In Deutschland gibt es verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen unionsrechtswidrige Binnengrenzkontrollen – anders als das VG München meint

Ein Beitrag von Univ. Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M. (Univ. of Virginia)*

Das VG München hat eine Fortsetzungsfeststellungsklage gegen eine unionrechtswidrige Binnengrenzkontrolle kürzlich für unzulässig erklärt. Sein – nicht rechtskräftiges – Urteil verstößt gegen EU-Recht und fordert deshalb zum Widerspruch heraus.

A. Sachverhalt und Prozessgeschichte

Ein Österreicher wurde in einem aus Österreich kommenden Zug hinter Passau wie alle anderen Fahrgäste in seinem Abteil von der Bundespolizei einer Ausweiskontrolle unterzogen. Diese diente auf seine Nachfrage ausdrücklich einer Grenzkontrolle im Rahmen des grenzüberschreitenden Verkehrs. Seinen Einwand, die Kontrolle verstoße gegen EU-Recht, ließen die Beamten nicht gelten.

Die Fortsetzungsfeststellungsklage des Österreichers analog zu § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO[1] – eine andere effektive gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeit gab es für ihn in Deutschland nicht[2] – hat das VG München in einem nicht rechtskräftigen Urteil mangels Fortsetzungsfeststellungsinteresses als unzulässig abgewiesen.[3] Mit diesem Ergebnis offensichtlich unzufrieden, legte das Gericht allerdings in einem obiter dictum dar, dass die Kontrolle den Schengener Grenzkodex (SGK)[4] verletzt haben dürfte und es insoweit die klägerische Argumentation im Kern teile.

Mit anderen Worten hat das VG den Verstoß gegen seine Pflicht aus Art. 4 Abs. 3 EUV zur unionsrechtskonformen Anwendung des Verwaltungsprozessrechts dadurch abzumildern versucht, dass es unter Überschreitung seiner Jurisdiktionskompetenz – also ultra vires – die unzulässige Klage der Sache nach für eigentlich begründet erklärte, weil die von Deutschland an der Grenze zu Österreich seit der Flüchtlingskrise von 2015 ununterbrochen durchgeführten Kontrollen gegen EU-Recht verstoßen dürften. In Wahrheit war die Klage sowohl zulässig als auch begründet – das vorrangige Unionsrecht erlaubt keine andere Entscheidung. Da das VG die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen und der Kläger inzwischen auch Berufung eingelegt hat,[5] besteht Hoffnung, dass der BayVGH den Rechtsstreit auf das unionsrechtlich korrekte Gleis zurückleitet.

B. Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage: Kein Fortsetzungsfeststellungsinteresse des Klägers?

I. Argumentation des Klägers

Der Kläger hatte unter Hinweis auf Art. 19 Abs. 4 GG sein Fortsetzungsfeststellungsinteresse damit begründet, dass Wiederholungsgefahr bestehe, weil er von seinem Wohnsitz und Arbeitsplatz in den Niederlanden häufig aus familiären und beruflichen Gründen auf dem Landweg durch Deutschland nach Österreich reise. Nach der klagegegenständlichen Kontrolle sei er inzwischen noch zwei weitere Male kontrolliert worden. Weiterhin hielt der Kläger einen Grundrechtseingriff von besonderem Gewicht für gegeben, weil sein unionsbürgerliches Freizügigkeitsrecht (Art. 21 Abs. 1 AEUV, Art. 45 Abs. 1 GRC) im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen (Art. 3 Abs. 2 EUV) von grundlegender Bedeutung sei. Außerdem ergebe sich sein berechtigtes Feststellungsinteresse aus dem primärrechtlichen Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts, weil er sonst keine Möglichkeit habe, sein Freizügigkeitsrecht und die freizügigkeitssichernden Vorgaben des Schengener Grenzkodexes durchzusetzen. Denn es sei ihm nicht zuzumuten, sich eine prozessuale Handhabe dadurch zu verschaffen, dass er die Identitätsfeststellung verweigere und damit straf- oder ordnungswidrigkeitsrechtliche Sanktionen provoziere, um dann gegen dieses gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.

II. Entscheidung des VG nach Maßgabe des deutschen Rechts

Das VG verneinte jedoch unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung des BVerwG ein schützenwertes Feststellungsinteresse des Klägers. Erstens sei eine Wiederholungsgefahr angesichts der nur sporadisch durchgeführten Grenzkontrollen für diesen nicht hinreichend konkret. Zweitens stelle die angegriffene Maßnahme zwar einen sich typischerweise kurzfristig erledigenden Verwaltungsakt dar, doch sei mit diesem kein tiefgreifender Grundrechtseingriff verbunden. Allenfalls eine oberflächliche Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) stehe im Raum. Bei einer Identitätskontrolle handele es sich (anders als etwa bei einer Einreiseverweigerung[6]) grundsätzlich um einen relativ geringfügigen Eingriff. Schließlich sei kein Verstoß der Bundespolizei gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) erkennbar, wenngleich das Gericht selbst in seinem obiter dictum Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Grenzkontrolle hege.

Gegen die Argumentation des VG ist aus Sicht des deutschen Rechts wenig einzuwenden, wenn man die herrschende Meinung und Rechtsprechung zugrunde legt, die durch strikte Anforderungen an das Feststellungsinteresse die Justiz entlassen will. Auch das BVerfG entnimmt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG lediglich das Gebot, „die Möglichkeit einer gerichtlichen Klärung in Fällen gewichtiger, allerdings in tatsächlicher Hinsicht überholter Grundrechtseingriffe zu eröffnen, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung kaum erlangen kann“.[7] Ob es einem Rechtsstaat gut zu Gesicht steht, gerichtsfreie Räume zuzulassen, in denen die öffentliche Gewalt ungeahndet (Grund-) Rechtsverstöße begehen kann, weil niemand klagebefugt ist, erscheint mir allerdings als fraglich.[8]

Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit inzwischen ein Feststellungsinteresse bei Fortsetzungsfeststellungsklagen gegen Identitätskontrollen wegen gewichtigen Grundrechtseingriffs immerhin dann anerkennt, wenn die Auswahl der kontrollierten Personen nach ihrer Hautfarbe oder ethnischen Herkunft erfolgt sein und daher ein mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG unvereinbares Racial Profiling vorliegen könnte.[9] Derartiges ließ sich im vorliegenden Fall jedoch ausschließen.

