Der Gerichtshof der Europäischen Union weist die Klagen der Slowakei und Ungarns gegen die Notfallumsiedlung von Schutzsuchenden aus Griechenland und Italien ab. Diese kurze Besprechung zeigt: mit durchaus guten Gründen.
Ein Beitrag von Michael Schuberth*
I. Einordnung:
Die Verfahren C-643/15 und C-647/15 wurden auf diesem Blog von Beginn an begleitet.[1] Fast zwei Jahre nach Erlass des streitgegenständlichen Beschlusses folgte nun am 06. September 2017 das mit Spannung erwartete Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union.[2] Der EuGH wies die Nichtigkeitsklagen gegen den Beschluss zur Umverteilung von Schutzsuchenden[3] vollumfänglich ab. Der vorliegende Beitrag soll die rechtlichen Erwägungen und tragenden Gründe des Urteils darstellen (II.) und die entscheidenden Punkte kurz bewerten (III.), um dann mit einem kurzen Fazit zu enden (IV.).
II. Rechtliche Erwägungen
Die Richter gehen in ihrem Urteil auf fast alle vorgebrachten Klagegründe der beiden Antragsteller ein. Es sollen hier jedoch nur die tragenden Gründe dargestellt werden.
Der EuGH stellt zunächst fest, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV die taugliche Rechtsgrundlage sei, um den in Streit stehenden Beschluss zu fassen. Insbesondere sei die Norm nicht darauf beschränkt, ergänzende Maßnahmen operativer oder finanzieller Natur zu erlassen. Vielmehr sei auch das Abweichen von Gesetzgebungsakten möglich.[4] Damit wurde die bereits im ersten Beitrag aufgezeigte Frage[5], ob ein solches Vorgehen von der Notlagenkompetenz umfasst sei, durch die höchstrichterliche Rechtsprechung beantwortet. Der Gerichtshof macht diese weite Interpretation zunächst daran fest, dass der Wortlaut offen sei und daher keine Anhaltspunkte für eine beschränkte Auslegung allein aus diesem Grund vorlägen.[6] Vor allem aber stellt er auf den Sinn und Zweck der Norm ab. Als Notlagenkompetenz müsse die Norm ein effektives Instrument zur Bekämpfung einer Notsituation darstellen.[7]
Allerdings setzt der EuGH auch eindeutige Grenzen: Es dürfe nicht zu einer Umgehung der Voraussetzungen des Art. 78 Abs. 2 AEUV kommen. Die aufgrund Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassenen Maßnahmen dürften deshalb keine Gesetzgebungsakte ersetzen und dürften nicht zu einer permanenten und generellen Änderung bestehender Gesetzgebungsakte führen.[8]
Als nächstes widmet sich der Gerichtshof den Tatbestandsvoraussetzungen und den Rechtsfolgen des Art. 78 Abs. 3 AEUV. Vorweg stellt er fest, dass dem Rat aufgrund der prekären Lage hierbei eine weite Einschätzungsprärogative zukomme.
Zu dem im Tatbestand geforderten Zusammenhang zwischen dem plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen und der Notlage führen die Richter aus, dass unabhängig von der jeweiligen Sprachfassung des Art. 78 Abs. 3 AEUV – in manchen heißt es (übersetzt) „characterized“ in manchen „caused“ – jedenfalls eine hinreichend enge Verknüpfung zwischen Ereignis und Folge bestehen müsse. Das Vorliegen anderer Umstände – hier wurde von Seiten der Antragsteller auf die strukturellen Mängel der Asylsysteme Griechenlands und Italiens hingewiesen – sei nicht von Relevanz.[9]
Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass auch die zukünftige, von einem Durchführungsbeschluss abhängige Verteilung von 54.000 Antragstellern gem. den Vorgaben des Art. 4 Abs. 2, 3 und 7 des Beschlusses von der Rechtsgrundlage gedeckt sei und schließt sich damit den Erwägungen des Generalanwaltes an. Unter erneutem Verweis auf die Einschätzungsprärogative wird ausgeführt, dass nur durch solche Anpassungsmechanismen einer gegebenenfalls eintretenden Änderung der Situation Rechnung getragen werden könne.[10]
