Watching Big Brother – Das EGMR-Urteil in den Rechtssachen Pietrzak und Bychawska-Siniarska u.a. gegen Polen

Ein Beitrag von Lucca Kaltenecker*

In den vergangenen Jahren hatten sich europäische Gerichte häufig mit der Ausweitung staatlicher Befugnisse zur Telekommunikationsüberwachung zu befassen. Besonders die Judikatur des EuGH zur sog. Vorratsdatenspeicherung hat es hier zu großer Bekanntheit gebracht.[1] In jüngerer Zeit hat sich aber auch der EGMR wiederholt mit der Vereinbarkeit staatlicher Überwachungsmaßnahmen mit der EMRK beschäftigt.[2] Im Urteil Pietrzak und Bychawska-Siniarska u.a. gegen Polen[3] stellt der EGMR nun fest, dass die polnischen Befugnisse zur Telekommunikationsüberwachung, die Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung im polnischen Recht sowie weitreichende Überwachungsbefugnisse im polnischen Antiterrorgesetz gegen Art. 8 EMRK verstoßen und betont dabei insbesondere den Gedanken der lückenlosen und wirksamen Kontrolle der Exekutive bei Anordnung und Durchführung von verdeckten Überwachungsmaßnahmen. Darüber hinaus rezipiert der EGMR die Rechtsprechung des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung für die Rechtfertigung dieser Maßnahme am Maßstab von Art. 8 EMRK.[4] Auch für das deutsche Recht ergibt sich aus dem Urteil dringender Handlungsbedarf.

A. Die Umstände des Falls

Die Beschwerdeführer (Bf.), darunter ein Anwalt und Menschenrechtsaktivisten, wenden sich gegen verschiedene Vorschriften des polnischen Rechts, welche Polizei und Geheimdienste zur Vornahme einer verdeckten Kommunikationsüberwachung ermächtigen. Sie befürchten, in den vergangenen Jahren aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit zur Zielscheibe staatlicher Überwachungsmaßnahmen geworden zu sein (Rn. 134). Zwei der Bf. ersuchten hierüber bei der zuständigen Behörde um Auskunft, gestützt auf das polnische Informationsfreiheitsgesetz. Diese Auskunft wurde mit Blick auf das polnische Gesetz über die Geheimdienste verweigert, da es sich um eine als geheim eingestufte Information handele, die den Betroffenen nur bei einem zwingenden öffentlichen Interesse an der Bekanntgabe mitgeteilt werden könne (Rn. 12 f.). Auch eine im polnischen Verwaltungsverfahrensgesetz vorgesehene Beschwerdemöglichkeit bei der zuständigen Behörde blieb erfolglos. Vor dem EGMR behaupten die Bf. eine Verletzung des Rechts auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) sowie des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK).

Konkret geht es um verschiedene Befugnisse der Behörden zur verdeckten Kommunikationsüberwachung (im Einzelnen: der Zugriff auf den Inhalt von über Telekommunikationsnetzwerke oder das Internet übermittelten Nachrichten, verdeckte Tonaufzeichnungen und Bildaufnahmen in privaten Räumen und Transportmitteln, die Speicherung von auf privaten Datenträgern oder Kommunikationsmitteln befindlichen Informationen sowie die Kontrolle von Postsendungen), die polnische Umsetzung der sog. Vorratsdatenspeicherung sowie besondere Überwachungsbefugnisse der Geheimdienste nach dem polnischen Antiterrorgesetz.

B. Die Entscheidung des Gerichtshofs

I. Anforderungen an die Beschwerde

Das Wesen verdeckter staatlicher Überwachung bedingt, dass die Betroffenen in der Regel nur schwer nachweisen können, tatsächlich zum Ziel konkreter Überwachungsmaßnahmen geworden zu sein. In Anwendung der Roman-Zakharov-Rechtsprechung[5] genügt zur Begründung eines Eingriffs in Art. 8 EMRK in einem solchen Kontext jedoch, dass das nationale Recht den Betroffenen keinen wirksamen Rechtsbehelf zur Verfügung stellt, durch welchen diese Auskunft über und Rechtsschutz gegen konkrete, sie betreffende Überwachungsmaßnahmen erlangen können (Rn. 143 ff.). In diesen Fällen prüft der Gerichtshof abstrakt die Vereinbarkeit der nationalen Gesetzgebung mit der EMRK (Rn. 145 f.). Der Gerichtshof beruft sich konkret auf den Bericht der Venedig-Kommission zur polnischen Rechtslage.[6] Insoweit beweist der EGMR erneut, dass er gewillt ist, die Anforderungen an eine Beschwerde im Kontext staatlicher Überwachungstechnologie nicht allzu restriktiv zu handhaben und im Zweifel auch Popularklagen für zulässig zu erachten.[7]