III. Europarechtliche Abwege des VG

1. Reduktion des Art. 47 GRC auf den Stand des deutschen Verwaltungsprozessrechts?

Mit seinen weiteren Ausführungen geriet das VG dann jedoch auf europarechtliche Abwege: Zwar sei durch die Grenzkontrolle weiterhin das unionsrechtliche Recht auf Freizügigkeit (Art. 21 AEUV bzw. Art. 45 GRC) betroffen, doch gälten ungeachtet dessen die vom BVerwG entwickelten restriktiven Maßstäbe für die Bejahung des Feststellungsinteresses. Denn auch aus der Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs im Sinne des Art. 47 der GRC ergebe sich keine Verpflichtung, das Merkmal des berechtigten Interesses nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO weiter auszulegen als in rein nationalen Fällen. Dazu zitiert das VG insbesondere ein Urteil, in dem das BVerwG für die Richtigkeit seiner Auslegung des Art. 47 Abs. 1 GRC acte-clair-Status in Anspruch nahm und deshalb von einer Vorlage an den EuGH gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV absah.[10]

2. Rechtsprechung des BVerwG zum Fortsetzungsfeststellungsinteresse: Art. 47 GRC als acte clair?

Ob das BVerwG die acte-clair-Doktrin im damaligen Fall zu Recht anwandte, soll hier offen bleiben. Denn das VG hat eine entscheidende Prämisse des BVerwG übersehen, die eine Übertragung seiner Argumentation auf den vorliegenden Fall ausschließt. Das BVerwG wies nämlich darauf hin, dass es zwar grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen bleibe, im Rahmen der Ausgestaltung ihres Prozessrechts die Klagebefugnis und das Rechtsschutzinteresse des Einzelnen zu normieren, dass das mitgliedstaatliche Ermessen bei der Regelung solcher Zulässigkeitsvoraussetzungen aber durch das unionsrechtliche Äquivalenzprinzip, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Effektivitätsgebot begrenzt werde.[11]

Wie das BVerwG dann unter Bezugnahme auf die EuGH-Rechtsprechung darlegte, verbietet das Verhältnismäßigkeitsprinzip „eine Zulässigkeitsregelung, die das Recht auf Zugang zum Gericht in seinem Wesensgehalt selbst beeinträchtigt, ohne einem unionsrechtlich legitimen Zweck zu dienen und im Verhältnis dazu angemessen zu sein“.[12] Das sei dann der Fall, wenn „die fragliche Regelung für den Zugang zum Recht ein unüberwindliches Hindernis aufrichtet“. Das Effektivitätsprinzip fordere nach der Rechtsprechung des EuGH „eine Ausgestaltung des mitgliedstaatlichen Rechts, die die Ausübung unionsrechtlich gewährleisteter Rechte nicht praktisch unmöglich macht oder unzumutbar erschwert“.[13]

Weiter heißt es beim BVerwG: „Bezogen auf die mitgliedstaatliche Regelung prozessualer Zulässigkeitsvoraussetzungen ergibt sich daraus, dass den Trägern unionsrechtlich begründeter Rechte gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung stehen muss, der eine wirksame Kontrolle jeder Rechtsverletzung und damit die Durchsetzbarkeit des betroffenen Rechts gewährleistet.“[14] Das bedeutet für den vorliegenden Fall, dass sowohl das Verhältnismäßigkeits- als auch das Effektivitätsprinzip die Zulassung der Fortsetzungsfeststellungklage zwingend verlangen, weil der Kläger sonst keinerlei gerichtliche Kontrolle der Verletzung seines Freizügigkeitsrechts erlangen kann. Dies würde den Wesensgehalt seines Rechts aus Art. 47 Abs. 1 GRC verletzen, der trotz Anerkennung einer Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC unter allen Umständen zu wahren ist. Zwecks Entlastung der Justiz darf keinesfalls in den Wesensgehalt des Anspruchs auf gerichtlichen Rechtsschutz eingegriffen werden.

Allerdings meinte das BVerwG außerdem, dass die vorgenannten Anforderungen des Effektivitätsprinzips nicht über diejenigen des Art. 19 Abs. 4 GG hinausgingen. Das stimmt jedoch nur, wenn man Art. 19 Abs. 4 GG mit dem BVerwG – und entgegen dem VG München – so auslegt, dass er die Bejahung eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses immer dann verlangt, „wenn andernfalls kein wirksamer Rechtsschutz gegen solche Eingriffe zu erlangen wäre. Davon ist nur bei Maßnahmen auszugehen, die sich typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten. Maßgebend ist dabei, ob die kurzfristige, eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage ausschließende Erledigung sich aus der Eigenart des Verwaltungsakts selbst ergibt …“.[15] Diese Voraussetzung erfüllte die Identitätskontrolle im vorliegenden Fall ohne jeden Zweifel.

