EuGH, Urteil vom 25.11.2025, Rechtssache C‑713/23
Case Note von Martina Liotta
A. Einleitung
Die Rechtsprechung des EuGH hat es schrittweise ermöglicht, Mitgliedstaaten, die bestimmte Institute oder Praktiken im nationalen Recht nicht vorsehen, dazu zu verpflichten, die im EU-Ausland rechtmäßig entstandenen Rechtswirkungen dennoch anzuerkennen. In seinem Urteil vom 25. November 2025[1] stellte der EuGH jetzt klar, dass ein EU-Staat, dessen Rechtsordnung die Ehe zwischen Unionsbürgern gleichen Geschlechts nicht vorsieht, eine solche Ehe anerkennen muss, wenn sie rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat geschlossen wurde (Rn. 68).
Demzufolge müssen die Mitgliedstaaten, obwohl sie bei der Regelung des Instituts der Ehe zuständig bleiben, den rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Familienstand anerkennen.
Zwar fällt die Auswahl des Verfahrens für die Anerkennung von Ehen in den Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten. Jedoch muss Polen, das nur eine einzige Modalität für die Anerkennung von Ehen vorsieht, diese Modalität unterschiedslos sowohl auf zwischen Personen gleichen Geschlechts als auch auf zwischen Personen verschiedenen Geschlechts geschlossene Ehen anwenden.
B. Sachverhalt, Verfahrensverlauf und Vorlagefrage
Im Jahr 2018 heirateten in Deutschland zwei polnische Staatsangehörige, von denen einer auch die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. Das Paar hielt sich zum Zeitpunkt der Vorlageentscheidung in Deutschland auf, wollte aber nach Polen ziehen und sich dort als Ehepaar weiterhin aufhalten.
Um die Ehe in Polen anerkennen zu lassen, beantragten die Ehegatten die Umschreibung der in Deutschland ausgestellten Eheurkunde in das polnische Personenstandsregister. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass das polnische Recht keine Ehe zwischen Personen gleichen Geschlechts vorsehe. Demzufolge würde die Umschreibung einer solchen ausländischen Eheurkunde den Grundprinzipien der Rechtsordnung der Republik Polen zuwiderlaufen.
Nach erfolgloser Anfechtung dieses Bescheids wandte sich das Ehepaar an das polnische Verwaltungsgericht. Dieses wies die Klage mit derselben Begründung ab, nämlich dass die Umschreibung einer Eheurkunde, wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, den Grundprinzipien der Rechtsordnung der Republik Polen zuwiderlaufen würde, indem die polnische Rechtsordnung Ehen zwischen Personen gleichen Geschlechts nicht vorsehe.
Gegen dieses Urteil legte das Ehepaar schließlich eine Kassationsbeschwerde beim Obersten Verwaltungsgericht Polens ein. Ihrer Ansicht nach stelle die Nichtanerkennung ihrer Ehe eine unverhältnismäßige Beschränkung ihres Rechts dar, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Insbesondere würde die Ablehnung der Umschreibung dazu führen, dass die Ehegatten in Polen als ledige Personen verstanden würden, und somit nicht das gleiche Privat- und Familienleben führen könnten wie in Deutschland. Diese Umstände seien geeignet, sie davon abzuhalten, sich im Hoheitsgebiet der Republik Polen aufzuhalten.
Das Oberste Verwaltungsgericht beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH eine Frage zur Vorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 1 lit. a, Abs. 3 AEUV vorzulegen. Es äußerte insbesondere Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art. 20 Abs. 2 lit. a und Art. 21 Abs. 1 AEUV (Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht) i.V.m. Art. 7 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 21 Abs. 1 GRCh (Nichtdiskriminierung).
C. Kernaussagen des Urteils
Der EuGH stellt fest, dass die Mitgliedstaaten, deren nationale Rechtsordnung die Ehe zwischen Personen gleichen Geschlechts nicht zulässt, geeignete Verfahren einführen müssen, damit eine solche Ehe anerkannt wird, wenn sie von zwei Unionsbürgern rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat geschlossen wurde (Rn. 68). Das Gericht erklärt weiterhin: “Zu den Rechten, die den Staatsangehörigen […] gewährt werden, gehört ihr Recht, sowohl im Aufnahmemitgliedstaat als auch, wenn sie dorthin zurückkehren, in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, ein normales Familienleben zu führen, indem sie dort mit ihren Familienangehörigen, einschließlich ihres Ehegatten, zusammenleben” (Rn. 43).