Bei der Frage nach der Einhaltung der Verfahrensvorschriften soll auf drei Punkte eingegangen werden. Zunächst bestätigt der Gerichtshof die Ansicht[11], dass den aufgrund von Art. 68 AEUV erlassenen Schlossfolgerungen im Ergebnis keine rechtlich bindende Wirkung zukommt.[12] Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25./26. Juni 2015[13], in denen ein Einstimmigkeitserfordernis für die Umverteilung von Schutzsuchenden vereinbart wurde, seien zum einen eindeutig auf die freiwillige Umverteilung von 40.000 Antragstellern im Beschluss vom 14. September 2016[14] bezogen. Zum anderen sei es auch ohnehin mit dem Grundsatz des Institutionellen Gleichgewichts nicht vereinbar, wenn es dem Europäischen Rat möglich wäre, die in den Verträgen vorgesehenen Verfahrensregeln zu ändern.[15]
Im Rahmen der Frage der ordnungsgemäßen Anhörung des Europäischen Parlaments wird darauf abgestellt, dass es über die durchaus wesentlichen Änderungen nach der ersten Anhörung stets informiert gewesen sei. Die Frage nach der Echtheit der von Ungarn vorgelegten Urkunden[16] lässt der Gerichtshof offen.[17]
Daneben brachten die Antragsteller vor, dass der Beschluss aufgrund der Abänderung des ursprünglichen Kommissionsvorschlages hätte einstimmig ergehen müssen, Art. 293 Abs. 1 AEUV. Auch dieses Vorbringen weist der Gerichtshof zurück. Es läge ein Fall des Art. 293 Abs. 2 AEUV vor, also eine Abänderung des Vorschlages durch die Kommission selbst. Die Kommission sei durch ihre beiden Vertreter in den Verhandlungen des Rates vertreten worden. Er führt hier seine Rechtsprechung insoweit fort, als dass er im Rahmen des Art. 293 Abs. 2 AEUV keine Formanforderungen an die Abänderung stellt; vielmehr sei hier ein gewisser Grad an Flexibilität erforderlich.[18] Noch flexibler sei man erst recht im Lichte der Notfallsituation in Fällen des Art. 78 Abs. 3 AEUV.[19] Entscheidend sei alleine, dass das Initiativrecht der Kommission nicht ausgehöhlt werde. Art. 13 der Geschäftsordnung der Kommission[20], der die Beschlussfassung der Kommission im Wege der Ermächtigung regelt, müsse seinerseits im Kontext des Art. 293 Abs. 2 AEUV erweitert ausgelegt werden.[21]
Zur Frage der Verhältnismäßigkeit des Beschlusses stellt der EuGH zunächst fest, dass er aufgrund des – im Rahmen solcher essentiell politischen Entscheidungen – bestehenden Einschätzungsspielraumes seinen Prüfungsumfang zurücknehme.[22] Dann stellt er fest, dass die Maßnahme entgegen der Ansicht der Antragsteller nicht offensichtlich ungeeignet sei, das Ziel – den Migrationsdruck auf die besonders betroffenen Mitgliedstaaten Italien und Griechenland zu reduzieren – zu erreichen. Bei dem vorliegenden Maßnahmenbündel[23] sei eine Gesamtbetrachtung erforderlich; die Maßnahmen könnten hinsichtlich ihrer Geeignetheit nicht isoliert betrachtet werden.[24] Vor allem aber führt er aus, dass zur Beantwortung der Frage der Geeignetheit eine ex-ante-Betrachtung unter besonderer Berücksichtigung der damals vorhandenen Informationslage durchzuführen sei.[25] Der Rat habe seinerzeit nicht vorhersehen können, dass die Umverteilung, insbesondere auch aufgrund der mangelnden Kooperationsbereitschaft einiger Mitgliedstaaten, derart zäh durchgeführt werde.