II. Verletzung von Art. 8 EMRK durch die Befugnisse zur verdeckten Kommunikationsüberwachung

Der durch die Befugnisse zur verdeckten Kommunikationsüberwachung charakterisierte Eingriff in Art. 8 EMRK kann grundsätzlich durch die legitimen Zwecke des Schutzes der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung, der Verhütung von Straftaten und des Schutzes des wirtschaftlichen Wohlstands gerechtfertigt werden.[8] Der Gerichtshof hatte bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung einen differenzierten Kriterienkatalog entwickelt, in welcher Weise das nationale Recht Garantien gegen den willkürlichen Gebrauch und den Missbrauch der Überwachungsbefugnisse bieten muss.[9]

Im vorliegenden Fall betont der EGMR erneut die erforderliche praktische Wirksamkeit dieser Garantien. Er verlangt insbesondere angemessene Sicherungsmechanismen, die verhindern, dass die Sicherheitsbehörden ihre gesetzlichen Kompetenzen überschreiten. Der EGMR betont zwar den Spielraum der Konventionsstaaten, empfiehlt jedoch „bevorzugt“ die Einrichtung eines unabhängigen Kontrollgremiums, welches auf eigene Initiative hin tätig werden kann und welches mit den erforderlichen Befugnissen für die Aufdeckung und Bekämpfung etwaigen Missbrauchs ausgestattet ist (Rn. 193).

Hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Überwachungsmaßnahmen rügt der EGMR konkret die Erstreckung der Befugnisse auf die Aufklärung von Straftaten von geringerem Gewicht. Zwar verlange die Konvention nicht die Bezeichnung von Katalogtaten, zu deren Aufklärung die Überwachungsmaßnahmen eingesetzt werden dürften. Die nationale Gesetzgebung müsse jedoch hinreichend eindeutig erkennen lassen, für welche Arten von Straftaten der Einsatz solcher Maßnahmen gestattet ist (Rn. 197). Zudem sei der Zugriff auf Kommunikationsinhalte nur zum Zwecke der Aufklärung schwerster Straftaten erlaubt (Rn. 198). Der EGMR rügt darüber hinaus, dass die gesetzgeberische Ausgestaltung des Verweises auf die Straftaten oder Gruppen von Straftaten, zu deren Aufklärung der Einsatz von Überwachungsmaßnahmen gestattet ist, im polnischen Recht nicht mit der erforderlichen Klarheit und Eindeutigkeit erfolgte (Rn. 199 f.).

Ein besonderes Augenmerk legt der Gerichtshof auf die verfahrensmäßige Absicherung der Einhaltung der gesetzlichen Voraussetzungen. Hierfür verlangt er zunächst in Übereinstimmung mit der tradierten Rechtsprechung[10] die Genehmigung jeder Maßnahme durch ein unabhängiges Organ, wobei der Gerichtshof die Statuierung eines Richtervorbehalt zwar nicht als alternativlos (Rn. 203),[11] aber als besonders wirksame Garantie betrachtet (Rn. 205). Selbst wenn das nationale Recht einen Richtervorbehalt für die Anordnung verdeckter Kommunikationsüberwachung vorsieht, verlangt der EGMR jedoch den Nachweis, dass in der Praxis eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Tatsachen, auf deren Grundlage die Überwachung erfolgen soll, sowie der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme erfolgt. Bereits in der Rechtssache Ekimdzieh u.a. v. Bulgarien[12] hatte der Gerichtshof unter bestimmten Umständen eine Pflicht zur Begründung der richterlichen Anordnung für unausweichlich gehalten. Im vorliegenden Urteil hat der EGMR nun die Anforderungen daran, dass sich aus der EMRK eine solche Begründungspflicht ergibt, erneut abgesenkt: Allein die Tatsache, dass die beantragten Anordnungen – für die fast ausschließlich ein bestimmtes Gericht in Warschau örtlich zuständig ist – in hoher Anzahl genehmigt wurden, hielt der Gerichtshof für hinreichend, um aus Art. 8 EMRK eine Pflicht zur Begründung der (stattgebenden) richterlichen Anordnung von Maßnahmen der verdeckten Kommunikationsüberwachung abzuleiten (Rn. 207). Zudem rügt der Gerichtshof, dass das polnische Recht den über die Anordnung befindenden Richter nicht zur Prüfung eines begründeten Tatverdachts gegen die zu überwachende Person verpflichtet (Rn. 206). Ferner wurde beanstandet, dass die Sicherheitsbehörde  bei der Beantragung der richterlichen Anordnung frei entscheiden, welche Informationen sie zur Begründung beifügt (Rn. 209).

