09.10.2020
Ein Beitrag von Dennis Traudt*
“I would say to my hon. Friend that yes, this does break international law in a very specific and limited way. […]”[1]: Eine Aussage des britischen Ministers für Nordirland Brandon Lewis, die vergangenen Monat nicht nur in Westminster für Aufruhr sorgte, sondern auch verschiedenste Völkerrechtler dazu bewegte, das allgemeine Verhältnis des Vereinigten Königreichs zum internationalen Recht kritisch zu hinterfragen.[2] Dabei ist nicht der Umstand, dass ein Staat Völkerrecht brechen will, das Aufsehenerregendste. Dies tun fast alle Staaten zumindest in spezifischer und limitierter Art und Weise immer wieder einmal, was sogar schon von Louis Henkin in seinem berühmten Ausspruch „Almost all nations observe almost all principles of international law and almost all of their obligations almost all of the time.” implizit anerkannt wurde.[3] Vielmehr sind die Umstände, unter denen der „spezifische und begrenzte Völkerrechtsbruch“ von statten gehen könnte, aus verfassungsrechtlicher Sicht und aus internationaler Sicht besonders brisant. Letzteres hat jetzt dazu geführt, dass die Europäische Kommission, nachdem sie schon zuvor das Vereinigte Königreich gewarnt hatte, formell ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat.[4] Dies ist nur ein weiteres Kapitel in der Brexit-Saga, die diesen Blog schon wiederholt beschäftigte. (hier, hier, hier, hier, hier)
Doch was genau ist geschehen?
Die britische Regierung unter Premierminister Boris Johnson hat am 09.09.2020 das „United Kingdom Internal Market Bill“ (Entwurf eines Binnenmarktgesetzes des Vereinigten Königreichs)[5] zur Abstimmung in das Parlament eingebracht. Ziel dieses Gesetzes ist es, die Einheit des nationalen Binnenmarktes zu garantieren, sollte auch nach Ablauf der Übergangsfrist am 31.12.2020 kein weitergehendes Abkommen mit der EU zustande gekommen sein.[6] Zu diesem Stichtag läuft gem. Art. 126 Austrittabkommen die Übergangsfrist für die weitere Anwendung des EU-Rechts im Vereinigten Königreich ab, und es würde der Notfallmechanismus des Nordirland-Protokolls zum Austrittsabkommen greifen, der zur Wahrung des Friedensprozesses auf der irischen Insel und der Integrität des europäischen Binnenmarktes den reibungslosen Warenaustausch zwischen Nordirland und dem Vereinigten Königreich auf verschiedenen Ebenen einschränken würde, obwohl Nordirland zum britischen Zollgebiet gehört.[7] Diese in einem vergangenen Beitrag auf diesem Blog als „Trilemma“ dargestellte Situation[8] versucht das Vereinigte Königreich mithilfe des Binnenmarktgesetzes in konkreten Einzelfällen zu seinen Gunsten zu entscheiden und stellt dabei die vermeintlich gefährdete Integrität des Vereinigten Königreichs über den irischen Friedensprozess und die Integrität des europäischen Binnenmarktes. Dazu sollen Clause 44 und 45 Binnenmarktgesetz[9] den zuständigen Minister ermächtigen, die entscheidenden Regeln aus Art. 10 Nordirland-Protokoll in Bezug auf Ausfuhrverfahren per Exekutivverordnungen abbedingen zu können. Diese Regelungen tragen dafür Sorge, dass EU-Zollregeln weiterhin in Nordirland gelten können, um die „unsichtbare Grenze“ zu Irland als solche aufrechtzuerhalten. Am vergangenen Dienstag bekam dieses Gesetz die erforderliche Mehrheit im Unterhaus des britischen Parlaments,[10] nachdem im Rahmen der zweiten Lesung eine Änderung eingefügt wurde, die die Ausübung der Ermächtigung von einem zuvor erteilten Parlamentsbeschluss abhängig macht.[11] Daraufhin sandte die Kommission ein Schreiben an das Vereinigten Königreichs, in der sie die britische Regierung dazu aufforderte, sich zu dem Vorwurf des Vertragsbruchs innerhalb eines Monats zu äußern.[12] Ein solches formales Mahnschreiben stellt grundsätzlich den Beginn eines Vertragsverletzungsverfahrens im Sinne des Art. 258 AEUV dar, nachdem die Kommission bereits nach einer Sondersitzung des Gemeinsamen Ausschusses – des Gremiums, das nach Art. 164 ff. Austrittsabkommen u.a. zur Überprüfung der Einhaltung des Austrittabkommens eingesetzt wurde – das Vereinigte Königreich vor diesem Schritt gewarnt hatte. Aus Sicht der Kommission stellt die gerügte Regelung des geplanten Binnenmarktgesetzes nicht nur eine Verletzung des Austrittsabkommen dar, sondern gefährdet auch den Friedensprozess auf der irischen Insel.[13]