Im konkreten Fall stellt der EuGH einen Verstoß der Nichtanerkennung gegen das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht nach Art. 21 AEUV sowie gegen das Diskriminierungsverbot wegen der sexuellen Ausrichtung nach Art. 21 Abs. 1 GRCh und gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 7 GRCh fest.
Tatsächlich führt die Ablehnung der Umschreibung der Eheurkunde möglicherweise zur Unmöglichkeit, sich in vielen alltäglichen Handlungen im öffentlichen wie privaten Bereich auf den Familienstand zu berufen (Rn. 53) und daher zu schwerwiegenden Nachteilen administrativer, beruflicher und privater Art für die Betroffenen. Folglich ist diese Weigerung geeignet, das aus Art. 21 AEUV folgende Recht, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, zu behindern (Rn. 54).
Zwar fällt die Auswahl der Modalitäten für die Anerkennung von Ehen in den Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten. Jedoch muss ein Mitgliedstaat, der nur eine einzige Modalität für die Anerkennung von Ehen vorsieht, die Unionsbürger im Zuge der Ausübung ihres Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts in einem anderen Mitgliedstaat geschlossen haben, diese Modalität unterschiedslos sowohl auf zwischen Personen gleichen Geschlechts als auch auf zwischen Personen verschiedenen Geschlechts geschlossene Ehen anwenden. Das Fehlen einer solchen Anerkennungsmodalität für gleichgeschlechtliche Ehen stellt eine nach Art. 21 Abs. 1 GRCh verbotene Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung dar (Rn. 75).
Bezüglich Art. 7 GRCh erinnert der EuGH zunächst daran, dass die Rechte aus der EMRK – im vorliegenden Fall Art. 8 EMRK, das das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gewährleistet – einen Mindestschutzstandard darstellen, gem. Art. 52 Abs. 3 GRCh durch die Charta jedoch ein weitergehender Schutz gewährt werden kann (Rn. 64).
Das Gericht betont zudem, dass nach der Rechtsprechung des EGMR die Beziehung eines gleichgeschlechtlichen Paares genauso unter die Begriffe „Privatleben“ und „Familienleben“ fallen kann wie die Beziehung eines verschiedengeschlechtlichen Paares, das sich in der gleichen Situation befindet (Rn. 65).
Danach führt die Nichtanerkennung der Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Unionsbürgern, die rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat durch den Gebrauch ihres Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts geschlossen wurde, mit der Begründung, dass die nationale Rechtsordnung die Ehe zwischen Personen gleichen Geschlechts nicht zulässt, zur Verletzung von Art. 7 GRCh (Rn. 67).
Außerdem stellt der EuGH fest, dass die Anerkennungspflicht auch nicht Polens nationale Identität (Art. 4 Abs. 2 EUV) verletzt. Die Pflicht beeinträchtigt nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, das Institut der Ehe nach nationalem Recht zu regeln. Die Mitgliedstaaten bleiben frei, in ihrem nationalen Recht die Ehe für Personen gleichen Geschlechts vorzusehen oder auch nicht vorzusehen (Rn. 47). Trotzdem müssen sie bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht berücksichtigen und demzufolge den in einem anderen Mitgliedstaat nach dessen Recht festgestellten Personenstand anerkennen (Rn. 48).
D. Einordnung und Bewertung
Indem der Gerichtshof davon ausgeht, dass die Anerkennung einer in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig geschlossenen Ehe in jedem Fall erfolgen muss, führt er eine Logik weiter, die bereits im Urteil Coman[2] angelegt war, wonach die Mitgliedstaaten eine gleichgeschlechtliche Ehe zum Zweck der Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts zugunsten eines Drittstaatsangehörigen anerkennen müssen.
Das Urteil Coman zielte insbesondere darauf ab, dem Unionsbürger gemeinsam mit seinem Drittstaatsangehörigen Ehegatten die Niederlassung im Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit zu ermöglichen und dort das Recht auf Familienleben zu gewährleisten.
Die vorliegende Entscheidung geht noch einen Schritt weiter. Der EuGH stellt nun fest, dass die Pflicht zur Anerkennung einer in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig geschlossenen gleichgeschlechtlichen Ehe sich auch auf Fälle erstreckt, in denen beide Ehegatten bereits das Aufenthaltsrecht im betreffenden Mitgliedstaat besitzen, da beide Unionsbürger sind. Entscheidend ist dabei, dass die Nichtanerkennung möglicherweise zu schwerwiegenden Nachteilen administrativer, beruflicher und privater Art führen kann.