In neueren Entscheidungen ohne unionsrechtliche Bezüge, die dem VG noch nicht vorlagen, hat das BVerwG allerdings, um Divergenzen in der Rechtsprechung verschiedener Senate zu vermeiden, ausdrücklich klargestellt, dass die typischerweise kurzfristige Erledigung des angegriffenen Verwaltungsakts allein doch nicht ausreiche, um ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ohne weiteres zu bejahen, sondern dass zusätzlich immer auch ein qualifizierter Grundrechtseingriff vorliegen müsse.[16] Soll das auch für auf EU-Recht gestützte Fortsetzungsfeststellungsklagen gelten, öffnet sich eine neuerliche Diskrepanz zu Art. 47 Abs. 1 GRC. Denn dieser schreibt bei Verletzungen von durch das Unionsrecht garantierten Rechten oder Freiheiten ausnahmslos gerichtlichen Rechtsschutz vor, und die einengenden Anforderungen des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO an das Fortsetzungsfeststellungsinteresse versperren den Zugang zu den Verwaltungsgerichten in einigen Fällen. Zumindest durch diese neue Rechtsprechung verliert die frühere Annahme des BVerwG, Art. 47 Abs. 1 GRC verlange keinen weitergehenden gerichtlichen Rechtsschutz als Art. 19 Abs. 4 GG, ihren acte-clair-Charakter.

3. EuGH-Rechtsprechung zu Art. 47 GRC und Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV

Ein Blick auf die EuGH-Rechtsprechung verstärkt die Zweifel daran, ob VG und BVerwG Art. 47 Abs. 1 GRC richtig interpretiert haben. In diesem Kontext ist daran zu erinnern, dass neben Art. 47 Abs. 1 GRC auch Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV die Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV kodifiziert vorausgehende Rechtsprechung des EuGH.[17] Im vorliegenden Fall besteht an der Einschlägigkeit sowohl von Art. 47 Abs. 1 GRC in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC als auch von Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV kein Zweifel, denn der Sachverhalt ereignete sich bei der Durchführung des Schengener Grenzkodexes (SGK) durch die Bundespolizei.

Art. 47 Abs. 1 GRC und Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV, die beide in nationalen Gerichtsverfahren unmittelbare Wirkung entfalten und kraft ihres Vorrangs entgegenstehende Regeln des nationalen Rechts verdrängen,[18] regeln nichts Neues, sondern kodifizieren nur einen seit jeher existenten allgemeinen Grundsatz des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und im Kern auch in Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK verankert ist.[19] Dieser unionsrechtliche Anspruch auf Zugang zu den Gerichten besteht nach Art. 47 Abs. 1 GRC bei jeder möglichen Verletzung von durch das Recht der Union garantierten Rechten oder Freiheiten, unabhängig davon, ob sie im Primär- oder Sekundärrecht wurzeln und welches Gewicht sie haben.Dementsprechend heißt es in den Erläuterungen zur GRC, die bei deren Auslegung gebührend zu berücksichtigen sind,[20] Art. 47 GRC gelte „für sämtliche durch das Unionsrecht garantierte Rechte.“[21]

Der EuGH hat aus Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV die Verpflichtung der Mitgliedstaaten abgeleitet, Rechtsschutzlücken zu schließen, indem sie insoweit Zugang zu ihren nationalen Gerichten gewähren, als dies zur Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenen Rechte erforderlich ist. Diese Verpflichtung trifft in erster Linie die nationalen Gesetzgeber, in zweiter Linie aber auch die nationalen Gerichte, die die einschlägigen Prozessordnungen nach Möglichkeit unionsrechtskonform interpretieren müssen.

Das Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten zwar grundsätzlich nicht, zusätzlich zu den bereits bestehenden neue Rechtsbehelfe einzuführen, um den Schutz der aus dem Unionsrecht erwachsenden Individualrechte zu gewährleisten. Etwas anderes soll indessen nach Ansicht des EuGH dann gelten, „wenn es nach dem System der betreffenden nationalen Rechtsordnung keinen Rechtsbehelf gibt, mit dem wenigstens inzident die Wahrung der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden könnte, oder wenn die einzige Möglichkeit für den Einzelnen, Zugang zu einem Gericht zu erlangen, darin bestünde, eine Rechtsverletzung begehen zu müssen …“.[22] In einem solchen Fall haben sich die nationalen Gerichte „für eine Klage, die von dem Betroffenen erhoben wird, um die ihm durch das Unionsrecht garantierten Rechte zu verteidigen, für zuständig zu erklären, selbst wenn die innerstaatlichen Verfahrensvorschriften dies in einem solchen Fall nicht vorsehen …“.[23] Mit anderen Worten müssen die nationalen Gerichte dann eine Klagemöglichkeit unmittelbar aus Art. 47 GRC in Verbindung mit dem Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts ableiten.[24]

Soweit hätte das VG hier aber gar nicht gehen müssen, denn § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO lässt sich ohne weiteres unionsrechtskonform dahingehend auslegen, dass das berechtigte Feststellungsinteresse immer auch dann gegeben ist, wenn das EU-Recht einen Zugang zu effektivem gerichtlichem Rechtsschutz verlangt und dieser anders nicht zu gewährleisten ist. Der vorliegende Fall ist geradezu ein Musterbeispiel dafür. Bei der Erfüllung ihrer Pflicht zur unionsrechtskonformen Interpretation des nationalen Rechts aus Art. 4 Abs. 3 EUV müssen unterinstanzliche Gerichte sich ggf. über abweichende höchstrichterliche Rechtsprechung hinwegsetzen und sind insbesondere an deren Verständnis von angeblichen actes clairs des EU-Rechts nicht gebunden. Dies ergibt sich aus einer Zusammensicht des Vorrangs des Unionsrechts[25] mit Art. 267 Abs. 2 AEUV, der jedem nationalen Gericht die Befugnis gibt, das EU-Recht eigenständig zu interpretieren und ggf. darüber ohne Beschränkung durch das nationale Recht in einen Dialog mit dem EuGH einzutreten.[26]