Die rechtliche Problematik
Funktional handelt es sich bei den von der Kommission gerügten Bestimmungen des Binnenmarktgesetzes um eine Form des sog. treaty override. In Staaten, die zumindest in Bezug auf das Völkervertragsrecht einen dualistischen Ansatz verfolgen, bedarf es für die innerstaatliche Geltung von völkerrechtlichen Abkommen eines nationalen Gesetzes, das den Vertrag transformiert, rezipiert oder dessen innerstaatlichen Vollzug befiehlt. Dieses Gesetz kann nach dem lex posterior-Grundsatz durch nachfolgende Gesetze geändert oder aufgehoben werden und der Vertrag somit für Zwecke des innerstaatlichen Rechts „überschrieben werden“, ohne dass dies seine völkerrechtliche Verbindlichkeit in Frage stellen kann. Im Vereinigten Königreich ist diese Möglichkeit im Verfassungsprinzip der Parlamentssouveränität verankert und wurde 1971 von Lord Denning wie folgt zusammengefasst: „We take no notice of treaties until they are embodied in laws enacted by Parliament, and then only to the extent that Parliament tells us.”[14] Aus nationaler Sicht kann das Parlament Gesetze erlassen, die völkerrechtlichen Verpflichtungen widersprechen, ohne das dies ihre verfassungsrechtliche Wirksamkeit beeinträchtigen würde.[15] Von dieser Möglichkeit machen nationale Gesetzgeber immer wieder einmal Gebrauch, auch der deutsche, und das BVerfG hat dies trotz Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes für verfassungsmäßig erklärt.[16] Die Besonderheit liegt vorliegend jedoch darin, dass das Binnenmarktgesetz einen Teil der Exekutive explizit dazu ermächtigt, gegen Völkerrecht zu verstoßen, und somit der treaty override durch secondary legislation und nicht durch das Parlament selbst erfolgen soll. Das wird in formaler Hinsicht auch nicht durch die Ergänzung geändert, dass zuvor eine Zustimmung durch Parlamentsbeschluss erfolgen muss. Der eigentliche treaty override erfolgt durch ein statutory instrument, einer Form delegierter Rechtssetzungsmacht (secondary legislation).[17]
In diesem Zusammenhang ist auch Clause 47 Abs. 4 Binnenmarktgesetz zu lesen, die die Verordnungen gegen jegliches nationale oder auch internationale Recht, gegen das diese verstoßen könnten, abschirmen will. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist das ein Versuch, secondary legislation der gerichtlichen Wirksamkeitskontrolle zu entziehen. Eine solche „Immunität“ ist, basierend auf der Parlamentssouveränität, grundsätzlich nur für Parlamentsakte selbst anerkannt.[18] Ein statutory instrument, das sich über das Nordirlandprotokoll hinwegsetzt, gerät zugleich in Konflikt mit dem European Union Withdrawal Act 2018.[19] Eine Handlung der Exekutive, die gegen ein geltendes Gesetz verstößt, wäre grds. rechtswidrig. Ob die Ermächtigung der Exekutive zu einem derartigen Verstoß, enthalten in einem neuen Gesetz, und zusätzlich eine Regelung wie in Clause 47 Binnenmarktgesetz insoweit mit dem Grundsatz der Parlamentssouveränität vereinbar ist, ist strittig.[20] Diesen verfassungsrechtlichen Bedenken könnte jedenfalls durch die Regelung, dass der Minister von der Ermächtigung erst nach einem förmlichen Parlamentsbeschluss Gebrauch machen darf (vgl. Clause 54 Binnenmarktgesetz), begegnet worden sein. Aus völkerrechtlicher Sicht ist jedoch unbeachtlich, welches innerstaatliche Organ den Völkerrechtsbruch letztlich verursacht. Dies ergibt sich schon aus dem Grundsatz, dass ein Staat für das Handeln aller seiner Organe verantwortlich ist, normiert in Art. 4 der Artikel zur Staatenverantwortlichkeit,[21] der Völkergewohnheitsrecht widerspiegelt.
