Ist das Völkerrecht wirklich ohnmächtig?[1]

Foto © Villa Lessing

Ein Beitrag von Prof. em. Dr. iur. Thomas Giegerich, LL.M. (Univ. of Virginia)

Prof. Thomas Giegerich nahm am 30. Oktober 2025 an der Veranstaltung der Villa Lessing mit dem Titel  „Ohnmacht des Völkerrechts – Die Rückkehr des Kriegs und der Menschheitsverbrechen“ teil. Bei dieser Veranstaltung wurde das gleichnamige Buch von Prof. Christoph Safferling vorgestellt. Der folgende Beitrag stellt eine erweiterte Fassung seines Vortrags dar.

Meine Antwort ist ein klares „Nein“: Es ist nie ohnmächtig gewesen, und wir dürfen seine Ohnmacht auch heute nicht herbeireden. Das schulden wir den zukünftigen Generationen. Völkerrecht ist wie Recht insgesamt eine zivilisatorische Kraft und eine geistige Macht. Wir müssen freilich damit leben, dass die Mühlen des Völkerrechts – wie schon immer – langsam mahlen.

Völkerrecht hat im Vergleich zum nationalen Recht immer ein Durchsetzungsdefizit gehabt. Das liegt daran, dass es auf Völkerrechtsebene – anders als auf staatlicher Ebene – nie eine effektive Hoheitsgewalt gegeben hat, die völkerrechtskonformes Verhalten notfalls erzwingen könnte. Dennoch haben die souveränen Staaten als Herren der internationalen Ordnung stets am Völkerrecht festgehalten, um ihre Beziehungen verlässlich zu gestalten. Denn allein das Völkerrecht als Ausdruck der globalen Vernunft kann eine nachhaltige Weltordnung gewährleisten. Im Vergleich zum nationalen Recht ist es zwar immer mindermächtig gewesen, hat aber vor seinen Herausforderungen nie kapituliert.

Alle großen Umbrüche der letzten 250 Jahre haben die Völkerrechtsordnung vorübergehend geschwächt, letztlich aber immer entscheidend gestärkt. Das gilt für die Wiener Kongressakte von 1815 nach den napoleonischen Kriegen, für den Völkerbund nach dem 1. Weltkrieg und schließlich für die UNO nach dem 2. Weltkrieg. Denn alle Regierenden und Regierten (d.h. Wählerinnen und Wähler) wissen letztlich ganz genau, dass Anarchie und Chaos in den internationalen Beziehungen „unsagbares Leid über die Menschheit“ bringen, wie es die UN-Charta in ihrer Präambel ausdrückt. Das trifft angesichts der Fortschritte in der Waffentechnik heute noch mehr zu als vor 80 Jahren, als die Charta in Kraft trat.

Im Vergleich zu den drei erwähnten großen Umbrüchen der internationalen Ordnung erleben wir heute allenfalls eine mittlere Krise. Diese verstört uns nur deshalb so stark, weil wir nach dem Ende des Kalten Krieges einen besonderen Höhenflug des Völkerrechts erlebt haben. Für manche schien schon das Ende der Geschichte gekommen; wir begannen, im Völkerrecht eine Art Verfassung der internationalen Gemeinschaft zu sehen. Wir waren verwöhnt. Doch schon am 11.9.2001 wurden wir vom Clash der Kulturen unsanft geweckt – der internationale Terrorismus forderte die Völkerrechtsordnung heraus. Und gleich waren die Staaten als ihre Herren – gerade auch westliche Staaten – allzu leichtfertig bereit, bei der Austreibung des terroristischen Teufels die völkerrechtlichen Schranken über Bord zu werfen.[2]

2003 kam der 2. Sündenfall mit dem völkerrechtswidrigen Irak-Krieg der USA und ihrer europäischen Verbündeten: Die tragenden Kräfte der Nachkriegsordnung verrieten deren elementarsten Grundsätze.[3]

Der 3. besonders eklatante Sündenfall seit 2014 und verstärkt seit 2022, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, entsetzt uns im Westen vor allem deshalb viel stärker, weil wir selbst seine indirekten Opfer sind: Die Ukraine wurde überfallen, gerade weil sie sich für eine Assoziierung mit der EU und gegen eine Rückkehr ins russische Imperium entschieden hatte. Folglich sehen wir die russische Invasion als eine Aggression gegen unsere eigenen Werte an. Fast alle Staaten auf der Welt verurteilen den russischen Angriff nicht weniger als wir. Das beweisen mehrere Resolutionen der UN-Generalversammlung, die anstelle des blockierten Sicherheitsrats Russlands Aktionen mit überwältigender Mehrheit klar verurteilen.[4] Mit entsprechender Mehrheit hat sich die UN-Generalversammlung übrigens kürzlich für die Zweistaatenlösung im Palästina-Konflikt ausgesprochen.[5]