Hinsichtlich der Notkompetenz der Verwaltung zur Vornahme von Überwachungsmaßnahmen ohne vorherige richterliche Anordnung kritisiert der EGMR, dass das polnische Recht keine Beschränkung dieser Befugnis auf die Aufklärung besonders schwerer Straftaten vorsieht.  Ohne abschließend zur Vereinbarkeit dieser Regelung mit der EMRK Stellung zu nehmen, hält der Gerichtshof fest, dass die gesetzliche Ausgestaltung einer solchen, konventionsrechtlich grundsätzlich zulässigen Notkompetenz effektiv sicherstellen müsse, dass nur eine „sparsame“ („parcimonieuse“) und auf besonders begründete Fälle („cas dûment justifiés“) beschränkte Ausübung erfolge (Rn. 208). Es müsse insbesondere garantiert sein, dass die Verwaltung diese Notkompetenz nicht durch wiederholte kurzfristige Anordnungen zur faktischen Umgehung des eigentlich statuierten Richtervorbehalts nutze.

Im Übrigen verlangt der EGMR, dass eine externe und wirksame Kontrolle der Durchführung der Überwachungsmaßnahmen durch eine unabhängige Stelle erfolgt. Diese Kontrolle muss nicht nur zum Zeitpunkt der Anordnung (also vor Durchführung) der Maßnahme, sondern auch während ihrer Durchführung und im Nachgang sichergestellt sein.[13] Die Anforderungen an die Unabhängigkeit der externen Stelle entsprechen dabei der bisherigen Rechtsprechung.[14] Der Gerichtshof äußert dabei aber zum wiederholten Male eine eindeutige Präferenz dafür, dass auch die Kontrolle während der Durchführung der Maßnahme sowie im Nachgang jeweils durch ein Gericht erfolgt,[15] d.h. die Kontrolle durch eine der Exekutive zugeordnete, unabhängige Kontrollinstanz nur die zweitbeste, gerade noch konventionsmäßige Lösung darstellt (Rn. 226). Betont hat der Gerichtshof, dass die Kontrollinstanz mit wirksamen Kompetenzen ausgestattet sein muss, insbesondere dem Recht zur Einsichtnahme in die vollständige Verfahrensakte sowie der Befugnis, die Löschung etwaiger unrechtmäßig erhobener Daten anzuordnen (Rn. 227).[16]

Der EGMR fordert in Übereinstimmung mit seiner bisherigen Rechtsprechung[17] grundsätzlich, dass der Adressat nach Abschluss der Überwachungsmaßnahme von der überwachenden Stelle informiert wird, sobald der Zweck der Maßnahme hierdurch nicht mehr gefährdet ist (Rn. 238). Die theoretische Möglichkeit, um Auskunft über etwaige anlässlich einer verdeckten Kommunikationsüberwachung erhobene Daten zu ersuchen und die Zurückweisung dieses Ersuchens vor den Verwaltungsgerichten anzugreifen, reiche nicht aus, wenn im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens wiederum die Einstufung dieser Daten als geheimhaltungsbedürftig ausreiche, um deren Offenlegung – und damit jede Möglichkeit des Erfolgs dieses Rechtsbehelfs – zu verhindern (Rn. 241).[18] Der Betroffene muss in die Lage versetzt werden, einen Rechtsbehelf auszuüben, mit dessen Hilfe er erfahren kann, ob ihm gegenüber eine Überwachungsmaßnahme angeordnet wurde; ihre Rechtmäßigkeit muss gerichtlich kontrolliert und gegebenenfalls eine Wiedergutmachung für unrechtmäßige Überwachungsmaßnahmen erlangt werden können (Rn. 244).