Darüber hinaus besteht Einigkeit unter den Kommentatoren, dass das Binnenmarktgesetz selbst noch keinen Völkerrechtsbruch darstellt.[22] Es überträgt nur die Befugnis zum Bruch des Austrittsabkommens auf die Exekutive. Ein Legislativakt, der nur die Ermächtigung enthält, gegen spezifische Völkerrechtsnormen zu verstoßen, ist selbst noch nicht unbedingt völkerrechtswidrig, sondern erst die Ausnutzung dieser Ermächtigung durch die Exekutive.[23] Hier aber vertritt die Kommission die Auffassung, schon der Erlass des Gesetzes sei mit Art. 5 des Austrittsabkommens unvereinbar, der beide Parteien ausdrücklich zur Vertragserfüllung nach Treu und Glauben verpflichtet.[24]
Normalerweise versuchen Staaten, ihre in ein Spannungsverhältnis mit völkerrechtlichen Vorgaben geratende Praxis mit völkerrechtlichen Argumenten zu rechtfertigen oder greifen zumindest auf außerrechtliche, moralische Rechtfertigungsgründe zurück.[25] Aufgrund ihrer Doppelrolle als Normgeber und auch Normgebundene ist diese Praxis in Kombination mit dem Fehlen einer obligatorischen Streitbeilegungsinstanz, die über die richtige Auslegung des Völkerrechts verbindlich entscheiden könnte, grundsätzlich auch nicht verwerflich. Hier verhält es sich jedoch anders. Die Intention, in Zukunft möglicherweise Völkerrecht zu verletzen, wird von der britischen Regierung offen eingeräumt. Erschwerend kommt noch hinzu, dass das Vereinigte Königreich sich über einen bilateralen Vertrag hinwegsetzen will, den es erst kürzlich ratifiziert hat und mit dessen Vertragspartner es sich gerade in der finalen Verhandlungsphase zu einem weiteren Vertrag über das zukünftige Verhältnis befindet. Manche vermuten, die britische Regierung wolle die EU mit diesem Manöver zu einem Abbruch der Verhandlungen provozieren, um zu einem ungeregelten Brexit zu kommen.[26] Sollte dies zutreffen, wäre die EU jedoch nicht in diese Falle gegangen. Umgekehrt erscheint erst recht fraglich, ob es sich bei der Drohung um eine Verhandlungstaktik handelt, die die britische Position in den laufenden Verhandlungen stärken könnte. Warum sollte die EU Zugeständnisse bei einem neuen Vertrag machen, wenn sich der Verhandlungspartner offen erklärt, sich ggf. über essentielle Regelungen eines vorherigen Vertrags hinwegzusetzen? Dadurch würde nicht nur die Reputation des Vereinigten Königreichs als verlässlicher Akteur im internationalen Verkehr von dieser Drohung Schaden nehmen,[27] sondern auch seine Verhandlungsposition gegenüber der EU würde geschwächt.[28]
Interessant ist auch die Wortwahl beider Seiten. Nutzte Brandon Lewis die an sich schon denkwürdige Formulierung eines „spezifischen und begrenzten Völkerrechtsbruch“,[29] so sprach der Vizepräsident der Kommission Šefčovič im Rahmen eines außerordentlichen Treffens des Gemeinsamen Ausschusses von einer „extremely serious violation of the Withdrawal Agreement and international law“.[30] Hinter diesen Formulierungen steht nicht nur die verhandlungspolitische Sprache zweier Parteien, die ihre jeweilige Position bekräftigen wollen, sondern ein juristischer Streitpunkt: Art. 60 Abs. 1 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) erlaubt nämlich eine einseitige Vertragsbeendigung, sofern eine Vertragspartei einen bilateralen Vertrag „erheblich verletzt“. Die EU ist zwar nicht Vertragspartei der WVK, der gemäß Art. 83 WVK nur Staaten beitreten können. Art. 60 WVK gibt jedoch Völkergewohnheitsrecht wieder, das auch für völkerrechtliche Verträge zwischen einem Staat und der EU (wie das Austrittsabkommen) gilt. Die euphemistische Formulierung der britischen Seite dient also vielleicht dazu, eine etwaige Verletzung unterhalb dieser Erheblichkeitsschwelle zu suggerieren, um so der Union die Möglichkeit zu bestreiten, einseitig das Austrittsabkommen zu beenden. Da die EU jedoch selbst an dem Abkommen festhalten will, um die Unionsbürgersrechte im Vereinigten Königreich zu wahren (vgl. Abschnitt II des Austrittsabkommens), ist seine Kündigung durch die EU jedoch sehr unwahrscheinlich.