Die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft halten das Völkerrecht heute sogar für wichtiger denn je. Der beste Beweis dafür liegt in der Flut von Verfahren vor internationalen Gerichten auf globaler und regionaler Ebene, und zwar auch zu politisch brisanten Fragen. So sind Aspekte des Ukraine-Kriegs Gegenstand zweier Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof, von denen eines sogar von Russland anhängig gemacht worden ist.[6] Dasselbe gilt für den Gaza-Konflikt, den Südafrika und Nicaragua vor den IGH gebracht haben.[7] Die Klage Nicaraguas spießt übrigens die deutsche – stellvertretend für die westliche – Scheinheiligkeit gegenüber dem Völkerrecht auf. Zur israelischen Besetzung des palästinensischen Gebiets hat der IGH inzwischen auf Antrag der UN-Generalversammlung drei Gutachten erstattet.[8] Am wichtigsten erscheint mir aber, dass sich Dutzende von Staaten und internationalen Organisationen an all diesen Verfahren beteiligt haben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits mehrere Entscheidungen gegen die russischen Völkerrechtsverletzungen im Ukraine-Krieg getroffen.[9]

Auch der Internationale Strafgerichtshof ist aktiv geworden, etwa mit Haftbefehlen gegen Putin, Netanyahu und die Hamas-Führer.[10] Wie ernst man den IStGH nimmt, zeigen nicht zuletzt die Sanktionen, die Trump gegen ihn bzw. seine Mitglieder verhängt hat.[11] Der Europarat hat schließlich im Zusammenwirken mit der Ukraine ein Sondergericht zur Aburteilung der politischen und militärischen Führungsspitze Russlands für ihr Aggressionsverbrechen eingerichtet, um eine Lücke in der Zuständigkeit des IStGH zu schließen.[12] Der Europarat hat darüber hinaus ein Register für Schäden eingerichtet, die durch die Aggression Russlands gegen die Ukraine verursacht werden, um die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gegen Russland zu unterstützen.[13]

Auch in Bezug auf den Klimawandel – vielleicht die Schicksalsfrage der Menschheit schlechthin – setzt man weltweit seit langem auf das Völkerrecht[14] und seit kurzem auch auf die internationalen Gerichte:[15] Inzwischen haben der Internationale Seegerichtshof in Hamburg,[16] der IGH[17] und der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte[18] in Gutachten die völkerrechtlichen Pflichten der Staaten konkretisiert. Ein Gutachtenverfahren vor dem Afrikanischen Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker ist noch anhängig.[19] Auch der EGMR hat bereits zu den entsprechenden menschenrechtlichen Verpflichtungen judiziert;[20] Gleiches gilt für verschiedene Menschenrechtsgremien auf Weltebene.[21]

Die Mühlen des Völkerrechts mahlen also vernehmlich an vielen Orten. Was können wir – Experten und Laien – tun, um seine Mahlgänge zu effektivieren? Wir müssen immer und überall für die Einhaltung und Durchsetzung des Völkerrechts eintreten – gegenüber Israel und den USA nicht weniger als gegenüber Russland und China. Wir müssen Völkerrechtsverletzungen immer und überall klar verurteilen – wenn Trump sich über das Welthandelsrecht zu unseren Lasten hinwegsetzt genauso, wie wenn er den Iran bombardiert und damit angeblich unsere Drecksarbeit erledigt. Warum? Weil die Autokraten und Gewaltherrscher dieser Welt und ihre Adepten im Inland nicht nur das Völkerrecht demontieren, sondern alle – auch die nationalen – rechtlichen Schranken für ihr Machtstreben beseitigen wollen. Wir können Rechtsstaat und Demokratie im Innern nicht bewahren, wenn wir das Völkerrecht preisgeben. Deshalb müssen wir völkerrechtskonformes Verhalten allzeit, überall und von allen einfordern. Wir tun dies für die rechtliche und demokratische Sicherheit von uns selbst und unseren Kindern.

Mein Fazit lautet: Die Assads, Netanyahus, Putins, Xis und Trumps kommen und gehen, aber das Völkerrecht besteht – mehr noch: Es wächst und gedeiht. Das gilt aber nur, wenn wir alle – die Allgemeinheit – es hegen und pflegen. Wir müssen die weltweite Nachfrage der Zivilgesellschaft nach Völkerrechtskonformität steigern, um seine zivilisatorische Kraft und geistige Macht zu stärken.


[1] Überlegungen zum Erscheinen des Buchs von Christoph Safferling, Ohnmacht des Völkerrechts: Die Rückkehr des Kriegs und der Menschheitsverbrechen (2025).

[2] EGMR, Urt. v. 13.12.2012, El-Masri v. The Former Yugoslav Republic of Macedonia (Appl. No. 39630/09); Urt. v. 24.7.2014, Al Nashiri v. Poland (Appl. No. 28761/11); Urt. v. 24.7.2014, Husayn (Abu Zubaydah) v. Poland (Appl. No. 7511/13); Urt. v. 31.5.2018, Abu Zubaydah v. Lithuania (Appl. No. 46454/11).