Ferner hielt der Gerichtshof den Schutz von Berufsgeheimnissen im polnischen Recht für unzureichend. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Urteil zum BKA-Gesetz[19] verbietet der EGMR die Überwachung von Berufsgeheimnisträgern, insbesondere von Anwälten, zwar nicht generell,[20] verlangt aber besonders schwerwiegende Gründe – insbesondere aussagekräftige Indizien, die einen Tatverdacht gegen den Anwalt selbst wegen eines besonders schweren Verbrechens begründen – und eine besonders strikte Prüfung der Erforderlichkeit der Überwachungsmaßnahme (Rn. 222). Zudem fordert der Gerichtshof eine verfahrensmäßige Absicherung dieser Anforderungen, insbesondere die Genehmigung oder Anordnung der Maßnahme durch ein unabhängiges, außerhalb der hierarchischen Exekutive stehendes Organ, vorzugsweise durch ein Gericht (Rn. 222).[21]

Da das polnische Recht auf vielfältige Weise nicht diesen Anforderungen entsprach, stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 8 EMRK durch die Ausgestaltung der nationalen Vorschriften über die Befugnisse zur verdeckten Kommunikationsüberwachung fest. Der EGMR evoziert dabei allerdings die Möglichkeit, dass gegebenenfalls die Übererfüllung bestimmter Anforderungen Mängel an anderer Stelle kompensieren könnte (Rn. 246 aE).

III. Verletzung von Art. 8 EMRK durch die Ausgestaltung der sog. Vorratsdatenspeicherung

Bei der sog. Vorratsdatenspeicherung werden Anbieter von Telekommunikationsdiensten verpflichtet, Verkehrs- und Standortdaten von Telekommunikationsvorgängen (sog. Metadaten) zu erfassen und zu speichern, damit die Sicherheitsbehörden später auf diese Daten zur Aufklärung von Straftaten oder zur Gefahrenabwehr zugreifen können.[22] Das BVerfG[23] und v.a. der EuGH[24] hatten sich wiederholt mit der Vereinbarkeit der Vorratsdatenspeicherung mit den Grundrechten des Grundgesetzes bzw. der Grundrechtecharta zu befassen. Soweit ersichtlich befasst sich der EGMR im vorliegenden Urteil erst zum zweiten Mal ausführlich und spezifisch mit den konventionsrechtlichen Anforderungen an die Vorratsdatenspeicherung.[25]

In der Sache orientiert sich der EGMR hierbei an den Anforderungen, die auch für die Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 8 EMRK durch verdeckte Kommunikationsüberwachung gelten. Dem liegt die Wertung zugrunde, dass auch der bloße Zugriff auf die Metadaten ohne Kenntnisnahme des Inhalts von Kommunikationsvorgängen einen schwerwiegenden Eingriff in die Privatsphäre bedeutet, insbesondere hieraus detaillierte Persönlichkeits- und Aktivitätsprofile erstellt werden können (Rn. 249 f.). Bereits in der Rechtssache Ekimdzieh u.a. gegen Bulgarien[26] hatte der Gerichtshof sich zudem der Rechtsprechung von EuGH[27] und BVerfG[28] angeschlossen, wonach die Speicherung der Metadaten durch die Telekommunikationsdienstleister und der Zugriff auf die gespeicherten Daten durch die Sicherheitsbehörden zwei separat zu beurteilende und jeweils am Maßstab von Art. 8 EMRK rechtfertigungsbedürftige Eingriffe darstellen.

An der polnischen Rechtslage beanstandet der EGMR insbesondere, dass die Sicherheitsbehörden direkten und ständigen Zugriff auf die vorratsgespeicherten Metadaten haben und die Nutzung für beliebige Zwecke innerhalb ihrer gesetzlichen Zuständigkeit erfolgen darf (Rn. 256). Darüber hinaus scheint der EGMR durch Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH die Anforderung an die Zweckbindung der vorratsgespeicherten Metadaten, d.h. das Verbot ihrer Verwendung für die Aufklärung schwerer Straftaten, zu übernehmen (Rn. 263).