Warum kann die Kommission nun ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, und welche Probleme ergeben sich daraus?
Am 1.02.2020 ist das Vereinigte Königreich offiziell aus der EU ausgetreten. Ganz im Sinne des Art. 50 Abs. 3 EUV finden seit diesem Tag die Europäischen Verträge grundsätzlich keine Anwendung mehr auf das Vereinigte Königreich. Dementsprechend wäre ein Vertragsverletzungsverfahren im Sinne des Art. 258 AEUV auch nicht mehr möglich. Während der gem. Art. 126 Austrittsabkommen bis zum 31.12.2020 laufenden Übergangsphase ordnet jedoch Art. 127 Abs. 1 Austrittsabkommen grundsätzlich die weitere Anwendung des Unionsrechts auf das Vereinigte Königreich an. Art. 131 Abs. 1 Austrittsabkommen normiert, dass der EuGH die Jurisdiktion über Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen das Vereinigte Königreich iSd Art. 258 AEUV während der Übergangsperiode behält. Art. 131 Abs. 2 Austrittsabkommen erweitert diese Zuständigkeit auch auf die Interpretation und Anwendung des Austrittsabkommens, das nicht zum Unionsrecht, sondern zum Völkerrecht gehört.
Die Uhr tickt also für die Kommission, denn mit dem Ende der Übergangszeit endet auch ihre Möglichkeit, das Vereinigte Königreich wegen Verletzung des Austrittsabkommens vor dem EuGH zu verklagen.[31] Dementsprechend wurde jetzt schon das Mahnschreiben an das Vereinigte Königreich gesendet, in dem die Kommission einen Verstoß gegen den im Austrittsabkommen festgelegten Grundsatz von Treu und Glauben durch den aktuellen Entwurf zum Binnenmarktgesetz rügt.[32] Das Binnenmarktgesetz benötigt zwar noch die Zustimmung durch das House of Lords, bevor es in Kraft treten kann.[33] Dennoch hält die Kommission schon die Einbringung des Gesetzesentwurfs mit anschließender Durchführung des Gesetzgebungsverfahrens für eine Verletzung dieses Grundsatzes.[34] Mit Blick auf das Ende der Übergangsperiode am 31.12.2020 musste die Kommission jetzt schon handeln, um noch die EuGH-Zuständigkeit gem. Art. 131 Austrittsabkommen nutzen zu können. Ein Abwarten bis zum Inkrafttreten des Gesetzes oder gar bis zu dem Zeitpunkt, an dem die britische Regierung statutory provisions auf Grundlage des Binnenmarktgesetzes erlässt, die konkret gegen das Nordirland-Protokoll verstoßen, könnte nicht mehr vor den EuGH gebracht werden. Denn sobald die Übergangsperiode beendet ist, gibt es für Streitigkeiten über das Austrittsabkommen nur noch einen besonderen schiedsgerichtlichen Streitbeilegungsmechanismus gem. Art. 167ff. Austrittsabkommen. Wohl deshalb stützt die Kommission ihre Rüge auf eine Verletzung der bona-fide-Vorschrift aus Art. 5 Austrittsabkommen schon durch die Durchführung des Gesetzgebungsverfahrens während der Übergangsfrist. Eine substanzielle Verletzung des Nordirlandprotokolls selbst (insb. Art. 10) durch das Inkrafttreten des Binnenmarktgesetzes deutet die Kommission in ihrem Mahnschreiben zwar an. Dies würde sich nach der obigen Argumentation jedoch nicht halten lassen, da erst die statutory provision durch den zuständigen Minister je nach konkreter Ausgestaltung gegen das Nordirlandprotokoll verstoßen würde. Dabei ist nicht auszuschließen, dass diese Verordnung auch so ausgestaltet werden könnte, dass sie keine Vorschriften des Nordirlandprotokolls verletzt.