[3] Vgl. Kai Ambos/Jörg Arnold (Hrsg.), Der Irak-Krieg und das Völkerrecht (2004).

[4] Resolution A/ES-11/1 vom 2.3.2022 (angenommen mit 141:5 Stimmen bei 35 Enthaltungen); Resolution A/ES-11/4 vom 12.10.2022 (angenommen mit 143:5 Stimmen bei 35 Enthaltungen).

[5] Decision 80/506 (angenommen mit 142:10 Stimmen bei 12 Enthaltungen) heißt die New York Declaration on the Peaceful Settlement of the Question of Palestine and the Implementation of the Two-State Solution gut.

[6] Allegations of Genocide under the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Ukraine v. Russian Federation) mit Beschluss vom 16.3.2022 über vorsorgliche Maßnahmen und Urteil vom 2.2.2024 über die von Russland erhobenen preliminary objections – ansonsten noch anhängig; Appeal from the ICAO Council Decision dated 30 June 2025 (Russian Federation v. Australia and Netherlands).

[7] Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide in the Gaza Strip (South Africa v. Israel) mit Beschlüssen vom 26.1.2024, 28.3.2024 und 24.5.2024 über vorsorgliche Maßnahmen; Alleged Breaches of Certain International Obligations in respect of the Occupied Palestinian Territory (Nicaragua v. Germany) mit Beschluss vom 30.4.2024 über die Ablehnung vorsorglicher Maßnahmen.

[8] Gutachten vom 9.7.2004 – Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory; Gutachten vom 19.7.2024 – Legal Consequences arising from the Policies and Practices of Israel in the Occupied Palestinian Territory, including East Jerusalem; Gutachten vom 22.10.2025 – Obligations of Israel in relation to the Presence of United Nations, Other International Organizations and Third States in and in relation to the Occupied Palestinian Territory.

[9] Urt. v. 25.7.2024, Ukraine v. Russia (Re Crimea) (Appl. No. 20958/14 u.a.); Urt. v. 9.7.2025, Ukraine and the Netherlands v. Russia (Appl. No. 8019/16 u.a.).

[10] International Criminal Court, Press Release: 17 March 2023; Press Release: 21 November 2024.

[11] https://www.whitehouse.gov/presidential-actions/2025/02/imposing-sanctions-on-the-international-criminal-court/ (2.11.2025). Zur Reaktion des IStGH https://www.icc-cpi.int/news/icc-strongly-rejects-new-us-sanctions-against-judges-and-deputy-prosecutors (2.11.2025).

[12] https://www.coe.int/en/web/portal/-/ukraine-and-the-council-of-europe-sign-agreement-on-establishing-a-special-tribunal-for-the-crime-of-aggression-against-ukraine (1.11.2025).

[13] Resolution CM/Res(2025)3 confirming the establishment of the Enlarged Partial Agreement on the Register of Damage Caused by the Aggression of the Russian Federation against Ukraine vom 9.7.2025 (1d2321e1-5fba-8b98-94d3-43aae58f467e [2.11.2025]).

[14] Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen vom 9.5.1992 (BGBl.1993 II S. 1763); Kyoto-Protokoll zum Rahmenübereinkommen vom 11.12.1997 (BGBl. 2002 II S. 966); Übereinkommen von Paris vom 12.12.2015 (BGBl. 2016 II S. 1083).

[15] Vgl. Thomas Giegerich/Julia Jungfleisch, Klimaschutz durch nationale und internationale Gerichtsverfahren – Strategische Prozessführung im Gemeininteresse der Menschheit, Saar Expert Papers 02/2024 (https://jean-monnet-saar.eu/wp-content/uploads/2024/01/Expert-Paper-Klimaschutz-durch-nationale-und-internationale-Gerichtsverfahren-%E2%80%93-Strategische-Prozessfuehrung-im-Gemeininteresse-der-Menschheit.pdf).

[16] International Tribunal for the Law of the Sea, Advisory Opinion, 21 May 2024 (C31_Adv_Op_21.05.2024_orig.pdf [1.11.2025]).

[17] Obligations of States in Respect of Climate Change, Advisory Opinion, 23 July 2025.

[18] Inter-American Court of Human Rights, Advisory Opinion AO-32/25 of May 29, 2025 (C31_Adv_Op_21.05.2024_orig.pdf[1.11.2025]).

[19] Vgl. Yusra Suedi, Africa’s Turn: The African Court’s Advisory Opinion on Climate Change, EJIL Talk, May 22, 2025.

[20] Urteil vom 9.4.2024, Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland (Appl. No. 53600/20).

[21] Nachw. bei Giegerich/Jungfleisch (Fn. 13), S. 21 ff.

ZitiervorschlagGiegerich, Thomas, Ist das Völkerrecht wirklich ohnmächtig?, jean-monnet-saar 2025.

DOI: 10.17176/20251104-123606-0

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer: 525576645

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