IV. Verletzung von Art. 8 EMRK durch das besondere Überwachungsregime des Antiterrorgesetzes

Die besonderen Befugnisse der polnischen Geheimdienste zur Terrorismusabwehr sahen die Möglichkeit vielfältiger und weitreichender Überwachungsmaßnahmen gegen ausländische Terrorverdächtige vor, ohne dass diese Befugnisse einer richterlichen Genehmigung oder der Kontrolle und Aufsicht einer externen Stelle unterliegen würden (Rn. 273). Es überrascht daher kaum, dass der EGMR diese Befugnisse für unvereinbar mit Art. 8 EMRK halten würde. Der Gerichtshof wiederholt dabei die Grundsätze, die sich aus seiner gefestigten Rechtsprechung ergeben: Zwar erkennt er die besondere Bedrohungslage durch den internationalen Terrorismus als Herausforderung für die demokratischen Gesellschaften an, die u.U. auch die Nutzung umfassender Überwachungstechnologien unumgänglich machen.[29] Gleichzeitig betont er, dass der schrankenlose Einsatz dieser Techniken den Bestand der Demokratie und der freiheitlichen Gesellschaft gefährdet.[30] Insoweit hält der Gerichtshof daran fest, dass nur die rechtsstaatliche Einhegung des Einsatzes solcher Überwachungstechnologien durch präzise formulierte gesetzliche Anforderungen und deren wirksame Kontrolle durch eine unabhängige Stelle vor der Gefahr der Unterminierung der Grundlagen einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft durch permanente staatliche Überwachung zu schützen vermag (Rn. 273).

C. Bewertung

Dem Gerichtshof ist das Unbehagen angesichts des sich stetig in Ausweitung begriffenen Einsatzes mächtiger Überwachungstechnologien[31] durch die Sicherheitsbehörden der Konventionsstaaten anzumerken. Besonders die – etwa durch die Enthüllungen von Edward Snowden – verschiedentlich öffentlich gewordenen Missbrauchspotentiale solcher Technologien sollen durch die in Straßburg mittlerweile in einer ganzen Rechtsprechungslinie formulierten Anforderungen möglichst ausgeschlossen werden. Positiv hervorzuheben ist dabei das besondere Augenmerk auf die Umsetzung wirksamer Kontrollmechanismen in der Praxis der staatlichen Überwachung und die lückenlose Kontrolle der Sicherheitsbehörden vor, während und nach der Datenerhebung sowie im Falle der Vorratsdatenspeicherungen erneut auf der Ebene des Zugriffs auf gespeicherte Daten. Hierdurch soll dem Gefühl permanenter Überwachung und dem daraus resultierenden sog. „chilling effect“ vorgebeugt werden (Rn. 257).[32] Nach hiesiger Auffassung ist für die Rechtsstaatlichkeit auch die Absage des Gerichtshofs an allzu weitreichende Ausnahmeregimes bei der Überwachung zum Zwecke der Terrorabwehr von grundlegender Bedeutung.

Der besondere Fokus des EGMR auf die verfahrensmäßige Absicherung zeigt sich darin, dass das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs im Kontext staatlicher Überwachungsmaßnahmen bereits für die Begründung eines Eingriffs in Art. 8 EMRK herangezogen und eine Verletzung von Art. 13 EMRK nicht selbständig geprüft wird.[33] Der vorliegende Fall zeigt, dass es dann umso mehr darauf ankommt, dass diese Sicherungsmechanismen auch in der Praxis ihre Wirksamkeit beweisen können. Es ist zu begrüßen, dass der Gerichtshof hierauf ein besonderes Augenmerk legt.

Bedenklich erscheint hingegen die ungebrochene und durch das vorliegende Urteil noch gesteigerte Komplexität der konventionsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung staatlicher Überwachungsmaßnahmen in der Rechtsprechung des EGMR. Nachdem bereits der Kriterienkatalog aus dem Urteil Big Brother Watch[34] mit acht Punkten nicht gerade übersichtlich war, nimmt der Gerichtshof im vorliegenden Fall unter Verweis auf diese und weitere Urteile, deren Anforderungen er sich durch Verweisung zu eigen macht (Rn. 192 f.), eine Prüfung anhand sieben teilweise abweichender Kriterien vor. Dies mag teils mit den spezifischen Mängeln des polnischen Rechts zu begründen sein, trägt aber nicht unbedingt zur besseren Verständlichkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs bei. Eine Konsolidierung erscheint daher wünschenswert – aufgrund der berechtigterweise recht niedrigen Anforderungen an die Beschwerdebefugnis wird der EGMR sicher bald erneut Gelegenheit haben, sich mit dieser Thematik zu befassen.