Der EuGH hat die deutschen Gerichte übrigens schon in anderem Zusammenhang unter Hinweis auf das Effektivitätsprinzip an ihre Pflicht erinnert, „die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu sichern und einen effektiven Schutz der Rechte des einzelnen zu gewährleisten“ und dem entgegenstehende verfahrensrechtliche Erfordernisse außer Betracht zu lassen.[27] Auf dieser Grundlage wird etwa zunehmend gefordert, Rechtsschutzlücken durch eine erweiterte Zulassung der Feststellungsklage nach § 43 VwGO zu schließen.[28]

4. Ansatz des VG widerspricht van Gend & Loos

Die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts beruht ganz maßgeblich auf dem berühmten EuGH-Urteil von 1963 im Fall van Gend & Loos.[29]Damals entschied der Gerichtshof, dass die Gemeinschaft nicht allein von den Mitgliedstaaten, sondern auch von den Einzelnen als Rechtssubjekten getragen werde. Das Gemeinschaftsrecht verleihe Einzelnen Rechte nicht nur ausdrücklich, sondern schon dadurch, dass es der Gemeinschaft, den Mitgliedstaaten und anderen Einzelnen eindeutige Verpflichtungen auferlege.[30] Aus diesen eindeutigen Verpflichtungen ergeben sich stets subjektive Rechte, die vor den mitgliedstaatlichen Gerichten einklagbar sind. Der Sache nach vertraut der EuGH in van Gend & Loos den Unionsbürger:innen – neben der Kommission als Hüterin der Verträge nach Art. 17 Abs. 1 Satz 2 und 3 EUV – die Durchsetzung des Unionsrechts insbesondere gegenüber den Mitgliedstaaten an. Sie bedienen sich dazu der nationalen Gerichte, denen Art. 19 EUV die Aufgabe zuweist, gemeinsam mit dem EuGH „die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den wirksamen Schutz der Rechte zu gewährleisten, die den Einzelnen aus ihm erwachsen“.[31]

Davon will das VG anscheinend nichts wissen. Der Kläger hatte sein Feststellungsinteresse damit begründet, dass der Eingriff schon deshalb schwer wiege, weil er in offensichtlicher, dauerhafter und vorsätzlicher Weise Unionsrecht verletze und ihn effektiv seines Rechts auf Freizügigkeit beraube. Diesen Vortrag weist das VG mit dem Argument zurück, die Schwere des Grundrechtseingriffs sei von seiner subjektiv-rechtlichen Wirkung auf den betroffenen Grundrechtsträger her zu bestimmen und nicht danach, wie schwer er objektiv-rechtlich wiege. Das System des deutschen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes sei, basierend auf Art. 19 Abs. 4 GG, nach wie vor subjektiv-rechtlich ausgerichtet.[32]

Dieser Ansatz geht dann fehl, wenn Einzelne eindeutige objektiv-rechtliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus dem EU-Recht einklagen. Denn wiegen diese objektiv-rechtlich schwer, so sind sie dank van Gend & Loos subjektiv-rechtlich ebenso schwerwiegend, und zwar kraft Unionsrechts auch in Deutschland. Eine Situation, in der Verstöße gegen objektives Recht prozessual unangreifbar sind, weil es an einer korrespondierenden subjektiven Rechtsverletzung fehlt, kann im Anwendungsbereich des EU-Rechts nicht entstehen. Rechtspositionen nach EU-Recht müssen vielmehr durch das Gesetzesrecht und dessen unionsrechtskonforme gerichtliche Handhabung auch in Deutschland ausnahmslos einklagbar sein.

Das gilt zumal für Binnengrenzkontrollen im Widerspruch zum SGK, die sich in der Masse der Fälle typischerweise so schnell erledigen, dass sie ohne Zulassung entsprechender Fortsetzungsfeststellungsklagen jeder gerichtlichen Kontrolle entzogen sind. Die Handhabung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (analog) durch das VG führt im Ergebnis dazu, dass unzulässige Binnengrenzkontrollen durch deutsche Polizeibehörden gerichtlich unangreifbar sind, was unser Land bei der effektiven Durchsetzung des SGK in der EU zum blinden Fleck macht. Deutschland kann dann den SKG solange beliebig verletzen, bis die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV einleitet. Einem derartigen Zustand wollte der EuGH durch sein van Gend & Loos-Urteil entgegenwirken.

5. Warum hat das VG keine Vorabentscheidung eingeholt?

Wenn das VG schon nicht bereit war, § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (analog) in eigener Verantwortung unionsrechtskonform zu interpretieren, dementsprechend das Feststellungsinteresse des Klägers zu bejahen und dann auf dieser Grundlage festzustellen, dass die Identitätskontrolle rechtswidrig war, hätte es zumindest dessen Anregung zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH folgen sollen. Zwar betont das Gericht zu Recht, dass es gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV als erste Instanz dazu nicht verpflichtet sei. Es hielt eine Anrufung des EuGH nicht für erforderlich, weil es sich der o.g. acte-clair-Behauptung des BVerwG anschloss. Das überzeugt schon deswegen nicht, weil der damaligen höchstrichterlichen Entscheidung ein anderer Sachverhalt zugrunde lag, in dem den Klägern der Rechtsweg keineswegs vollständig versperrt war[33] wie dem hiesigen Kläger. Außerdem beruhte jene Entscheidung des BVerwG – wie bereits dargelegt – auf der Vorstellung, Art. 19 Abs. 4 GG verlange die Bejahung eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses immer dann, wenn andernfalls kein wirksamer Rechtsschutz gegen typischerweise kurzfristig erledigte Eingriffe zu erlangen wäre – also auch im hiesigen Fall.

