Es handelt sich um eine Erwiderung auf den Saar Brief von Univ. Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M. (Univ. of Virginia).
Ein Beitrag von Dr. Benedikt Riedl*
Zunächst möchte ich mich bei Thomas Giegerich für seine gewohnt scharfsinnige und kritische Auseinandersetzung mit meinen Überlegungen zum Ultra-vires-Konflikt bedanken. Der wissenschaftliche Diskurs lebt von der Debatte, und seine Analyse zwingt zur Schärfung der eigenen Position. Gleichwohl entsteht der Eindruck, dass sein Ansatz das Problem eher übersieht, als es zu lösen. Sein zentraler Befund, die Verträge wiesen in Art. 267 Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 Buchst. a AEUV dem EuGH eindeutig die letztverbindliche Entscheidung über Kompetenzfragen zu, ist eine Vereinfachung, die der komplexen Natur des europäischen Verfassungsverbundes nicht gerecht wird. Die Ultra-vires-Kontrolle ist kein Fremdkörper, sondern ein integraler, aus den Fundamenten der Unionsverfassung selbst folgender Mechanismus.
Der Kompetenzkonflikt: Mehr als nur eine Auslegungsfrage
Die Argumentation Giegerichs, wonach Art. 267 Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 Buchst. a AEUV den gordischen Knoten der Letztentscheidung löse, ist zirkulär und übersieht das Kernproblem des Ultra-vires-Konflikts, anstatt es zu beantworten. Das Vorabentscheidungsverfahren ist ein Instrument des Dialogs innerhalb der durch die Verträge geschaffenen Ordnung. Die Ultra-vires-Frage stellt sich jedoch gerade dann, wenn im Raum steht, dass eine unionale Stelle die Grenzen ebenjener Ordnung qualifiziert überschritten hat. Es geht nicht allein um die Auslegung des Unionsrechts, sondern um die vorgelagerte Frage nach der Existenz einer gültigen Kompetenzgrundlage.
Die entscheidende Frage Quis iudicabit? ist in den Verträgen bewusst offengelassen; es existiert keine ausdrückliche Kollisionsregel für den Fall eines fundamentalen Dissenses über die Reichweite der übertragenen Hoheitsrechte. Die Berufung auf das Auslegungsmonopol des EuGH beantwortet diese Frage nicht, denn sie ignoriert, dass dieses Mandat gemäß Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV selbst an die „Anwendung der Verträge“ gebunden ist. Ein Handeln jenseits der Verträge entzieht sich per definitionem diesem Mandat.
Die europäische Verfassungswirklichkeit: Die Union als abgeleitete Rechtsordnung
Der entscheidende Fehler in einer rein auf die Autonomie des Unionsrechts gestützten Argumentation liegt in der Verkennung der unionsvertraglichen Realität. Die europäische Rechtsordnung ist keine originäre, sondern eine von den Mitgliedstaaten abgeleitete Ordnung. Ihre Geltungskraft und demokratische Legitimation bezieht sie aus den mitgliedstaatlichen Zustimmungsgesetzen, die auf den nationalen Verfassungen fußen. Diese simple Tatsache wird von nahezu allen Verfassungs- und Höchstgerichten der Mitgliedstaaten geteilt.
Die rechtsvergleichende Analyse zeigt unmissverständlich: Die Ultra-vires-Kontrolle[1] und funktional vergleichbare Kontrollvorbehalte[2] sind kein deutsches Spezifikum, sondern ihre dogmatischen Grundlagen sind in den Verfassungsordnungen der überwältigenden Mehrheit der Mitgliedstaaten verankert. Ob in Dänemark über das Bestimmtheitserfordernis, in Italien über die Controlimiti, in Spanien über die Lehre von der supremacía der Verfassung oder selbst in Frankreich, wo die Ultra-vires-Kontrolle in Teilen funktional in der Identitätskontrolle aufgeht – der Kerngedanke ist stets derselbe: Die Übertragung von Hoheitsrechten ist begrenzt und diese Grenzen müssen justiziabel sein. Die Vorstellung, der EuGH könne darüber gemäß Art. 267 Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 Buchst. a AEUV abschließend entscheiden, wird von der Verfassungswirklichkeit in Europa widerlegt. Die Ultra-vires-Kontrolle ist nicht weniger als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, der aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und den Grundprinzipien der Unionsverträge erwächst.[3]
Demokratische Legitimation und Gewaltenteilung als Grenze der Integration
Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 2 EUV) ist kein bloßes juristisches Ordnungselement, sondern untrennbar mit dem Demokratieprinzip (Art. 2 EUV) verbunden. Jedes Handeln (auch) der Union bedarf einer lückenlosen Legitimationskette, die zu den Bürgerinnen und Bürgern in den Mitgliedstaaten zurückführt. Diese Kette wird maßgeblich durch die nationalen Parlamente bei der Ratifikation der Verträge geschmiedet. Kompetenzüberschreitende Akte durchtrennen diese Kette. Ihnen fehlt die demokratische Legitimation.