Bezogen auf das deutsche Recht fällt auf, dass das BVerfG einige nun vom EGMR aufgestellte Schranken bereits im Urteil zum BKA-Gesetz als verfassungsrechtliche Vorgaben formuliert und die bisherige Rechtslage insoweit in Teilen als ungenügend beanstandet hat. Dazu gehören insbesondere die vorherige Kontrolle durch eine unabhängige Stelle – insbesondere ein Gericht – inklusive hoher Anforderungen an die tatsächliche Ausübung der richterlichen Kontrolle. Darüber hinaus zählen hierzu die Pflicht zur Begründung die Überwachungsmaßnahme anordnender Entscheidungen,[35] der besondere Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses,[36] eine mit hinreichenden Kontrollbefugnissen ausgestattete externe Kontrollinstanz während des Vorgangs[37] sowie nachträgliche Benachrichtigungspflichten zu Gunsten Betroffener[38]. Teilweise – etwa in § 28 BPolG – sind diese nunmehr nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch konventionsrechtlich fundierten Anforderungen jedoch bisher unzureichend umgesetzt.[39] Insoweit besteht dringender Anpassungsbedarf im deutschen Recht. Im Anschluss an den Bruch der Ampel-Koalition ist die Verabschiedung des Gesetzes zur Neustrukturierung des Bundespolizeigesetzes, durch welches die erforderlichen Änderungen im BPolG umgesetzt werden sollten,[40] jedoch ungewiss geworden. Hier droht auch der Bundesrepublik im Falle weiterer Verzögerungen eine Verurteilung in Straßburg.

D. Fazit

In dem vorliegenden Urteil erhöht der EGMR an entscheidenden Stellen erneut die Anforderungen an die Rechtfertigung von Überwachungsmaßnahmen am Maßstab von Art. 8 EMRK und entwickelt seine recht neue Rechtsprechung zur Vereinbarkeit der Vorratsdatenspeicherung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention behutsam fort. Besonders hervorzuheben sind das Begründungserfordernis bzgl. richterlicher Anordnungen von Abhörmaßnahmen, der besondere und verfahrensmäßig abzusichernde Schutz von Berufsgeheimnissen (Rn. 222 aE), die umfangreiche Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung (Rn. 262 f.) sowie die erneute Absage an kontroll- und rechtsschutzfreie Räume in der Terrorismusabwehr (Rn. 272 f.). Dass es der EGMR mit diesen Anforderungen ernst meint, beweist die ausführliche Auseinandersetzung mit der Rechtslage in einer Reihe von Konventionsstaaten, darunter auch der Bundesrepublik (Rn. 118 ff.). Hier wird deutlich, dass auch in Zukunft wohl noch in einigen Fällen Anpassungsbedarf im nationalen Recht sichtbar werden wird, wenn auch im deutschen Recht bereits die Rechtsprechung des BVerfG im Wesentlichen gleichlaufende Anforderungen formuliert hat. Dieser idealerweise im Dialog der Gerichte in Straßburg und Karlsruhe hergestellte Gleichlauf von verfassungs- und konventionsrechtlichen Schranken für die Überwachungsbefugnisse der Sicherheitsbehörden ist zu begrüßen.[41] Angesichts des sicherheitspolitischen Diskurses in Zeiten des anhaltenden Terrors und zu erwartendem Widerstand gegen die Einhegung der Befugnisse der Sicherheitsbehörden bleibt zu hoffen, dass der Gerichtshof die wahrscheinliche Kraftprobe mit den Konventionsstaaten bestehen wird. Als warnendes Beispiel dürfte ihm hier die in jüngster Zeit auch aufgrund des Widerstands nationaler Gerichte[42] teils in Aufweichung begriffene[43] Rechtsprechung des EuGH zur EU-rechtlichen Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung dienen.


*Cand. iur. Lucca Kaltenecker, LL.B., Lic. de droit (Université de Strasbourg) ist wissenschaftliche Hilfskraft an den Lehrstühlen von Univ.-Prof. Dr. Annette Guckelberger und Univ.-Prof. Dr. Philippe Cossalter. Er studierte Rechtswissenschaften und französisches Recht an der Université de Strasbourg  und der Universität des Saarlandes und befindet sich aktuell in der Vorbereitung auf das 1. juristische Staatsexamen.

[1] EuGH, Urteil vom 08.04.2014, verb. Rs. C-293/12 u. C-594/12, Digital Rights Ireland Ltd; Urteil vom 21.12.2016, verb. Rs. C-203/15 u. C-698/15, Tele2 Sverige AB; Urteil vom 30.04.2024, Rs. C-470/21, La Quadrature du Net.

[2] EGMR, Urteil vom 25.05.2021, Beschwerde-Nr. 58170/13, Big Brother Watch u.a. v. Vereinigtes Königreich; Urteil vom 25.05.2021, Beschwerde-Nr. 35252/08, Centrum för rättvisa v. Schweden.