Unabhängig davon widerspricht die folgende Zusammenfassung, die das VG unter Berufung auf das BVerwG von dem angeblichen acte clair des EU-Rechts gibt, dem Unionsrechts: „Der unionsrechtliche Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes im Sinne des Art. 47 GRC hindert den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber nicht, für die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs ein qualifiziertes Interesse des Klägers zu fordern, und begründet insbesondere auch keine Verpflichtung, eine Fortsetzung der gerichtlichen Kontrolle nach Erledigung des Eingriffs unabhängig von einem rechtlichen, ideellen oder wirtschaftlichen Nutzen für den Kläger allein unter dem Gesichtspunkt eines abstrakten Rechtsklärungsinteresses vorzusehen …“ Stattdessen ist Art. 47 Abs. 1 GRC im diametral entgegengesetzten Sinne acte clair: Er verbietet es den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern und Gerichten, effektiven gerichtlichen Schutz gegen Verletzungen unionsrechtlich radizierter Rechte unmöglich zu machen, indem sie an den Nachweis eines Feststellungsinteresses unerfüllbare Anforderungen stellen.[34]

Überdies belegt das van Gend & Loos-Urteil des EuGH die entscheidende Bedeutung gerade des vom VG abgetanen „abstrakten Rechtsklärungsinteresses“ – nämlich des Interesses an der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts, in deren Dienst die privaten Kläger:innen genommen werden. Mehrfach hat der EuGH inzwischen den hohen Rang dieses Interesses in der Unionsrechtsordnung klargestellt: Es sei dem Wert des in Art. 2 EUV verankerten Rechtsstaatsprinzips inhärent, die wirksame Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen[35] und dafür einen wirksamen gerichtlichen Schutz der Rechte aus dem Unionsrecht zu gewährleisten.[36] Das entspricht dem auf Walter Hallstein zurückgehenden Konzept der Europäischen Gemeinschaft als Rechtgemeinschaft,[37] deren Nachfolgerin nach Art. 1 Abs. 3 Satz 3 EUV die EU als Rechtsunion geworden ist.[38] Wesentliches Kennzeichen einer solchen Rechtsgemeinschaft/Rechtsunion ist es, dass „weder ihre Mitgliedstaaten noch ihre Organe der [gerichtlichen] Kontrolle daraufhin, ob ihre Handlungen mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, im Einklang stehen, entzogen sind“.[39]

IV. Ergebnis

Die Fortsetzungsfeststellungklage war entgegen der Auffassung des VG zulässig, weil Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV und Art. 47 Abs. 1 GRC eine Auslegung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO dahingehend verlangen, dass ein Feststellungsinteresse des Klägers besteht.

C. Begründetheit der Fortsetzungsfeststellungklage: Verstoß gegen Schengener Grenzkodex

Der Kläger hatte seine Klage damit begründet, dass die einzig in Betracht kommende gesetzliche Grundlage für die Kontrolle seiner Identität, § 23 Abs. 1 Nr. 2 BPolG, hier durch die vorrangig anwendbaren Bestimmungen des Schengener Grenzkodexes verdrängt werde. Der auf Art. 77 Abs. 2 Buchst. b und e AEUV beruhende SGK ist seiner Rechtsnatur nach eine Verordnung im Sinne von Art. 288 Abs. 2 AEUV; er ist daher in allen seinen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Wie bereits erwähnt, hat das VG in seinem obiter dictum erkennen lassen, dass es die Auffassung des Klägers im Kern teile.

I. Ausschluss der Binnengrenzkontrollen und befristete Wiedereinführung nach dem SGK

Art. 22 SGK schließt Personenkontrollen an den Binnengrenzen in der EU aus. Art. 23 lit. a SGK regelt ergänzend, dass die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen mitgliedstaatlichen Behörden zwar vorbehalten bleibt, diese aber nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben dürfen. Solche polizeilichen Maßnahmen müssen sich insbesondere nach Konzeption und Durchführung eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheiden.[40]

Art. 25 ff. SGK enthalten strikte Vorgaben für die vorübergehende Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen unter außergewöhnlichen Umständen. Voraussetzung ist die ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in einem Mitgliedstaat. Dabei darf die Wiedereinführung solcher Kontrollen als letztes Mittel in Umfang und Dauer nach Art. 25 Abs. 1 Satz 2 SGK nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung unbedingt erforderlich ist. Für den vorliegenden Fall entscheidend ist jedoch die Begrenzung des Gesamtzeitraums der erneuten Kontrollen auf höchstens sechs Monate in Art. 25 Abs. 4 SGK.

In seinem obiter dictum hat das VG aus Art. 25 Abs. 4 SGK und einem dazu ergangenen Urteil des EuGH betr. Grenzkontrollen zwischen Österreich und Slowenien[41] die Schlussfolgerung gezogen, dass die Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich, von denen auch der Kläger betroffen wurde, den SGK verletzt haben dürften, „zumindest seit sie mit Beendigung der Pandemielage … im Wesentlichen fortlaufend mit migrations- und sicherheitspolitischen Aspekten/Sekundärmigration begründet wurden.“

II. EuGH legt Sechsmonatsgrenze strikt aus

Das angesprochene EuGH-Urteil betraf Grenzkontrollen, die Österreich im Verhältnis u.a. zu Slowenien erstmals 2015 und seither ohne Unterbrechung stets erneut für je sechs Monate wieder eingeführt hatte. Der Kläger des Ausgangsverfahrens war 2019 kontrolliert worden, also nach Ablauf der Gesamthöchstdauer von sechs Monaten nach der ersten Einführung der Kontrollen. Der EuGH wies auf seine ständige Rechtsprechung hin, dass Ausnahmen und Abweichungen von der Freizügigkeit – wie diejenigen in Art. 25 SGK – eng auszulegen seien.[42] Er legte dann im Einzelnen dar, dass die Sechsmonatsfrist in Art. 25 Abs. 4 SGK zwingend sei und nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände im Sinne von Art. 29 SGK[43] auf eine Höchstdauer von zwei Jahren verlängert werden könne.