Der Beschluss ist nach Ansicht des Gerichtshofes auch erforderlich. Es habe zum damaligen Zeitpunkt kein milderes Mittel gegeben, dass gleich effektiv sei und genauso schnell habe erlassen werden können.[26]
Auch den Vorwurf Ungarns, der Beschluss sei deshalb unverhältnismäßig, weil Ungarn selbst in einer Notlage gewesen sei[27], weisen die Richter zurück. Hier wird ausgeführt, dass der Gerichtshof keinesfalls die Auswirkungen der Umsiedlung auf die Zielstaaten verkenne. Diese Belastung sei aber nach dem Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten aufzuteilen. Insbesondere sei dem Rat schon deshalb kein Vorwurf zu machen, Ungarn zum Aufnahmestaat zu machen, weil es aufgrund eigener Initiative aus der im ursprünglichen Kommissionsvorschlag bestehenden Begünstigung herausgenommen wurde.[28] Überdies gäbe es zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit zahlreiche Anpassungs- und Entlastungsmechanismen für besonders betroffene Aufnahmestaaten, von denen Ungarn – im Unterschied etwa zu Schweden oder Österreich – bislang keinen Gebrauch gemacht habe.[29]
Der EuGH geht an dieser Stelle trotz der verfahrensrechtlichen Unzulässigkeit[30] des Vorbringens Polens als Streithelfer ein, die Unverhältnismäßigkeit rühre daher, dass der Beschluss auf ethnisch nahezu homogene Staaten wie Polen („virtually ethnically homogeneous, like Poland“[31]) eine stärkere Auswirkung habe. Solche Erwägungen stünden eindeutig im Widerspruch zum Recht der Europäischen Union und im Speziellen zu Art. 21 GrCh.[32]
Zuletzt bezieht der EuGH Stellung zur Vereinbarkeit des Beschlusses mit den über Art. 18 GrCh implementierten Anforderungen der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)[33]. Die Antragsteller konkretisierten den bereits in den Klagegründen erhobenen Vorwurf dahingehend, dass der Beschluss gegen den Punkt 192 des Handbuches über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft[34] und damit im Ergebnis gegen die GFK selbst verstieße. Es sei unzulässig, dass Antragsteller nicht in dem Mitgliedstaat ihrer Antragstellung verbleiben dürfen. Der Gerichtshof stellt hierzu fest, dass es sich bei dem zitierten Punkt um eine spezielle Ausprägung des refoulement-Verbotes handele. Dieses verbiete aber nicht die Umsiedlung des Antragstellers in einen anderen, die Vorgaben der GFK beachtenden, Mitgliedstaat der Europäischen Union. Ein Antragsteller habe nicht das Recht, sich seinen zuständigen Mitgliedstaat auszusuchen. Vielmehr sei der Beschluss gerade notwendig, um den Schutzsuchenden ihre Rechte aus Art. 18 GrCh zu gewährleisten.[35]
III. Bewertung
Das Urteil erfüllte größtenteils die Hoffnung, die bereits am Ende des letzten Beitrages[36] geäußert wurde. Der Gerichtshof griff die Vorlage des Generalanwaltes auf und untermauerte das Urteil, vor allem dort wo die Schlussanträge etwas ausführlicher hätten sein können, mit guter Begründung. Die lang ersehnte Beantwortung der Frage der Reichweite des Art. 78 AEUV wurde geklärt. Dies ist nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht erfreulich, sondern auch deshalb von immenser praktischer Bedeutung, weil in diesem Bereich nun eine größere Rechtssicherheit herrscht. Kommission und Rat wissen nun, dass ihnen im Falle einer durch einen plötzlichen Zustrom an Drittstaatsangehörigen ausgelösten Notlage dank dieser Rechtsgrundlage ein schnelles und effektives Handeln möglich ist. Begrüßenswert ist insofern, dass sich der EuGH hier im Sinne der Effektivität gegen die wohl vormals herrschende Ansicht in der Literatur gestellt hat. Um die von dieser Ansicht befürchteten Umgehung des Art. 78 Abs. 2 AEUV zu verhindern, genügen die Anforderungen, die der EuGH aufstellt; auch wenn die Voraussetzung, dass eine Maßnahme unter Art. 78 Abs. 3 AEUV nur temporär sein darf, schon geschriebenes Tatbestandsmerkmal ist.