[3] EGMR, Urteil vom 28.05.2024, Beschwerde-Nr. 72038/17, Pietrzak und Bychawska-Siniarska u.a. v. Polen.

[4] Vgl. hierzu bereits EGMR, Urteil vom 11.01.2022, Beschwerde-Nr. 70078/12, Ekimdzieh u.a. v. Bulgarien,Rn. 360 ff.

[5] EGMR, Urteil vom 04.12.2015, Beschwerde-Nr. 47143/06, Roman Zakharov v. Russland, Rn. 175 ff.

[6] European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), 13.06.2016, Opinion No 839/2019, Poland – Opinion on the Act of 15 January 2016 amending the Police Act and certain other Acts.

[7] Vgl. bereits Huber, NVwZ-Beil. 2021, 3 (9).

[8] EGMR, Urteil vom 04.12.2015, Beschwerde-Nr. 47143/06, Roman Zakharov v. Russland, Rn. 237.

[9] Zum Kriterienkatalog des EGMR aus den Urteilen Big Brother Watch und Centrum för Rättvisa vgl. Steiner, GSZ 2024, 32 (33 f.). In der vorliegenden Rechtssache verweist der EGMR auf diese Kriterien, ohne sie im Einzelnen aufzugreifen, siehe EGMR, Urteil vom 28.05.2024, Beschwerde-Nr. 72038/17, Pietrzak und Bychawska-Siniarska u.a. v. Polen, Rn. 192 f.

[10] Vgl. dazu Nettesheim, in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, 5. Auflage 2023, Art. 8 Rn. 39.

[11] Vgl. bereits EGMR, Urt. v. Urteil vom 06.09.1978, Beschwerde-Nr. 5029/71, Klass u.a. v. Deutschland, Rn. 56.

[12] EGMR, Urteil vom 11.01.2022, Beschwerde-Nr. 70078/12, Ekimdzieh u.a. v. Bulgarien,Rn. 314 ff.

[13] EGMR, Urteil vom 06.09.1978, Beschwerde-Nr. 5029/71, Klass u.a. v. Deutschland, Rn. 55.

[14] Zu verschiedenen möglichen Ausgestaltungen siehe z.B. EGMR, Urteil vom 06.09.1978, Beschwerde-Nr. 5029/71, Klass u.a. v. Deutschland, Rn. 56 (parlamentarisches Gremium); Urteil vom 18.05.2010, Beschwerde-Nr. 26839/05, Kennedy v. Vereinigtes Königreich, Rn. 166 ff. (unabhängige Behörde mit besonderer Sachkompetenz).

[15] Bereits in EGMR, Urteil vom 06.09.1978, Beschwerde-Nr. 5029/71, Klass u.a. v. Deutschland, Rn. 56 hatte der Gerichtshof es für „grundsätzlich wünschenswert“ gehalten, einen Richter mit der nachprüfenden Kontrolle zu betrauen.

[16] Vgl. bereits EGMR, Urteil vom 11.01.2022, Beschwerde-Nr. 70078/12, Ekimdzieh u.a. v. Bulgarien, Rn. 334, 344.

[17] EGMR, Urteil vom 06.09.1978, Beschwerde-Nr. 5029/71, Klass u.a. v. Deutschland, Rn. 57 ff.; Urteil vom 29.06.2006, Beschwerde-Nr. 54934/00, Weber und Saravia v. Deutschland, Rn. 134; Urteil vom 18.05.2010, Beschwerde-Nr. 26839/05, Kennedy v. Vereinigtes Königreich, Rn. 167; Urteil vom 04.12.2015, Beschwerde-Nr. 47143/06, Roman Zakharov v. Russland, Rn. 234; Urteil vom 11.01.2022, Beschwerde-Nr. 70078/12, Ekimdzieh u.a. v. Bulgarien,Rn. 416.

[18] Vgl. hierzu EGMR, Urteil vom 18.05.2010, Beschwerde-Nr. 26839/05, Kennedy v. Vereinigtes Königreich, Rn. 167.

[19] BVerfGE 141, 220 (280). Vgl. allerdings wohl restriktiver für ein absolutes Beweiserhebungs- und verwertungsverbot bzgl. Gesprächen zwischen Beschuldigtem und Strafverteidiger noch: BVerfGE 129, 208 (342).

[20] EGMR, Urteil vom 27.10.2015, Beschwerde-Nr. 62498/11, R.E. v. Vereinigtes Königreich, Rn. 131.