Nach Ablauf der Sechsmonatsfrist sei eine erneute Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen aufgrund von Art. 25 SGK nur zulässig, „wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass eine neue ernsthafte Bedrohung für seine öffentliche Ordnung oder seine innere Sicherheit vorliegt.“[44] Neu sei eine Bedrohung nur, die sich von der ursprünglich festgestellten unterscheide, was letztlich die nationalen Gerichte feststellen müssten. Inwieweit den nationalen Behörden bei der Beurteilung der Neuartigkeit einer Bedrohungslage ein Ermessensspielraum zusteht, ist noch nicht abschließend geklärt, doch ist der EuGH insoweit offenbar wesentlich strenger als der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen.[45]

In Bezug auf den vorliegenden Fall hat das VG in seinem obiter dictum deutlich gemacht, dass es eine im Kern tatsächlich neue ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder innere Sicherheit Deutschlands, die sich von der 2015 bei Einführung der Kontrollen an der österreichischen Grenze festgestellten nicht nur in Randerscheinungen vor allem des Migrationsgeschehens unterscheide, nicht für nachgewiesen hält.[46]

Der EuGH hat übrigens das von Deutschland ins Verfahren eingebrachte Argument zurückgewiesen, Art. 72 AEUV erlaube den Mitgliedstaaten eine Abweichung von den strikten Anforderungen des SGK nach freiem Ermessen.[47] Er hat außerdem die Kommission dafür kritisiert, dass sie ihre im SGK selbst vorgesehene Kontrollfunktion nicht ausreichend wahrgenommen habe.[48] Dies lässt übrigens vermuten, dass die Kommission kaum bereit sein wird, gegen Mitgliedstaaten wegen Verletzung des Art. 25 Abs. 4 SGK Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten.[49] Umso wichtiger ist es für die effektive Durchsetzung des SGK, betroffenen Einzelnen den Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz zu eröffnen.

In seinem Urteil hat der EuGH schließlich entschieden, dass Art. 25 Abs. 4 SGK „einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der ein Mitgliedstaat eine Person bei Androhung einer Sanktion dazu verpflichtet, bei der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats über eine Binnengrenze einen Reisepass oder einen Personalausweis vorzuzeigen, wenn die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen, in deren Rahmen diese Verpflichtung auferlegt wird, gegen diese Bestimmung verstößt.“

III. Art. 25 Abs. 4 SGK als acte éclairé

Art. 25 Abs. 4 SGK ist nach alledem zu einem acte éclairé geworden, der eindeutig auch den seit 2015 unverändert durchgeführten Grenzkontrollen im Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich entgegensteht. Die Kontrolle des Klägers durch die Bundespolizei war damit wegen Verstoßes gegen Art. 22 i.V.m. Art. 25 Abs. 4 SGK rechtswidrig und verletzte ihn u.a. in seinen Rechten aus Art. 21 Abs. 1 AEUV, Art. 45 Abs. 1 GRC.

Dieses Ergebnis kann nicht deshalb in Zweifel gezogen werden, weil der Kläger den ICE erst in Passau zur Weiterfahrt nach Frankfurt bestiegen, die österreichisch-deutsche Grenze also nicht am Tag der Kontrolle, sondern bereits früher überschritten hatte. Denn er stand während der gesamten Dauer seines Aufenthalts in Deutschland unter dem Schutz seines unionsrechtlich verankerten Freizügigkeitsrechts. Im Übrigen begründet das Verbot der Binnengrenzkontrollen in Art. 22 SGK, auch unter Berücksichtigung der insbesondere zeitlich eng begrenzten Ausnahmen in Art. 25 SGK, eine so eindeutige Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dass sie nach dem van Gend & Loos-Urteil des EuGH vor den nationalen Gerichten einklagbar ist. Folglich verletzte die Kontrolle den Kläger auch in seinen Rechten aus Art. 22 SGK.

Mehr noch: Art. 3 SGK zieht den Anwendungsbereich des SGK sehr weit. Danach findet die Verordnung „Anwendung auf alle Personen, die die Binnengrenzen … eines Mitgliedstaats überschreiten, unbeschadet … der Rechte der Personen, die nach dem Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben“. M.a.W. ist der SGK auch anwendbar auf die Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats und Drittausländer, nicht nur auf freizügigkeitsberechtigte EU-Ausländer. Da Art. 22 SGK im Einklang damit Binnengrenzkontrollen „unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen“ verbietet, verletzen gegen dieses Verbot verstoßende Kontrollen auch Inländer, die nicht von ihrem Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV, Art. 45 Abs. 1 GRC Gebrauch gemacht haben, sowie nicht freizügigkeitsberechtigte Drittstaatsangehörige in ihren Rechten aus Art. 22 SGK. Wären also im Zugabteil des Klägers auch eine Deutsche und ein Nigerianer kontrolliert worden, hätten diese beiden Personen ebenfalls eine zulässige und begründete Fortsetzungsfeststellungsklage erheben können.

D. Ausblick auf den weiteren Verfahrensgang

Die Rechtssache ist derzeit beim BayVGH anhängig, der gem. § 124a Abs. 1 Satz 2 VwGO an die Zulassung der Berufung durch das VG gebunden ist. Nach § 128 VwGO hat das Berufungsgericht den Streitfall umfassend neu zu prüfen und nach § 130 Abs. 1 VwGO in der Sache selbst zu entscheiden. Es kann daher entweder das vom Kläger beantragte Feststellungsurteil im Einklang mit dem Unionsrecht erlassen oder nach Art. 267 Abs. 2 AEUV dem EuGH entscheidungserhebliche Fragen vorlegen zur unionsrechtlich gebotenen Zulassung der Fortsetzungsfeststellungsklage und zur weiteren Konkretisierung der Umstände, unter denen ein Mitgliedstaat für Zwecke des Art. 25 Abs. 4 SGK eine neue ernsthafte Bedrohung für seine öffentliche Ordnung oder seine innere Sicherheit feststellen darf. Eine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV trifft den BayVGH aber nicht, weil seine evtl. Entscheidung, die Revision nicht zuzulassen, gem. § 133 VwGO durch Nichtzulassungsbeschwerde angefochten werden kann. Über diese entscheidet das BVerwG, das damit zum letztinstanzlichen Gericht wird.[50]

