Das zukünftige deutsche Vignetten-System:
Eine verbotene Diskriminierung von EU-Ausländern?
Eine Stellungnahme von Sabrina Lauer
„Der Verkehr ist Grundlage unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Mobilität ist das Lebenselixier des Binnenmarkts und prägt die Lebensqualität der Bürger, die ihre Reisefreiheit genießen.“
So beginnt ein von der Europäischen Kommission im März 2013 herausgegebenes Weißbuch (KOM(2011) 144). Gleichzeitig wurde hierin aber auch das langfristige Ziel angekündigt, „Nutzerentgelte für alle Fahrzeuge und das gesamte Netz zu erheben, um mindestens die Instandhaltungskosten der Infrastruktur, Staus, Luftverschmutzung und Lärmbelastung“ den Nutzerinnen und Nutzern anzulasten.
Im Einklang mit diesem Ziel findet sich im aktuellen Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD die Vorgabe, dass zur Finanzierung des Erhalts und Ausbaus der deutschen Autobahnnetze ein „angemessener Beitrag der Halter von nicht in Deutschland zugelassenen PKW“ (S.39 f) in Form einer Vignette erhoben werden soll. Eine nicht im Weißbuch der Kommission enthaltene Idee ist hingegen die Maßgabe, „dass kein Fahrzeughalter in Deutschland stärker belastet wird als heute.“ Geäußerte europarechtliche Bedenken beantworten die Koalitionspartner mit dem knappen Hinweis, die Ausgestaltung werde EU-rechtskonform erfolgen (S.40 oben). Österreich jedenfalls scheint davon wenig überzeugt. Hier hält man ein Modell, bei dem ausschließlich Ausländer zusätzlich zur Kasse gebeten werden, für europarechtswidrig und kündigt bereits rechtliche Schritte dagegen an.
I. Der rechtliche Ausgangspunkt
Während die Richtlinie 1999/62/EG einen EU-rechtlichen Rahmen für die Erhebung der LKW-Maut bildet, gibt es für PKW keine vergleichbare Regelung. Wie Mautsysteme beispielsweise in Frankreich, Kroatien, Italien und Portugal oder Vignettensysteme in Bulgarien, Österreich und der Tschechischen Republik aber zeigen, verstößt die Idee einer Gebühr für die Nutzung einer Straße auch gegenüber ausländischen PKW nicht per se gegen europäisches Recht. Dennoch sind in diesem Zusammenhang immer wieder Beschwerden bei der Europäischen Kommission eingegangen, bei denen insbesondere das europarechtliche Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit betont wurde.
Und genau in diesem Verbot liegt auch das entscheidende Problem. Will man deutsche Autobahnen gebührenpflichtig machen, sucht aber gleichzeitig einen Ausgleich, der faktisch dazu führt, dass deutsche Autofahrerinnen und Autofahrer keine finanzielle Mehrbelastung trifft, so liegt zwar keine offene, womöglich aber eine versteckte Diskriminierung vor.
Ein Modell, bei dem der Vorwurf einer solchen Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in jedem Fall entfiele, wäre die Einführung einer streckenabhängigen Maut, da sie das europarechtlich forcierte Verursacherprinzips („user pays principle“) ideal umsetzen könnte und ausländische wie inländische Fahrerinnen und Fahrer gleichermaßen treffen würde. Ein solcher Vorschlag wird derzeit aber nicht ernsthaft diskutiert.
II. Europarechtliche Bedenken
Ausweislich des Koalitionsvertrages wird stattdessen ein Vignetten-Modell für Deutschland geplant, welches hinsichtlich seiner genauen Ausgestaltung drei europarechtliche Fragen aufwirft, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen:
(1) Darf Deutschland eine Jahresvignette einführen, die relativ betrachtet günstiger ist, als eine Tages- bzw. Wochen-Vignette?