[21] Siehe auch EGMR, Urteil vom 28.05.2024, Beschwerde-Nr. 72038/17, Pietrzak und Bychawska-Siniarska u.a. v. Polen, Rn. 233 dazu, dass die dem polnischen Justizminister in seiner Eigenschaft als Generalstaatsanwalt unterstellten Staatsanwälte diesen Anforderungen an die Unabhängigkeit der kontrollierenden Instanz nicht genügen.

[22] Puschke, GSZ 2024, 23.

[23] BVerfGE 125, 260 ff.

[24] EuGH, Urteil vom 08.04.2014, verb. Rs. C-293/12 u. C-594/12, Digital Rights Ireland Ltd; Urteil vom 21.12.2016, verb. Rs. C-203/15 u. C-698/15, Tele2 Sverige AB; Urteil vom 30.04.2024, Rs. C-470/21, La Quadrature du Net.

[25] Vgl. zuvor bereits das allerdings nur in englischer Sprache vorliegende Urteil vom 11.01.2022, Beschwerde-Nr. 70078/12, Ekimdzieh u.a. v. Bulgarien,Rn. 360 ff.

[26] EGMR, Urteil vom 11.01.2022, Beschwerde-Nr. 70078/12, Ekimdzieh u.a. v. Bulgarien,Rn. 372, 376.

[27] Zuletzt EuGH, Urteil vom 30.04.2024, Rs. C-570/21, La Quadrature du Net, Rn. 69.

[28] BVerfGE 125, 260 (346 f. Rn. 268) und passim.

[29] So bereits EGMR, Urteil vom 06.09.1978, Beschwerde-Nr. 5029/71, Klass u.a. v. Deutschland, Rn. 48.

[30] So bereits ebenda, Rn. 50.

[31] Vgl. die besondere Hervorhebung des Potenzials neuartiger Überwachungstechnologien in EGMR, Urteil vom 12.01.2016, Beschwerde-Nr. 37138/14, Szabó und Vissy v. Ungarn, Rn. 73; Urteil vom 28.05.2024, Beschwerde-Nr. 72038/17, Pietrzak und Bychawska-Siniarska u.a. v. Polen, Rn. 272.

[32] Vgl. zur Kritik am Topos des „Chilling effects“ allerdings Gärditz, GSZ 2022, 280 (293).

[33] Vgl. grundlegend EGMR, Urteil vom 01.07.2008, Beschwerde-Nr. 58243/00, Liberty u.a. v. Vereinigtes Königreich, Rn. 71 ff.

[34] EGMR, Urteil vom 25.05.2021, Beschwerde-Nr. 58170/13, Big Brother Watch u.a. v. Vereinigtes Königreich. Vgl. hierzu Steiner, GSZ 2024, 32 (33 f.).

[35] BVerfGE 141, 220 (275).

[36] BVerfGE 141, 220 (281 f.).

[37] BVerfGE 141, 220 (284 f.).

[38] BVerfGE 141, 220 (282 f.).

[39] Bedenken gegenüber der Verfassungsmäßigkeit von § 28 BPolG hinsichtlich der Anordnungskompetenz des Behördenleiters sowie die weitreichenden Ausnahmen von der Benachrichtigungspflicht auch bei Wehr, in: Wehr, Bundespolizeigesetz, 3. Auflage 2021, § 28 Rn. 19.

[40] BT-Drs. 20/10406, insbesondere S. 106 im Hinblick auf § 28 BPolG (§ 35 Abs. 5 Nr. 3 BPolG-E).

[41] Vgl. bzgl. der geheimdienstlichen Überwachung des internationalen Kommunikationsverkehrs zur Rezipierung des BND-Urteils des BVerfG (BVerfGE 154, 152 [152 ff.]) durch den EGMR: Steiner, GSZ 2024, 32.

[42] Siehe hierzu insbes. Friess, EuR 2022, 504 ff. zum Urteil des französischen Conseil d’État in der Rechtssache French Data Network.

[43] Vgl. EuGH, Urteil vom 30.04.2024, Rs. C-470/21, La Quadrature du Net.


ZitiervorschlagKaltenecker, Lucca, Watching Big Brother – Das EGMR-Urteil in den Rechtssachen Pietrzak und Bychawska-Siniarska u.a. gegen Polen, jean-monnet-saar 2025.

DOI: 10.17176/20250212-132851-0

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer: 525576645

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