Art. 5 Austrittsabkommen normiert, dass die EU sowie das Vereinigte Königreich mit gegenseitigem Respekt und nach Treu und Glauben die Aufgaben erfüllen, die sich aus dem Austrittabkommen ergeben. Die gesetzliche Festschreibung der Absicht, sich explizit über Regelungen des Austrittabkommens hinwegzusetzen, kann als evidente Verletzung dieses Grundsatzes angesehen werden.[35] Damit ignoriert das Vereinigte Königreich nicht nur den für das Völkervertragsrecht fundamentalen Grundsatz „pacta sunt servanda“, sondern gefährdet auch die Zielsetzung nicht nur des Abkommens, sondern des gesamten Austrittprozesses.[36]
Ein genauer Blick in das Nordirlandprotokoll zeigt jedoch, dass eine substanzielle Verletzung des Art. 10 dieses Protokolls durch Ausnutzung der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage durch die britische Exekutive sogar nach Ende der Übergangsperiode im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission gerügt werden könnte. Art. 12 Abs. 4 Nordirlandprotokoll enthält nämlich eine dem Art. 131 Austrittsabkommen ähnliche Vorschrift in Bezug auf die dort genannten Artikel des Protokolls. Diese gilt ausweislich des Art. 185 Austrittsabkommen erst ab dem 01.01.2021 und solange, wie das Nordirlandprotokoll in Kraft ist. Es erstaunt also, warum die Kommission jetzt schon ein Verfahren einleitet, das sich einer Konstruktion über Art. 5 Austrittsabkommen bedienen muss, wenn der eigentliche treaty override im Verordnungswege ebenso justiziabel wäre. Dabei kann angenommen werden, dass die Kommission durch das jetzige Verfahren das Inkrafttreten des Binnenmarktgesetzes in seiner aktuellen Form verhindern möchte. Da dieses nach den obigen Ausführungen nicht gegen das Nordirlandprotokoll an sich verstößt, sondern nur gegen das Austrittsabkommen, bleibt der Kommission also nur der Art. 131.[37]
Problematisch erscheint vor allem aber die praktische Relevanz eines Urteils, mit dem der EuGH eine Verletzung des Art. 5 Austrittsabkommen feststellen könnte. Mit einem solchen Urteil kann frühestens im nächsten Jahr gerechnet werden. Eine Möglichkeit wäre der sofortige Erlass einer einstweiligen Anordnung durch den EuGH gem. Art. 279 AEUV auf Antrag der Kommission nach Art. 160 ff. der EuGH-Verfahrensordnung. Art. 131 Abs. 1 S. 1 Austrittsabkommen gibt dem EuGH die gleiche Zuständigkeit, wie sie in den Verträgen normiert ist. Darunter fällt auch die Möglichkeit der vorläufigen Regelung anhängiger Sachen im Wege der einstweiligen Anordnung. Dazu müsste die Kommission das Vertragsverletzungsverfahren noch vor Ablauf des Jahres vor den EuGH bringen, was aber erst nach Abschluss des gerade laufenden administrativen Vorverfahrens möglich ist. Der EuGH könnte dann noch in diesem Jahr, also vor Ablauf der Übergangsperiode, dem Vereinigten Königreich aufgeben, zumindest von der Ermächtigung in Clause 44 Binnenmarktgesetz keinen Gebrauch zu machen. Probleme würden sich aber mit der Begründung der Dringlichkeit ergeben. Zwar ist die gerügte Verletzung des Art. 5 Austrittsabkommen schon erfolgt (s.o.). Die substantielle Verletzung des Nordirlandprotokolls mit ggf. schweren, nicht wiedergutzumachenden Schäden, die in eine Abwägung einfließen müssten, ist aber noch nicht absehbar, solange von der Ermächtigung keinen Gebrauch gemacht wird. Allein der Umstand, dass mit dem 31.12.2020 die Zuständigkeit des EuGH endet, dürfte zur Begründung der Dringlichkeit einer Anordnung nicht ausreichen.
Anknüpfend an Art. 12 Abs. 4 Nordirlandprotokoll könnte aber eine einstweilige Anordnung dann ergehen, wenn die britische Regierung in Zukunft von der Ermächtigung des Binnenmarktgesetzes in einer Art und Weise Gebrauch macht, die gegen das Protokoll verstößt.