Sollte der BayVGH die Berufung zurückweisen, so müsste er gem. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zulassen, weil im Revisionsverfahren ein Vorabentscheidungsersuchen des BVerwG nach Art. 267 Abs. 3 AEUV erforderlich sein wird.[51] Anderenfalls wäre das BVerwG verpflichtet, der Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers stattzugeben, um eine unionsrechtskonforme Entscheidung des Falles entweder in eigener Verantwortung oder – vorzugsweise – in Kooperation mit dem EuGH zu gewährleisten. Zu hoffen ist, dass das BVerwG seine acte-clair-Behauptung von 2013 betr. Art. 47 Abs. 1 GRC nicht auf den anders gelagerten hiesigen Fall überträgt. Dabei hat es zu berücksichtigen, dass der EuGH die Vorlagepflicht der letztinstanzlichen Gerichte unverändert strikt versteht.[52]

Sollte der Kläger in der Verwaltungsgerichtsbarkeit endgültig scheitern, ohne dass eine Vorabentscheidung des EuGH eingeholt worden ist, hätte die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung seines Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) Aussicht auf Erfolg. Denn die Annahme, Art. 47 Abs. 1 GRC verlange offensichtlich und eindeutig keinerlei gerichtlichen Rechtsschutz gegen mit dem SGK unvereinbare Binnengrenzkontrollen und sei insoweit acte clair, ist unvertretbar.[53]


*Univ.-Prof. Dr. iur. Thomas Giegerich, LL.M. (Univ. of Virginia) ist Direktor des Europa-Instituts und Inhaber des Lehrstuhls für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht an der Universität des Saarlandes. Er leitet den Wissenschaftsblog Jean Monnet Saar.

[1] Die analoge Anwendung ist notwendig, weil die Erledigung des Verwaltungsakts hier bereits vor der Klageerhebung eingetreten war.

[2] Die Möglichkeit einer zivilgerichtlichen Klage auf Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) ist schon wegen des Verschuldenserfordernisses nicht hinreichend effektiv.

[3] VG München, Urt. v. 31.01.2024 (M 23 K 22.3422).

[4] Verordnung (EU) 2016/399 vom 9.3.2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl. Nr. L 77/1; kodifizierte Version mit späteren Änderungen unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A02016R0399-20170407. Die Kommission hat 2021 einen Vorschlag für eine Neufassung vorgelegt (COM(2021) 891 final [https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52021PC0891]), über den noch nicht abschließend entschieden wurde (vgl. Armaghan Naghipour/Stefan Salomon/Leon Züllig, Die Vereinbarkeit deutscher Binnengrenzkontrollen mit dem Schengener Grenzkodex unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und der aktuellen Reform des Schengener Grenzkodex, Gutachten vom 30.4.2024, S. 42 ff. [https://erik-marquardt.eu/wp-content/uploads/2024/04/Gutachten-Binnengrenzkontrollen_DE.pdf]. Nach der Angabe in der dortigen Fn. 106 ist einer der Autoren Partei in dem Verfahren vor dem VG München).

[5] Vgl. Tanja Podolski, Spektakuläres Obiter Dictum des VG München: Kontrollen an deutscher Grenze sind rechtswidrig, Legal Tribune Online, 30.04.2024.

[6] Dazu OVG Koblenz, Urt. v. 17.11.2022 (7 A 10719/21), Rn. 26 ff. (https://www.landesrecht.rlp.de/bsrp/document/NJRE001527661).

[7] BVerfGE 110, 77 (86) m.w.N. (Hervorhebung ergänzt). Vgl. auch BVerfG (K), Beschl. v. 14.11.2023 (1 BvR 1498/23), NVwZ 2024, 571 (573) betr. erledigten strafprozessualen Eingriff.

[8] Vgl. als Beispiel VGH München, Urt. v. 1.6.2022 (5 B 22.674), NVwZ 2022, 1837: Die Anbringung von Kreuzen im Eingangsbereich aller staatlichen Dienststellen in Bayern verletze zwar die objektiv-verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität (anders BVerwG, Urt. v. 19.12.2023 [10 C 5.22], NVwZ 2024, 673), doch könne dagegen niemand klagen, weil darin nicht zugleich auch ein Eingriff in Grundrechte liege.

[9] OVG Koblenz, Urt. v. 21.4.2016 (7 A 11108/14) (https://www.landesrecht.rlp.de/bsrp/document/NJRE001263821). Zur Unvereinbarkeit des Racial Profiling mit Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK jüngst EGMR, Urt. v. 20.2.2024, Wa Baile c. Suisse (Nos. 43868/18, 25883/21) – nicht rechtskräftig.

[10] BVerwG, Urt. v. 16.5.2013 (8 C 14.12), Rn. 36 ff.

[11] Zum unionsrechtlich beschränkten Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten vgl. auch Roya Sangi/Klaus Ferdinand Gärditz, Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz, in: Ulrich Karpenstein/Markus Tobias Kotzur/Johann Justus Vasel (Hrsg.), Handbuch Rechtsschutz in der Europäischen Union, 4. Aufl. 2024, § 32 Rn. 2 ff.

[12] BVerwG (Fn. 10), Rn. 41.

[13] Ebd., Rn. 42.

[14] Ebd. Hervorhebung ergänzt.

[15] Ebd., Rn. 32.

[16] BVerwG, Beschl. v. 29.1.2024 (8 AV 1.24); Urt. v. 24.4.2024 (6 C 2.22).

[17] EuGH, Urt. v. 25.7.2002 (Rs. C-50/00 P), Rn. 41 f.

[18] EuGH, Urt. v. 2.3.2021 (Rs. C-824/18), Rn. 142 ff.

