die Verfassungsbeschwerden in der Hauptsache weiter anhängig. Zwar hat der Senat als Begründung für die Zurückweisung der Anträge nach § 32 BVerfGG die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerden angeführt, diese jedoch allein auf deren mangelnde Substantiierung gestützt. Verfassungsbeschwerden gegen Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen können – wie im vorliegenden Fall – ausnahmsweise bereits vor deren Ausfertigung und Verkündung eingelegt werden, um den Eintritt der völkerrechtlichen Bindung zu verhindern, die möglicherweise nicht mehr rückgängig gemacht werden kann (Rn. 48). Die eigentliche Beschwerdefrist, die bei Angriffen gegen ein Gesetz ein Jahr nach dessen Inkrafttreten beträgt (§ 93 Abs. 3 BVerfGG), hat im vorliegenden Fall noch gar nicht zu laufen begonnen, weil das zweite Zustimmungsgesetz zum EPGÜ bisher noch gar nicht verkündet wurde. Deswegen bleibt es den Beschwerdeführern unbenommen, im Laufe der kommenden Monate ihre Verfassungsbeschwerden weiter zu substantiieren und damit möglicherweise noch zulässig zu machen. Ob ihnen das gelingt, ist im Hinblick auf die Ausführungen des BVerfG allerdings fraglich, obwohl z.B. Rn. 58 des Beschlusses Hinweise zur Substantiierung gibt und damit eine gewisse Unsicherheit bestehen lässt.
Aller Voraussicht nach werden die Verfassungsbeschwerden aber jedenfalls in der Sache keinen Erfolg haben. Das EPGÜ enthält nämlich keine Kündigungsklausel, sondern wird im Gegenteil nach seinem Art. 86 auf unbegrenzte Zeit geschlossen. Daher ist es nach Maßgabe der in Art. 56 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.5.1969 (BGBl. 1985 II S. 926) kodifizierten Regel des Völkergewohnheitsrechts unkündbar. Das BVerfG hätte deshalb bei ernsthaften Bedenken gegen die Vereinbarkeit des EPGÜ mit Art. 79 Abs. 3 GG den Weg zu dessen Ratifikation gewiss nicht geebnet. Nach alledem scheint die unendliche Geschichte der europäischen Patentreform zu einem guten Ende zu kommen.
Suggested Citation: Giegerich, Thomas, Die unendliche Geschichte der europäischen Patentreform scheint zu einem guten Ende zu kommen, jean-monnet-saar 2021, DOI: 10.17176/20220428-124323-0