Die Ultra-vires-Kontrolle dient somit als eine Art demokratiesicherndes Ventil. Sie kompensiert strukturelle Legitimationsdefizite auf Unionsebene und stellt sicher, dass das politische Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger nicht durch schleichende Kompetenzverschiebungen ausgehöhlt wird. Ferner etabliert sie im europäischen Justizgefüge ein dringend benötigtes Element der Checks and Balances. Der EuGH ist eben nicht nur „Hüter der Verträge“, sondern auch „Motor der Integration“. In dieser Rolle hat er bereits maßgebliche Rechtsentwicklungen innerhalb der Unionsrechtsordnung angestoßen. Diese Doppelrolle kann aber auch zu Kompetenzdrifts führen, die vertraglich nicht vorgesehen sind. Die Ultra-vires-Kontrolle durch nationale Verfassungsgerichte als Gemeinschaftsaufgabe mit dem EuGH ist die notwendige Ultima Ratio, um dieses institutionelle Ungleichgewicht zu korrigieren und die Gewaltenteilung im Verfassungsverbund zu wahren.
Art. 4 Abs. 2 EUV als primärrechtliche Verankerung des Vorbehalts
Die in Art. 4 Abs. 2 EUV verankerte Pflicht der Union zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten ist eine justiziable Rechtsnorm, keine bloße politische Absichtserklärung. Sie fungiert als primärrechtliche „Schleuse“ und Rechtsgrundverweisung, die den unantastbaren Kern der mitgliedstaatlichen Verfassungen auch im Integrationsprozess schützt. Zum Kern dieser Verfassungsidentität gehört regelmäßig insbesondere das Demokratieprinzip, das gerade durch die Einhaltung der begrenzten Einzelermächtigung gesichert wird. Eine qualifizierte Kompetenzüberschreitung durch Unionsorgane durchbricht diesen Legitimationszusammenhang und kann damit auch die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten verletzen. Genau in solchen eng begrenzten Ausnahmefällen führt Art. 4 Abs. 2 EUV zu einer unionsrechtsimmanenten Durchbrechung des Rechtsprechungsmonopols des EuGH. Die mitgliedstaatliche Ultra-vires-Kontrolle ist somit nicht nur innerstaatlich, sondern auch durch Art. 4 Abs. 2 EUV als notwendiger Mechanismus im europäischen Verfassungsgerichtsverbund legitimiert.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Ultra-vires-Kontrolle ist kein Angriff auf die europäische Integration, sondern ihre logische und notwendige Konsequenz in einem Verbund von Verfassungsstaaten. Ihre Existenz sichert das Vertrauen in den Integrationsprozess und gewährleistet dessen demokratische Fundierung. Statt sie als Störfall zu brandmarken, sollte man sie als das verstehen, was sie ist: ein Institut des Unionsrechts, das aus dessen eigenen Fundamenten erwächst und den Dialog zwischen den Gerichten im europäischen Verfassungsverbund erst ermöglicht – aber auch verlangt.[4]
*Dr. Benedikt Riedl, MJur (Oxford) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Postdoc am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie der Ludwig-Maximilians-Universität München. E-Mail: benedikt.riedl@riedls.de.
[1] Im Einzelnen Frankreich: Conseil d’État, Urt. v. 22.12.1978 – Nr. 11604 – Cohn-Bendit; Tschechien: tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 31.1.2012, Pl. ÚS 5/12 – Holubec; Dänemark: Højesteret, Urt. v. 6.12.2016, Nr. 15/2014 – Ajos; Deutschland: BVerfGE 154, 17 v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16 – PSPP; missbräuchliche Entwicklung in Ungarn, ungarisches Verfassungsgericht, Urt. v. 30.11.2016, Nr. 22/2016 (XII. 5.) – Identitätskontrolle und Polen, polnischer Verfassungsgerichtshof, Entsch. v. 7.10.2021 – K 3/21.