Bemerkenswert aber auch folgerichtig ist, dass der EuGH die ohnehin im Rahmen des Art. 293 Abs. 2 AEUV bestehende Flexibilität bei der Abänderung von Vorlagen durch die Kommission selbst, im Kontext des Art. 78 Abs. 3 AEUV noch stärker im Vordergrund sieht. Es wäre nämlich im Sinne der Effektivität und Handlungsgeschwindigkeit nicht sinnvoll, einerseits den Anwendungsbereich des Art. 78 Abs. 3 AEUV weit, aber andererseits die Voraussetzungen an eine Änderung der Initiative eng zu fassen. Auch wenn eine zu extensive Auslegung von Normen im Sinne der Effektivität der Gefahrenabwehr stets mit Vorsicht zu betrachten ist, stößt die Auslegung des EuGH im vorliegenden Fall auf keinerlei Bedenken. Die anerkannten Methoden der Auslegung rechtfertigen dieses Ergebnis nicht nur, sie führen fast zwangsläufig zu diesem hin. Im Anwendungsbereich des Art. 78 Abs. 3 AEUV prüft der EuGH schulbuchmäßig die Auslegung anhand Wortlaut und Telos und kommt so zu Recht zu einer weiten Lesart; die Herren der Verträge wollten sicherlich keine Notlagenkompetenz schaffen, die im Ernstfall lediglich ein stumpfes Schwert darstellen würde[37]. Die Gefahr der Umgehung des Art. 78 Abs. 2 AEUV besteht bei Anwendung der vom EuGH aufgestellten Kriterien kaum, denn eine dauerhafte Abweichung von Gesetzgebungsakten kann hierüber nicht erfolgen. Daneben ist auch die im Rahmen des Art. 293 Abs. 2 AEUV vorhandene und im Bereich der Notlagenkompetenz jetzt noch erweiterte Flexibilität ebenfalls unproblematisch. Der EuGH verlangt hier, dass das vom Institutionellen Gleichgewicht der Kommission zugeordnete Initiativrecht nicht ausgehöhlt werden darf.[38] Dies ist auch bei einem weiten Verständnis der Anforderungen des Art. 293 Abs. 2 AEUV gewährleistet; die Kommission bleibt auch bei Vertretung durch eines oder mehrere ihrer Mitglieder in den Verhandlungen des Rates Herrin ihrer Initiative. Das Verlangen nach einer förmlichen Änderung wäre übertriebener Formalismus.
Dass der EuGH im Rahmen der Verhältnismäßigkeit nicht den Antragstellern folgt, war abzusehen. Konsequent war, dass er den Umstand, dass Ungarn sich selbst aus dem Umverteilungsmechanismus als begünstigter Mitgliedstaat herausnahm, im Ergebnis zu Lasten Ungarns auslegte. Der EuGH machte – wie oben bereits ausgeführt – deutlich, dass eine Einbeziehung Ungarns als Zielstaat aus Sicht des Rates zum damaligen Zeitpunkt deshalb nicht zu beanstanden war.[39] Letztlich blieb also das widersprüchliche Verhalten Ungarns, auch wenn es sich bei der Nichtigkeitsklage um ein objektives Rechtsbeanstandungsverfahren handelt, nicht unbeachtet.
Im Rahmen der Erforderlichkeit verlangt der Gerichtshof im Zusammenhang mit der Notlagensituation des Art. 78 Abs. 3 AEUV, dass eine Alternativmaßnahme nicht bloß weniger einschneidend bei gleicher Effektivität ist, sondern auch, dass die Maßnahme ebenso schnell gefasst werden kann. Dies ist bemerkenswert, weil es offenbar in diesem Bereich zu einem zusätzlichen Prüfungspunkt im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung kommt.
Der EuGH bestätigt im Ergebnis, dass bei einer so beschlossenen Umverteilung offensichtlich kein Verstoß gegen das refoulement-Verbot gegeben ist. Eine Auseinandersetzung mit Art. 26 GFK im Sinne einer negativen Freizügigkeit kam für den EuGH offenbar nicht in Betracht[40].