Unabhängig davon endet mit dem Ablauf der Übergangsperiode und dem somit „endgültigen Austritt“ aber die faktische Möglichkeit der Durchsetzung von EuGH-Urteilen. Auch wenn das Austrittabkommen dem EuGH auch nach dem 31.12.2020 weiterhin für anhängige Verfahren Jurisdiktion verleiht (Art. 86 und 87), fällt das Verhältnis der EU zum Vereinigten Königreich grundsätzlich von der supranationalen auf die völkerrechtliche Ebene zurück. Die besonderen Durchsetzungsmechanismen des Art. 260 AEUV sind dann praktisch wirkungslos.[38]
Vielmehr bleibt der EU nur, politischen Druck auszuüben oder auf die Durchsetzungsmittel des Völkerrechts zurückzugreifen, also auf Gegenmaßnahmen im Sinne von Art. 49 ff. der Artikel über die Staatenverantwortlichkeit.[39] Ohne eine vertragliche Verständigung über die „gemeinsame“ Zukunft würde der Handel zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich vom 01.01.2021 an nur noch auf Grundlage der WTO-Regeln stattfinden, was von beiden Seiten nicht gewünscht ist, weil dann etwa Zölle erhoben werden müssten. Insoweit kann man den Vorgang als eine „machtvolle“ Antwort der EU auf die Drohung der britischen Regierung im andauernden Rosenkrieg namens Brexit interpretieren. Ob diese überhaupt von der Ermächtigung Gebrauch machen wird oder ob es sich nur um einen innenpolitisch motivierten Bluff[40] handelte, lässt sich derzeit noch nicht absehen.
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*Dipl.-Jur. Dennis Traudt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl von Prof. Dr. Thomas Giegerich.
[1] HoC Deb 08.09.2020, Vol. 679, col. 509; abrufbar unter: https://hansard.parliament.uk/Commons/2020-09-08/debates/2F32EBC3-6692-402C-93E6-76B4CF1BC6E3/NorthernIrelandProtocolUKLegalObligations.
[2] Siehe u.a. Skoutaris, Nikos: In the Name of Peace and Integrity?: The UK Government’s breach of the Protocol on Ireland/Northern Ireland, VerfBlog, 10.09.2020, https://verfassungsblog.de/in-the-name-of-peace-and-integrity/; John Humphrys, Should governments threaten to break the law?, https://yougov.co.uk/topics/politics/articles-reports/2020/09/10/john-humphrys-should-governments-threaten-break-la;
[3] Vgl. auch: Stefan Talmon “Thou shalt not ‘break international law in a very specific and limited way’”,Völkerrechtsblog, 15.09.2020; https://voelkerrechtsblog.org/articles/thou-shalt-not-break-international-law-in-a-very-specific-and-limited-way/.
[4] Vgl. Art. 131 und Art. 87 Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, Amtsblatt 2020 Nr. L29/7.
[5] Ursprünglicher Vorschlag der Internal Market Bill 2020; Abrufbar unter: https://publications.parliament.uk/pa/bills/cbill/58-01/0177/20177.pdf.
[6] Sec. 1 Internal Market Bill 2020 (En. 5).
[7] Siehe Art. 185 Austrittsabkommen (En. 4) sowie Art. 5ff. Protokoll zur Irland/Nordirland, Amtsblatt 2020 Nr. L29/7.
[8] Annika Blaschke, Dennis Traudt, Von konservativen Rebellen und britischen Zöllnern: Ein zweites Update zum Brexit, abrufbar unter: https://jean-monnet-saar.eu/?page_id=2273.
[9] Diese Nummerierung orientiert sich an der aktuellen Version, wie sie dem House of Lords vorliegt. Dem ursprünglichen Gesetzesvorschlag der Regierung (En. 6) lag noch eine andere Nummerierung zugrunde. Dort waren die entscheidenden Regelungen Clauses 42, 43 und 45. Die aktuelle Version ist abrufbar unter: https://publications.parliament.uk/pa/bills/lbill/58-01/135/5801135.pdf.
[10] Siehe : https://services.parliament.uk/bills/2019-21/unitedkingdominternalmarket.html.
[11] Siehe Clause 44 Abs. 6 und Clause 45 Abs. 4 iVm Clause 54 Internal Market Bill; https://publications.parliament.uk/pa/bills/lbill/58-01/135/5801135.pdf.
