Das Urteil T.V. gegen Spanien (EGMR, Beschwerde-Nr. 22512/21)
Eine Case Note von Dipl. Jur. Miriam Schmitt, LL.M.*
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Menschenhandel ist, auch in Europa, immer noch ein verbreitetes Phänomen. Gerade Spanien ist ein beliebtes Zielland für Menschenhändler, allein von 2017 bis 2022 sind dem spanischen Innenministerium 1.687 Opfer von Menschenhändlern bekannt geworden.[1] Zudem ist von einer erheblichen Dunkelziffer auszugehen. Die meisten Opfer kommen aus Nigeria und Rumänien.[2] Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass der EGMR am 20. Oktober 2024 einen Fall gegen Spanien zu entscheiden hatte, der Vorwürfe des Menschenhandels betraf.
Im Urteil T.V. gegen Spanien[3] stellte der EGMR fest, Spanien habe gegen die sich aus Art. 4 EMRK ergebende positive Pflicht verstoßen, hinreichende Ermittlungen vorzunehmen, um effektiv auf Beschwerden wegen Menschenhandels zu reagieren. Obwohl Menschenhandel nicht konkret in Art. 4 EMRK erwähnt ist, hat der Gerichtshof im Urteil Rantsev gegen Zypern und Russland festgestellt, dass Menschenhandel in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK fällt.[4]
Neben sogenannten negativen Verpflichtungen bzw. Unterlassungspflichten, Menschenrechte nicht zu verletzen, begründet die EMRK zudem positive Handlungspflichten der Vertragsstaaten.[5] Ausdrücklich finden sich positive Verpflichtungen in Art. 6 Abs. 1 S. 1 (Recht auf ein Gericht und Zugang zu einem Gericht im Sinne einer positiven Pflicht ein effektives Justizsystem aufzubauen[6]) und 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde). Der EGMR hat jedoch im Laufe seiner Rechtsprechung auch positive Verpflichtungen für weitere Konventionsrechte entwickelt. Im Grundsatz umfassen positive Verpflichtungen Teilhaberecht, prozessuale Pflichten der Staaten und Schutzpflichten.[7] Im Urteil Rantsev gegen Zypern und Russland entwickelte der EGMR auch für Art. 4 EMRK einen positiven Rahmen hinsichtlich der Verpflichtungen der Vertragsstaaten zur Ermittlung bei Vorwürfen des Menschenhandels.[8] Diese Rechtsprechung wurde nun im Urteil T.V. gegen Spanien bestätigt.
Die Umstände des Falls
Die Beschwerdeführerin ist Nigerianerin (Rn 2). Laut ihren Ausführungen trat 2003 eine Bekannte an Ihren Vater heran und bot an, die Beschwerdeführerin, die zu dem Zeitpunkt 14 Jahre alt gewesen sein soll, mit nach Spanien zu nehmen, damit sie dort arbeiten könne (Rn. 5). Im Gegenzug verlangte sie die
schrittweise Bezahlung von 70.000€. Über Paris kam die Beschwerdeführerin mit einem falschen Erwachsenenausweis nach Madrid und wurde von der Bekannten und ihrem späteren Ehemann zur Prostitution gezwungen und körperlich misshandelt, bis ihr 2007 die Flucht gelang (Rn. 5). An ihr wurde ein „Vodoo-Ritual“ durchgeführt, was sie töten solle, sollte sie zu den spanischen Behörden gehen (Rn. 11). 2011 erstattete die Beschwerdeführerin Strafanzeige (Rn. 6). Das Verfahren wurde 2013 vorläufig eingestellt und 2014 nach Beschwerde eines Staatsanwalts wieder aufgenommen (Rn. 21, 22). Es wurden Untersuchungen zur Altersbestimmung der Beschwerdeführerin eingeleitet (Rn. 40 ff.). Am 10. Januar 2017 wurde das Verfahren vorläufig eingestellt, mit der Begründung, dass die Antragstellerin nach forensischen Untersuchungen im Jahr 2015 ca. 18 Jahre alt wäre und es deshalb unwahrscheinlich sei, dass sie 2006 (also im Alter von ca. 6 Jahren) mit einem Erwachsenenreisepass einreisen konnte oder problemlos als Prostituierte arbeiten konnte (Rn. 47). Eine Berufung der Beschwerdeführerin gegen die Einstellung wurde abgewiesen (Rn. 50). Eine Verfassungsbeschwerde wurde am 5. Oktober 2020 als unzulässig zurückgewiesen (Rn. 52).
Die Entscheidung des Gerichtshofs
Zur Definition des Menschenhandels zieht der EGMR Art. 3 (a) des Palermo-Protokolls[9] und Art. 4 (a) des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels[10] heran (Rn. 44). Er unterstreicht erneut die positive Verpflichtung, die sich aus Art. 4 EMRK ergibt. Die Staaten seien verpflichtet, „ein[en] Rechts- und Verwaltungsrahmen zum Verbot und zur Bestrafung des Menschenhandels zu schaffen“; dies umfasse „die Pflicht (…) operative Maßnahmen (…) zu ergreifen“ sowie die verfahrensrechtliche Untersuchungspflicht zu gewährleisten (Rn. 80).