[19] EuGH, Urt. v. 22.12.2010 (Rs. C-279/09), Rn. 29. Vgl. bereits EuGH, Urt. v. 15.5.1986 (Rs. 222/84), Rn. 18.

[20] Art. 6 Abs. 1 UA e EUV; Art. 52 Abs. 7 GRC.

[21] ABl. 2007 Nr. C 303/17 (Hervorhebung ergänzt).

[22] EuGH, Urt. v. 3.10.2013 (Rs. C-583/11 P), Rn. 104.

[23] EuGH, Urt. v. 14.4.2020 (verb. Rs. C-924/19 PPU u. C-925/19 PPU), Rn. 143 f.

[24] Ebd., Rn. 146.

[25] Vgl. Erklärung (Nr. 17) zur Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon vom 13.12.2007 (ABl. 2007 Nr. C 306/256).

[26] EuGH, Urt. v. 21.12.2021 (verb. Rs. C-357/19 u.a.), Rn. 260.

[27] EuGH, Urt. v. 5.3.1996 (verb. Rs. C-46/93 und C-48/93), Rn. 69 ff.

[28] Sangi/Gärditz (Fn. 11), § 32 Rn. 22.

[29] EuGH, Urt. v. 5.2.1963 (Rs. 26/62 – van Gend & Loos), Slg. 1963, 3. Vgl. Joseph H.H. Weiler, Revisiting Van Gend en Loos: Subjectifying and Objectifying the Individual, in: Cour de Justice de l’Union Européenne, 50ème Anniversaire de l’arrêt van Gend en Loos 1963 – 2013, Actes du colloque, Luxembourg, 13 Mai 2013, S. 11: “I feel comfortable in saying that in the annals of judicial decisions of international courts and tribunals none comes even close to Van Gend en Loos in its profound systemic and conceptual impact. Van Gend en Loos did not only shape the legal order; it constituted that order.” (https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/de3db697-1f5c-4f83-8424-1663b43ac2d3/language-en).

[30] EuGH-Urteil (Fn. 29), 25.

[31] EuGH, Urt. v. 2.9.2021 (Rs. C-741/19), Rn. 45.

[32] Rn. 30 des VG-Urteils.

[33] Die angegriffene Maßnahme war sogar Gegenstand einer gerichtlichen Hauptsacheentscheidung gewesen, weil die Erledigung erst im Rechtsmittelverfahren eintrat.

[34] In diesem Sinne auch Naghipour/Salomon/Züllig, Gutachten (Fn. 4), S. 29 ff.

[35] EuGH, Beschl. v. 20.11.2017 (Rs. C-441/17 R), Rn. 102; EuG, Urt. v. 29.5.2024 (Rs. T-200/22, T-314/22), Rn. 32.

[36] EuGH, Urt. v. 27.2.2018 (Rs. C-64/16), Rn. 35 f.

[37] Walter Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979, S. 53. EuGH, Urt. v. 21.12.2021 (Rs. C-357/19 u.a.), Rn. 247.

[38] EuGH, Urt. v. 3.6.2021 (Rs. C-650/18), Rn. 34.

[39] EuGH, Urt. v. 3.9.2008 (verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P), Rn. 281.

[40] Zur Vereinbarkeit des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolGmit diesem Erfordernis EuGH, Urt. v. 21.6.2017 (Rs. C-9/16).

[41] EuGH, Urt. v. 26.4.2022 (verb. Rs. C-368/20 und C-369/20).

[42] Ebd., Rn. 64.

[43] Die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen auf dieser Grundlage setzt eine entsprechende Empfehlung des Rates voraus, die sich auf einen Vorschlag der Kommission stützt (Art. 29 Abs. 2 SGK).

[44] EuGH-Urteil (Fn. 41), Rn. 79.

[45] Vgl. dazu Deutscher Bundestag, Unterabteilung Europa, Fachbereich Europa, Ausarbeitung: Zu den Anforderungen an eine erneute Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen auf der Grundlage von Art. 25 Schengener Grenzkodex (PE 6 – 3000 – 068/22) vom 21.12.2022, S. 8 ff. (https://www.bundestag.de/resource/blob/933458/29ca6e719a9596a337c1434546d7695e/PE-6-068-22-pdf.pdf).

[46] So auch Naghipour/Salomon/Züllig, Gutachten (Fn. 4), S. 17 ff. Die in der vorstehenden Fußnote zitierte Ausarbeitung sieht sich demgegenüber außerstande, die Vereinbarkeit der derzeitigen Grenzkontrollen mit den Vorgaben der Art. 25 ff. SGK abschließend zu beurteilen (S. 12 ff.).

[47] EuGH-Urteil (Fn. 41), Rn. 83 ff.

[48] Ebd., Rn. 91 ff.

[49] Kritisch dazu Naghipour/Salomon/Züllig, Gutachten (Fn. 4), S. 39 ff.

[50] Vgl. Matthias Kottmann, Das Vorabentscheidungsverfahren, in: Ulrich Karpenstein/Markus Tobias Kotzur/Johann Justus Vasel (Hrsg.), Handbuch Rechtsschutz in der Europäischen Union, 4. Aufl. 2024, § 10 Rn. 68.

[51] Ebd.; Sangi/Gärditz (Fn. 11), § 32 Rn. 70.

[52] EuGH, Urt. v. 6.10.2021 (Rs. C-561/19), Rn. 26 ff.

[53] Zum Prüfungsmaßstab: BVerfG, Beschl. v. 19.12.2017 (2 BvR 424/17), Rn. 37 ff.


ZitiervorschlagGiegerich, Thomas, In Deutschland gibt es verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen unionsrechtswidrige Binnengrenzkontrollen – anders als das VG München meint, jean-monnet-saar 2024.

DOI: 10.17176/20240604-125542-0

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer: 525576645

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