[12] EC, Pressemitteilung vom 1.10.2020: Withdrawal Agreement: European Commission sends letter of formal
notice to the United Kingdom for breach of its obligations.
[13] EC, Statement by the European Commission following the extraordinary meeting of the EU-UK Joint Committee, 10.09.2020.
[14] Ciarán, Burke; Kulish, Polina: A Matter of Faith: The Dubious Legality of the UK’s Internal Market Bill, VerfBlog, 16.09.2020, https://verfassungsblog.de/a-matter-of-faith/.
[15] Talmon (En. 3).
[16] BVerfG, 2 BvL 1/12, Beschluss v. 15.12.15; kritisch dazu: Thomas Giegerich, Völkerrechtsfreundlichkeit “light“ – Viel Schatten und wenig Licht im BVerfG-Beschluss zum Treaty Override, Saar Expert Paper, 02/2016, online verfügbar unter: https://jean-monnet-saar.eu/?page_id=70.
[17] Vgl. Clause 53 Abs. 1 Internal Market Bill (En. 10).
[18] Talmon (En. 3).
[19] European Union Withdrawal Act 2018, abrufbar unter: https://www.legislation.gov.uk/ukpga/2018/16/contents/enacted.
[20] Siehe dazu: Bingham Centre for the Rule of Law, United Kingdom Internal Market Bill: A Rule of Law Analysis of Clauses 42 to 45, abrufbar unter: https://binghamcentre.biicl.org/documents/94_bingham_centre_report_on_uk_internal_market_bill_final.pdf
[21] Art. 4 Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts 2001, abrufbar unter: https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/draft_articles/9_6_2001.pdf. Deutsche Übersetzung in Sartorius II Nr. 6.
[22] Talmon (En. 3); Ciarán, Kulish (En.14).
[23] Vgl. auch: Ciarán, Kulish, (En. 14).
[24] EC, Pressemitteilung vom 1.10.2020: Withdrawal Agreement: European Commission sends letter of formal
notice to the United Kingdom for breach of its obligations.
[25] Talmon (En. 3).
[26] Ibid.
[27] So auch Bingham Centre for the Rule of Law (En. 19).
[28] Vgl. auch: Humphrys (En. 2).
[29] Kritisch zu dieser Eingrenzung: Talmon (En. 3).
[30] EC, Statement by the European Commission following the extraordinary meeting of the EU-UK Joint Committee, 10.09.2020.
[31] So auch: Garner, Oliver, True (Bad) Faith 2020? Part One: The Commission Infringement Action against the United Kingdom for breach of the Withdrawal Agreement, European Law Blog 2020, abrufbar unter: https://europeanlawblog.eu/2020/10/08/true-bad-faith-2020-part-one-the-commission-infringement-action-against-the-united-kingdom-for-breach-of-the-withdrawal-agreement/.
[32] EC, Pressemitteilung vom 1.10.2020: Withdrawal Agreement: European Commission sends letter of formal
notice to the United Kingdom for breach of its obligations.
[33] Stand: 08.10.2020, vgl. dazu: https://services.parliament.uk/bills/2019-21/unitedkingdominternalmarket.html.
[34] EC (En. 32).
[35] Bingham Centre for the Rule of Law (En. 19).
[36] Garner (En. 31).
[37] Ibid.
[38] Strafzahlungen in Form des Zwangsgeldes und des Pauschalbetrags könnten in der Praxis im Zweifel durchgesetzt werden, indem Gelder an den jeweiligen Mitgliedstaat aus dem EU-Haushalt in der Höhe der Strafzahlung gekürzt werden. Solche Mittel erhält das Vereinigte Königreich aber gar nicht mehr; vgl. zu dieser Möglichkeit m.w.N.: Thomas Giegerich, ZEuS 1/2019, S. 61 (102).
[39] Vgl. auch Alice Tidey, EU Brexit infringement case: What is it and should the UK be worried?, 1.10.2020, abrufbar unter: https://www.euronews.com/2020/10/01/eu-brexit-infringement-case-what-is-it-and-should-the-uk-be-worried.
[40] So Skoutaris (En. 2).
Suggested Citation: Traudt, Dennis, Ein spezifisches Verständnis von Treu und Glauben: Brexit Update 3.0., jean-monnet-saar 2020, DOI: 10.17176/20220607-091508-0