Beispielsweise in Österreich ist eine zeitlich begrenzte Vignette relativ betrachtet teurer, als eine Jahresvignette. Hier kostet die Vignette für 10 Tage 8,30€ (0,83€ pro Nutzungstag), die Jahresvignette dagegen „nur“ 80,60€ (0,22€ pro Nutzungstag). Da auf diese Weise höhere Einnahmen erzielt werden können, als bei relativ gleich teuren Vignetten, ist davon auszugehen, dass auch Deutschland solch ein Modell in Erwägung zieht. Es fragt sich aber, ob diese Form der Gebührenerhebung europarechtlich zulässig ist. EU-rechtlich verboten sind nämlich nicht nur direkte, sondern auch mittelbare (versteckte) Diskriminierungen. Diese knüpfen Unterscheidungen an andere Merkmale als die Staatsangehörigkeit (z.B. den Wohnsitz), die jedoch so eng mit der Staatsangehörigkeit verbunden sind, dass ihre Benutzung in den meisten Fällen zum gleichen Ergebnis führt, wie die direkte Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit. Da in der Regel nur solche Personen, die ihren Wohnsitz in dem gebührenerhebenden Staat haben eine Jahresvignette kaufen werden, sind Urlauberinnen und Urlauber oder auch bloß Durchreisende – für die absolut gesehen die Kurzzeitvignetten natürlich die günstigere Variante sind –finanziell im Nachteil und damit mittelbar diskriminiert. Damit steht die Europarechtswidrigkeit aber noch nicht fest. Keine Diskriminierung liegt vor, wenn die Ungleichbehandlung (1) auf objektiven Erwägungen beruht, die nichts mit der Staatsangehörigkeit zu tun haben, und (2) im Hinblick auf den legitimen Zweck der nationalen Vorschiften verhältnismäßig ist. Folglich stellt sich zunächst die Frage, ob objektive Erwägungen existieren, die eine finanzielle Vergünstigung bei Jahresvignetten rechtfertigen. Zu denken wäre hier zunächst an den Bereich der Abonnement-Preise. Auch dort erhalten die„Jahresnutzer“ einen finanziellen Vorteil im Vergleich zu „Gelegenheitsnutzern“. Man könnte erwägen, dass die stabile Kalkulationsgrundlage, die man durch Jahreskunden erhält, auch auf das Gebührensystem für Straßen übertragbar ist. Denn die durch den Verkauf der Jahresvignetten erzielten Erlöse können im Haushaltstitel für die Instandhaltung der Straßen sicher einkalkuliert werden. Dennoch vermag diese Erwägung nicht zu überzeugen. Sie würde nämlich in gleicher Weise gelten, wenn die Jahresvignetten pro Nutzungstag dasselbe kosteten wie Kurzzeitvignetten. Da zudem realistisch betrachtet für dauernde Nutzerinnen und Nutzer nationaler Autobahnen keine andere Möglichkeit besteht, als Jahresvignetten zu kaufen, muss dafür auch kein finanzieller Anreiz geschaffen werden. Auch die Idee, dass eine Art „Mengenrabatt“ die Vergünstigung für Jahresvignetten rechtfertigen könnte, erscheint fragwürdig. Obwohl solche Preisgestaltungen in vielen Wirtschaftszweigen gängige Praxis sind – man denke nur an Jahreskarten für Fußballstadien, Monatskarten für den Bus oder Zehnerkarten für Schwimmbäder – sollen auch all diese Modelle Kunden längerfristig an den Anbieter binden. Dieser Gedanke ist auf ein Straßengebührensystem, dem niemand ausweichen kann, aber nicht übertragbar. Eventuell in Erwägung zu ziehen ist das Argument, eine Jahresvignette verursache weniger bürokratischen Aufwand, als mehrfach im Jahr beantragte Wochen-/Tages-Vignetten. Ob es realistisch betrachtet aber tatsächlich öfter vorkommt, dass jemand mehrfach Vignetten kauft, anstatt einmal die Jahresvignette, wenn er oder sie öfter die nationalen Autobahnen nutzt und zudem eine Differenzierung von 22 Cent im Vergleich zu 83 Cent pro Nutzungstag noch angemessen ist, kann zumindest bezweifelt werden.
Mithin fällt es schwer, objektive Erwägungsgründe für eine Rechtfertigung der mittelbaren Diskriminierung ausländischer Autofahrerinnen und Autofahrer in Gestalt der relativ teureren Tages-Vignetten zu finden. Dass mehrere Mitgliedstaaten dieses Modell von der Kommission unbeanstandet durchführen können, ist daher verwunderlich.
(2) Darf die Vignette an deutsche Kraftfahrzeugsteuerzahler kostenlos zusammen mit dem Steuerbescheid versandt werden?
Europarechtlich fragwürdig ist auch der Vorschlag, für inländische Autobahnbenutzer eine Kompensation der Straßennutzungsgebühren dadurch zu erreichen, dass die Vignette nach Zahlung der Kfz-Steuer kostenlos zugesandt werden soll. Ein umgekehrtes Modell, bei dem eine Vignette für alle eingeführt würde und deutsche Autofahrerinnen und Autofahrer zudem durch die Kfz-Steuer belastet würden, wäre übrigens als Fall der sogenannten Inländerdiskriminierung europarechtlich unbedenklich. Aus offenkundig politischen Gründen wird ein solches Modell aber nicht ernsthaft vorgeschlagen.