Zuletzt bleibt ein kleiner Kritikpunkt offen: Die Begründung, weshalb auch die Regelungen des Art. 4 Abs. 2, 3 und 7 des Beschlusses (die zukünftige Verteilung von 54.000 Antragstellern) von der Notlagenkompetenz gedeckt sein sollen, fällt etwas dürftig aus. Im Ergebnis ist auch hier klar, dass der EuGH den Beteiligten im Rahmen der Rechtsgrundlage des Art. 78 Abs. 3 AEUV – zu Recht – einen weiten Einschätzungsspielraum gewährt. Allerdings hätte es hier einer näheren Begründung bedurft, warum eine Reaktionsmöglichkeit für zukünftig eventuell auftretende Probleme von einer Rechtsgrundlage gedeckt sein soll, die auf die Beseitigung einer aktuellen Notsituation abzielt. Es ist verständlich, dass die Verankerung dieses Mechanismus einen weiteren Zeitgewinn im Fall der Fälle dadurch ermöglicht, dass das Parlament nicht mehr beteiligt werden muss, um den Rahmenbeschluss aus Art. 4 Abs. 7 des Beschlusses zu erlassen. Fraglich ist jedoch, ob – wenn etwa in anderen Mitgliedstaaten der Migrationsdruck erheblich steigt – dann nicht der normale Weg über Art. 78 Abs. 3 AEUV ebenfalls möglich wäre. Der vorliegende Fall zeigt doch gerade, dass auch in einer dramatischen Situation das normale Verfahren des Abs. 3 gangbar ist. Hierzu hat der EuGH die Voraussetzungen durch dieses Urteil geschaffen. Ein etwas höherer Begründungsaufwand hätte hier sicherlich gut getan.
IV. Fazit
Neben diesen rechtlich interessanten Weichenstellungen, kommt dem Urteil aufgrund der Vorgeschichte und dem Verhalten vor allem Ungarns im Rahmen der Beschlussfassung eine hohe politische Brisanz zu. Diese wurde aber durch die Äußerungen der ungarischen Regierung nach Verkündung des Urteils noch um ein Vielfaches potenziert. Während die Regierung der Slowakei den Richterspruch zähneknirschend akzeptierte, schaltete man in Ungarn die nächste Stufe der Eskalation, indem man die Anerkennung des Urteils verweigerte. Auch wenn der Wortlaut der Äußerung schon bekannt sein dürfte, soll hier doch noch einmal wiederholt werden, was der ungarische Außenminister Péter Szijjártó von sich gab:
„Es ist ein politisches Urteil, das das europäische Recht und die europäischen Werte vergewaltigt.“[41]
Aus dem ersten Halbsatz folgt das Anliegen dieses Beitrages. Er will sich nicht einreihen in die Vielzahl von Kommentaren der Empörung über diese Wortwahl und über die Verweigerungshaltung Ungarns[42]. Vielmehr will er dazu beitragen, die Mär vom politisch motivierten Urteil zu bekämpfen. Ein beliebtes Mittel von Rechtspopulisten und Demokratiefeinden ist es – so wie es die ungarische Regierung im vorliegenden Fall dann auch tat – Urteile zu politisieren und die Gerichte zum Verrichtungsgehilfen des politischen Gegners zu degradieren.[43] Dieser Trend der Politisierung und Verunglimpfung, der nicht nur in Europa um sich greift[44], birgt ohne Zweifel eine große Gefahr für jeden Rechtsstaat.
Entgegenwirken lässt sich diesem Trend einerseits im Großen: Hier kann versucht werden, mit Hilfe der Möglichkeiten des Rechts und politischem Drucks die Staaten wieder auf den Pfad der Rechtsstaatlichkeit zurückzuführen.[45] Im Kleinen können hoffentlich Beiträge wie dieser dazu beisteuern, zu zeigen, dass diese Urteile durch Anwendung der anerkannten Regeln des Rechts und nicht aufgrund einer politischen Agenda zu Stande kommen.
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* Dipl.-Jur. Michael Schuberth ist ehemaliger Mitarbeiter des Lehrstuhls von Univ.-Prof. Dr. iur. Thomas Giegerich LL.M. und derzeit Rechtsreferendar in Saarbrücken.
[1] Schuberth, Michael, Die Nichtigkeitsklagen der Slowakei und Ungarns gegen die Notfallumsiedlung aus Italien und Griechenland – Eine rechtliche Erörterung der EuGH-Rechtssachen C-643/15 und C-647/15, Saar Blueprints, 11/2016 DE; Schuberth, Michael, Update: Schlussanträge des Generalanwaltes im Rahmen der Nichtigkeitsklagen der Slowakei und Ungarns gegen die Notfallumsiedlung von Flüchtlingen aus Griechenland und Italien sind gestellt, Saar Blueprints, 08/2017 DE, beide online verfügbar unter: https://jean-monnet-saar.eu/?page_id=67 (zuletzt abgefragt am 08. September 2017).
[2] EuGH, Rs. C‑643/15 und C‑647/15, Slowakei und Ungarn / Rat, ECLI:EU:C:2017:631.