Der EGMR stellte eine gleich dreifache Verletzung dieser verfahrensrechtlichen Untersuchungspflicht fest (Rn. 101, 108, 117).
Erstens versäumten die Behörden es, direkt zu Beginn der Untersuchung mit der erforderlichen Sorgfalt zu handeln, indem sie erst ein halbes Jahr nach Eingang der Beschwerde die Ermittlungen aufnahmen (Rn. 99). Die ersten wirklich sinnvollen Ansätze wurden erst nach drei Jahren verfolgt (Rn. 100).
Zweitens versäumten sie es, offensichtlichen Ermittlungsansätzen nachzugehen, denn trotz teilweise sich widersprechender Zeugenaussagen wurde von den Behörden nicht weiter ermittelt (Rn. 104). Es wurden Aspekte des Falles nicht berücksichtigt bzw. naheliegende Schritte zur Sachverhaltsaufklärung nicht unternommen (Rn. 105-108).
Drittens lieferten die Behörden keine ausreichende Begründung für die vorläufige Einstellung des Verfahrens. Diese stütze sich maßgeblich auf das Gutachten zur Altersbestimmung und daher auf die Begründung, die Beschwerdeführerin sei im Jahr 2015 erst 18 Jahre alt gewesen, obwohl die Gutachten, die dem Gericht vorlagen, von einem Mindestalter (vgl. Rn 44) sprachen (Rn. 113). Weitere Beweismittel oder Stellungnahmen betreffend das Alter wurden nicht eingeholt (Rn. 114).
Fazit
Die Art und Weise, wie Menschenhändler junge Mädchen in den sexuellen Missbrauch und in die Prostitution drängen, ist ein perfides System. Es werden körperliche und psychische Gewalt, Missbrauch und Betrug genutzt und religiöse Traditionen des jeweiligen Ursprungslandes, wie hier das Vodoo-Ritual als okkulte Drohung, missbraucht. Solche Vorgehensweisen sind der „typische Modus operandi“ von Menschenhändlern (Rn. 23, 78). Erschwerend kommt hinzu, dass die Mädchen bzw. Frauen in der Regel die Sprache und Gegebenheiten des Landes, in das sie gebracht werden, nicht kennen. Am Beispiel des Falles T.V. gegen Spanien zeigt sich, welche psychischen Beeinträchtigungen den Frauen selbst nach einer Flucht weiterhin anlasten. Bei der Beschwerdeführerin wurde 2013 eine Paranoide Schizophrenie diagnostiziert, was mit einem Behinderungsgrad von 70% einhergeht (Rn. 57). Es ist daher zwingend notwendig, gegen solche Menschenhändler vorzugehen und es ist begrüßenswert, dass die Rechtsprechung des EGMR ihre Entwicklung in diese Richtung weiter schärft. Das Urteil ist auch als Fortführung der Rechtsprechung des EGMR hinsichtlich der positiven Verpflichtungen zu sehen und zeigt die langsame Erweiterung des Schutzrahmens der EMRK in den letzten Jahrzehnten, die hinführt zu einem weitgehenden und praktisch effektiven Menschenrechtsschutz.
Der EGMR macht unmissverständlich klar, dass die Staaten nicht nur verpflichtet sind, Maßnahmen zu ergreifen, um Menschenhandel zu verhindern, sondern auch in der Pflicht stehen, aktiv gegen ihn vorzugehen, selbst wenn der Ursprung des Menschenhandels in einem Drittstaat liegt. Der EGMR definiert damit eine begrüßenswerte und unmissverständliche Verantwortlichkeit der Konventionsstaaten. Er macht damit deutlich, dass er gewillt ist, effektiv gegen Menschenhandel vorzugehen und bestrebt ist, diesem den Kampf anzusagen. Diese Rechtsprechung führt er in seinem aktuellen Urteil vom 24. Oktober 2024 B.B. v. Slovakia[11] fort.
*Dipl. Jur. Miriam Schmitt, LL.M., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Thomas Giegerich an der Universität des Saarlandes und Alumna des Europa-Instituts.
[1] GRETA(2023)10, Rn. 13.
[2] GRETA(2023)10, Rn. 24.
[3] EGMR, Urteil vom 10. Oktober 2024, T.V. v. Spain, Beschwerde-Nr. 22512/21.
[4] EGMR, Urteil vom 7. Januar 2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Beschwerde-Nr. 25965/04, Rn. 282.
[5] Nettesheim, in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, 5. Auflage 2023, Art. 1 Rn. 3.
[6] Harrendorf/König/Voigt, in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, 5. Auflage 2023, Art. 6 Rn. 30.
[7] Krieger, ZaöRV 2014, 187 (189).
[8] EGMR, Urteil vom 7. Januar 2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, Beschwerde-Nr. 25965/04, Rn. 285-289.
[9] Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, BGBl. III, 29.12.2005.
[10] Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels, 16.05.2005, CETS-Nr. 197.
[11] EGMR, Urteil vom 24. Oktober 2024, B.B. v. Slovakia, Beschwerde-Nr. 488587/21.
Zitiervorschlag: Schmitt, Miriam, Ein klares Signal für ein entschlossenes Vorgehen gegen Menschenhandel – Das Urteil T.V. gegen Spanien (EGMR, Beschwerde-Nr. 22512/21), jean-monnet-saar 2024.
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer: 525576645