Wie oben bereits dargestellt, schützt das Unionsrecht auch vor mittelbaren Diskriminierungen, die typischerweise EU-Bürgerinnen und Bürger mit Wohnsitz im Ausland benachteiligen. Der deutschen Kfz-Steuer unterliegt gemäß § 1 KraftStG insbesondere, wer ein inländisches Fahrzeug hält oder wer ein ausländisches Fahrzeug hält, das sich aber im Inland befindet, mithin also in der Regel Personen, die ihren Wohnsitz in Deutschland haben. Geht man davon aus, dass vor allem die Wirkung einer nationalen Maßnahme berücksichtigt werden muss, wenn sie auf mögliche diskriminierende Tendenzen untersucht wird, so erkennt man Folgendes: Wird inländischen Kfz-Haltern zusammen mit dem Steuerbescheid eine kostenlose Vignette mitgeschickt, werden im Ergebnis allein ausländische Halter mit zusätzlichen Gebühren belastet.
Da die Kfz-Steuer nicht nur gegenüber deutschen Staatsangehörigen erhoben wird, sondern von jedem zu zahlen ist, der sein Fahrzeug in Deutschland zulässt (vgl. § 2 Abs. 3 KraftStG), kann nicht von einer direkten Diskriminierung gesprochen werden. In jedem Fall liegt aber eine versteckte Diskriminierung vor. Während ausländische Straßennutzer die von ihnen verursachten Schäden über die Vignette kompensieren würden, entfiele dies für deutsche Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zumindest mittelbar. Denn bei der Kfz-Steuer handelt es sich um eine allgemeine Steuer, die dem deutschen Haushalt zweckungebunden zufließt und somit nicht zwangsläufig in den Ausbau und Erhalt der Autobahnen investiert werden muss. Die Einnahmen aus dem Verkauf der Vignetten, die als Gebühr erhoben würde, müssten hingegen auch der Infrastrukturerhaltung zugutekommen. Aber auch hier gilt: „objektive Erwägungsgründe“ könnten eine solche Diskriminierung rechtfertigen. Da die Idee einer Straßennutzungsgebühr für PKW nur deswegen aufkam, weil man die Instandhaltung der Straßeninfrastruktur finanzieren wollte, werden solche Gründe aber nur schwer zu finden sein. Nach dem soeben Gesagten kann nämlich nicht darauf rekurriert werden, dass die deutschen Autobahnnutzerinnen und –nutzer bereits durch die Kfz-Steuer zum Erhalt der Infrastruktur beitrügen. So sagte eine Sprecherin der EU-Kommission daher auch:
„Einheimischen Autofahrern mit KFZ-Steuersenkungen eine Gratisvignette zu geben, ist nicht möglich.“
(3) Darf Deutschland von allen Autobahnnutzerinnen und -nutzern denselben Preis für die Vignette verlangen und gleichzeitig die Kfz-Steuer um diesen Betrag senken?
Bleibt zuletzt die Möglichkeit, die Kfz-Steuer in Deutschland zu senken, um so eine finanzielle Kompensation für die Vignette gegenüber deutschen Autofahrerinnen und Autofahrern zu schaffen. Doch wäre ein solches Vorgehen tatsächlich europarechtlich unbedenklich? In der Antwort des europäischen Kommissars für Verkehr Sim Kallas im Oktober dieses Jahres auf eine parlamentarische Anfrage der europäischen Grünen heißt es wörtlich:
Insbesondere in Anbetracht eines älteren Urteils des Europäischen Gerichtshofes überrascht diese Aussage jedoch. Im Mai 1992 wurde in einem Vertragsverletzungsverfahren gegenüber Deutschland entschieden, dass das damalige Gesetz über Gebühren für die Benutzung von Bundesfernstraßen mit schweren Lastfahrzeugen gegen europarechtliche Vorgaben verstieß, weil damals parallel die Kfz-Steuer für deutsche LKW gesenkt wurde (Rechtssache C-195/90). Eine dem Europarecht zuwiderlaufende Diskriminierung wurde dabei dadurch hervorgerufen, dass die in der Straßenbenutzungsgebühr liegende neue Belastung für ausländische Verkehrsteilnehmer nicht ausgeglichen wurde, während für deutsche Verkehrsunternehmen keine zusätzliche Belastung entstand (vgl. Rn.14 und 23 des Urteils). Ein Unterschied zum hier diskutierten Fall besteht darin, dass es in jenem Urteil um einen Verstoß gegen den heutigen Art. 92 AEUV ging, welcher sich ausweislich seines Wortlautes nur auf Regelungen gegenüber Verkehrsunternehmen bezieht.