[3] Beschluss 2015/1601 des Rates vom 22. September 2015 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland, ABl. L. 248 v. 24.09.2015, S.80 ff., online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32015D1601&from=DE (zuletzt abgefragt am 08. September 2017).
[4] Rn. 78 des Urteils.
[5] Saar-Blueprint 11/2016, D.I.1. und 2. a).
[6] Rn. 75.
[7] Rn. 72.
[8] Rn. 78.
[9] Rn. 125. Er führt aus, dass bei diesem Zustrom ohnehin jedes Asylsystem kollabiert wäre, Rn. 128.
[10] Rn. 130.
[11] Saar-Blueprint 11/2016, D.III.1. und .2.
[12] Rn. 148.
[13] Schlussfolgerungen des Europäisches Rates, 25./26.06.15, EUCO 22/15, S. 2 ff. ; online abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/de/meetings/european-council/2015/06/25-26/ (zuletzt abgefragt am: 08. September 2017).
[14] Beschluss (EU) 2015/1523 des Rates vom 14. September 2015 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland, ABl. L. 239 v. 15.09.2015, S. 146 ff., online abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32015D1523&from=DE (zuletzt abgefragt am 08. September 2017).
[15] Rn. 148.
[16] Saar-Blueprint 8/2017, S. 9.
[17] Rn. 158.
[18] Rn. 179.
[19] Rn. 180.
[20] online verfügbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32000Q3614&from=DE (zuletzt abgefragt am 08. September 2017).
[21] Rn. 185.
[22] Rn. 206 f.
[23] siehe wegen des Second Implementation Package: Saar-Blueprint 11/2016, B. sowie online unter: https://ec.europa.eu/home-affairs/what-we-do/policies/european-agenda-migration/proposal-implementation-package_en (zuletzt abgefragt am 08. September 2017).
[24] Rn. 215.
[25] Rn. 221.
[26] Rn. 236.
[27] So auch schon in Saar-Blueprint 11/2016, D.IV.4.
[28] Rn. 293.
[29] Rn. 295.
[30] Dieses Vorbringen geht weit über das Vorbringen Ungarns als unterstützter Partei hinaus, Rn. 303.
[31] Rn. 302.
[32] Rn. 305.
[33] Abkommen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen vom 28. Juli. 1951 geändert durch Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967.
[34] Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, online verfügbar unter: http://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/04/UNHCR-Handbuch.pdf (zuletzt abgefragt am 08. September 2017).
[35] Rn. 343.
[36] Saar-Blueprint 8/2017, S. 9.
[37] Blueprint 11/2016, D.I.2.a).
[38] Rn. 185.
[39] Vgl. insoweit: Saar-Blueprint 11/2016, D.IV.3. und 4.
[40] So aber: Saar-Blueprint 11/2016, D.VII.1. und 2.
[41] zeit.de, Europäischer Gerichtshof: Slowakei nennt Flüchtlingsurteil „irrelevant“, online abrufbar unter: http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-09/europaeischer-gerichtshof-slowakei-fluechtlingsquote (zuletzt abgefragt am 08. September 2017).
[42] beispielhaft: http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingsurteil-zwei-europas-wagen-1.3654969 (zuletzt abgefragt am 08. September).
[43] Vgl. Steinbeis, Maximilian, Katja Kippings „Klassenjustiz“-Tweet, oder das Verfassungsgericht als politischer Feind, VerfBlog, 2016/10/14, online abrufbar unter: http://verfassungsblog.de/kipping-bverfg-klassenjustiz/ (zuletzt abgefragt am 08. September 2017).
[44] Vgl. etwa: zeit.de, Urteil von Bundesrichter: Trump schimpft über Stopp des Einreiseverbots, online verfügbar unter: http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/urteil-bundesrichter-washington-einreiseverbot-donald-trump-twitter (zuletzt abgefragt am 08. September 2017).
[45] So etwa das Vorgehen gegen Ungarn in einem Vertragsverletzungsverfahren, das bereits im letzten Beitrag erwähnt wurde, Saar-Blueprint 8/2017, S.9.
Suggested Citation: Schuberth, Michael, Verbindliche Quoten rechtmäßig: Das Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-643/15 und C-647/15 Slowakei und Ungarn / Rat, jean-monnet-saar 2017, DOI: 10.17176/20220422-162101-0