[2] Exemplarisch zu den verfassungsrechtlichen Öffnungsklauseln und darauf gestützte Kontrollvorbehalte: Dänemark: § 20 Abs. 1 DänGG; Højesteret, Entsch. v. 06.04.1998, I 361/1997, UfR 1998, 800, dt. Übers. in: ZaöRV 1998, 879 (902, Rn. 9.2) – Carlsen v. Rasmussen; Deutschland: Art. 23 Abs. 1 Satz 2; BVerfGE 75, 223 (242) – Kloppenburg; 89, 155 (190) – Maastricht; 123, 267 (348 f., 381 ff.) – Lissabon; 126, 286 (302 f.) – Honeywell; 134, 366 (384, Rn. 26) – OMT-Vorlage; 142, 123 (196, Rn. 140) – OMT; Frankreich: Art. 88-1 CF; sehr deutlich in Conseil d’État, Urt. v. 21.04.2021, verb. Rs. Nr. 393099, 394922, 397844, 397851, 424717, 424718, Rn. 4 – French Data Network; Conseil constitutionnel, Entsch. v. 27.07.2006, Nr. 2006-540 DC, Rn. 17 – Urheberrechtsrichtlinie; Polen: Art. 90 Abs. 1 PolnVerf; polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 11.05.2005, K 18/04, engl. Übers., S. 7, Rn. 2, 7 – Beitrittsvertrag; Tschechien: Art. 10a TschVerf; tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 08.03.2006, Pl. ÚS 50/04, engl. Übers., S. 35 f., Abschn. VI.B – Zuckerquoten III; Urt. v. 03.05.2006, Pl. ÚS 66/04,engl. Übers., Abschn. VIII, Rn. 82 – Europäischer Haftbefehl; Urt. v. 26.11.2008, Pl. ÚS 19/08, Abschn. XI, Rn. 97, 109 f., 113, 120 – Lissabon I; Urt. v. 31.01.2012, Pl. ÚS 5/12, engl. Übers., S. 13 (Abschn. VII) – Holubec; Belgien: Art. 34 BelgVerf; Cour constitutionnelle, Entsch. v. 28.04.2016, Nr. 62/2016, B.8.7.; Estland: § 2 des Ergänzungsgesetzes zum estnischen Grundgesetz; Riigikohus, Stellungnahme v. 11.05.2006, Nr. 3-4-1-3-06, engl. Übers., Rn. 15 – Stellungnahme Währungsunion; Italien: Art. 11 ItVerf; seit Corte Costituzionale, Entsch. v. 16.12.1965, Nr. 98/1965, dt. Übers. in: EuR 1966, 146 (147) – San Michele; Lettland: Art. 68 LettGG; vgl. Grabenwarter/Huber/Knez/Ziemele, EPL 2021, 43 (52 f.); Litauen: § 2 des Verfassungsgesetzes „Über die Mitgliedschaft der Republik Litauen in der Europäischen Union“; litauisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 14.03.2006, Nr. 17/02-24/02-06/03-22/04, engl. Übers., Abschn. III, Rn. 9.4 – Grundeigentumsrechte; Spanien: Art. 93 SpVerf; Tribunal Constitucional, Erkl. v. 13.12.2004, DTC 1/2004, dt. Übers. in: EuR 2005, 339 (342 f., Rn. 2 f.) – Verfassungsvertrag; Griechenland: Art. 28 Abs. 2 und 3 GriechVerf; Iliopoulos-Strangas, in: IPE II, § 16 Griechenland, Rn. 39; Portugal: Art. 8 Abs. 4 der portugiesischen Verfassung; portugiesisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 15.08.2014, Nr. 575/2014, Rn. 25.
[3] Vertieft dazu Riedl, National Limits, European Claims: The Ultra Vires Conflict in EU Constitutional Law (Teil 1 & 2), EU Law Analysis, 20. Juni 2025.
[4] Zum Ganzen demnächst vertieft Riedl, Die Ultra-vires-Kontrolle als Institut des Unionsrechts, i.E. 2025.
Zitiervorschlag: Riedl, Benedikt, Dezentrale Herrschaftskontrolle als Teil der Verbundverfassung – Eine Replik auf Thomas Giegerich, jean-monnet-saar 2025.
DOI: 10.17176/20250717-182945-0
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer: 525576645