Diese Entwicklung zeigt, dass die gegenseitige Anerkennung insbesondere in Fragen des Personenstands und der Identität zunehmend als Instrument genutzt wird, um die Kontinuität der Rechtsverhältnisse zu sichern. Auch andere jüngere Urteile verdeutlichen denselben Ansatz, etwa zur gleichgeschlechtlichen Elternschaft[3] oder zur Änderung der Geschlechtsidentität[4]. Die Union will die Wirksamkeit der Grundrechte und die Freizügigkeit gewährleisten, selbst wenn die nationalen Rechtsordnungen voneinander abweichen.
Darüber hinaus knüpft dieses Urteil an verschiedene jüngere Urteile des EGMR zur Nichtanerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen in Polen an[5]. Die Argumentation des EuGH ähnelt dabei der des EGMR, der seinerseits befand, dass das Versäumnis einen spezifischen Rechtsrahmen zum Schutz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften zu gewährleisten dazu führe, dass die Beschwerdeführer grundlegende Aspekte ihres Lebens nicht regeln konnten. Dies stelle eine Verletzung des Rechts auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens dar[6].
E. Ausblick
Diese Entscheidung dürfte nicht nur in Staaten ohne entsprechende Regelung für gleichgeschlechtliche Paare – wie Polen oder Rumänien – Wirkungen hervorrufen, sondern auch in Rechtsordnungen, die einen Zwischenstatus vorsehen. Ein Beispiel hierfür ist Italien, das seit 2016 die “unione civile” für gleichgeschlechtliche Paare anerkennt, ihnen den Zugang zur Ehe jedoch untersagt.
Diesbezüglich wird zu klären sein, ob in solchen Fällen die Zuordnung einer im Ausland begründeten Ehe zum im nationalen Recht vorgesehenen Institut – hier der “unione civile” – ausreichen oder die Anerkennung des im Ausland erlangten Ehestatus selbst notwendig sein wird.
Angesichts der Unterschiede zwischen Ehe und “unione civile”, insbesondere des fehlenden Zugangs zur gemeinsamen Adoption, spricht vieles dafür, dass allein die Anerkennung des Ehestatus geeignet ist, um die vom Gerichtshof angestrebte Kontinuität der Rechtsverhältnisse wirksam zu gewährleisten. Zudem könnte dieses Urteil in derartigen Fällen zu einer Inländerdiskriminierung führen. Italienische Paare, die im Inland verbleiben und daher lediglich Zugang zur “unione civile” haben, wären gegenüber anderen Unionsbürgern sowie gegenüber italienischen Staatsangehörigen, die sich in einem anderen Mitgliedstaat heiraten, benachteiligt.
[1] EuGH, Urteil v. 25. November 2025, Wojewoda Mazowiecki, C-713/23, ECLI:EU:C:2025:917.
[2] EuGH, Urteil v. 5. Juni 2018, Coman, Rechtssache C‑673/16, ECLI:EU:C:2018:385.
[3] EuGH, Urteil v. 14. Dezember 2021, V.M.A., Rechtssache C-490/20, ECLI:EU:C:2021:1008.
[4] EuGH, Urteil v. 4. Oktober 2024, Mirin, Rechtssache C‑4/23, ECLI:EU:C:2024:845.
[5] EGMR, Urteil v. 12. Dezember 2023, Przybyszewska u. a./Polen, Nr. 11454/17 u. 9 weitere, Rn. 113, 123 f., EGMR, Urteil v. 19. September 2024, Formela u. a./Polen, Nr. 58828/12 und 4 weitere, Rn. 20, 25, 26 und 29, sowie EGMR, Urteil v. 24. April 2025, Andersen/Polen, Nr. 53662/20, Rn. 11, 14-19.
[6] EGMR, Urteil v. 12. Dezember 2023, Przybyszewska u. a./Polen, Nr. 11454/17 u. 9 weitere, Rn.123.
Zitiervorschlag: Liotta, Martina, Zur Anerkennung der in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig geschlossenen gleichgeschlechtlichen Ehe, jean-monnet-saar 2025.
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer: 525576645