Dennoch ist die Argumentation auf die vorliegende Situation übertragbar. Denn auch bei einer Senkung der Kfz-Steuer für PKW bei gleichzeitiger Einführung einer Vignette für alle würde für deutsche Autofahrerinnen und –fahrer keine zusätzliche Belastung entstehen, sondern nur für ausländische.
Nun können ältere EuGH-Urteile durch neuere Entwicklungen überholt werden. Man könnte insofern also argumentieren, die Verkehrssituation in ganz Europa habe sich seit 1992 verändert, da insgesamt mehr Autos auf den Straßen unterwegs seien und die Abschaffung von Grenzkontrollen aufgrund des Inkrafttretens des Schengen-Abkommens im Jahr 1995 auch zu einer stärkeren Nutzung nationaler Straßen durch ausländische Fahrzeuge geführt habe. Überdies haben seit 1992 auch immer mehr europäische Länder eine Nutzungsgebühr für nationale Straßen eingeführt, sodass es nur gerecht erscheint, Ausländer in Deutschland mit demselben Nachteil zu belegen, dem sich deutsche Fahrerinnen und Fahrer bereits seit Jahren in vielen anderen Ländern ausgesetzt sehen.
Diesen Argumenten kann jedoch insbesondere eine Erwägung entgegengehalten werden, die – obwohl noch aus dem Schlussantrag des Generalanwaltes Francis G. Jacobs im Fall der LKW-Maut stammend – auf den hiesigen Fall übertragbar ist: Dort heißt es in Rn. 25, dass die
„Verbindung zweier Maßnahmen […] auch dann gegen den Vertrag verstoßen [kann], wenn jede für sich betrachtet rechtmäßig ist, da sich die gemeinsame Wirkung beider Maßnahmen von der Wirkung jeder einzelnen Maßnahme unterscheiden kann“.
So liegt der Fall auch hier. Obwohl Deutschland zum Erlass eines Gebührensystems für die Straßennutzung ebenso befugt ist, wie zur Absenkung der Kfz-Steuer, und für beides keine „Erlaubnis“ aus Brüssel benötigt, können beide Maßnahmen vor dem Hintergrund des europarechtlichen Diskriminierungsverbotes nicht isoliert betrachtet werden. Die Wirkung einer Vignette für alle bei paralleler Senkung der deutschen Kfz-Steuer wäre faktisch, dass nur für Ausländer ein zusätzlicher finanzieller Nachteil entstünde. Dieser lässt sich nach hier vertretener Ansicht nur schwer rechtfertigen – egal, wie gerecht es aus subjektiv deutscher Sicht scheint, endlich auch ausländische Straßennutzerinnen und – nutzer an den Kosten der Straßeninstandhaltung zu beteiligen.
III. Fazit
Die Einführung eines Nutzungsentgelts für deutsche Autobahnen widerspricht nicht per se der europäischen Idee, sondern steht im Gegenteil sogar im Einklang mit dem europarechtlich verfolgten Verursacherprinzip. Wichtig bei der Einführung eines wie auch immer gearteten Systems ist aber, dass sowohl inländische als auch ausländische Autofahrerinnen und Autofahrer gleich belastet werden. Dazu eignet sich die von den Koalitionspartnern favorisierte Einführung einer Vignette auch grundsätzlich, sofern sie für verschiedene Geltungszeiträume verfügbar und von allen Autobahnbenutzern unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zu zahlen wäre. Um deutsche Autofahrerinnen und Autofahrer nicht mehr als bisher finanziell zu belasten, erscheint nur eine Umstellung des gesamten Steuersystems verbunden mit Steuersenkungen in Bereichen, bei denen kein Zusammenhang zur PKW-Maut hergestellt werden kann, möglich. Es bleibt spannend zu beobachten, ob am Ende europarechtliche Vorgaben nicht dazu führen, dass die Maut eingeführt und schlichtweg auf Ausgleichsmechanismen für deutsche Steuerzahlerinnen und Steuerzahler verzichtet wird, um letztlich in jedem Fall die nun in Aussicht stehenden Mehreinnahmen für den Verkehrssektor zu sichern.