Giegerich: Vorlagenvermeidung des BVerwG bei der Fortsetzungsfeststellungsklage: Totschweigen verletzt Art. 267 Abs. 3 AEUV und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG

Ein Beitrag von Univ. Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M. (Univ. of Virginia)*

Vorlagenvermeidung des BVerwG bei der Fortsetzungsfeststellungsklage: Totschweigen verletzt Art. 267 Abs. 3 AEUV und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG

A. Ausgangsfall: Französisch-deutscher kleiner Grenzverkehr in COVID-Zeiten

Das BVerwG hat in einem kürzlich ergangenen Urteil[1] die Revision eines französischen Klägers zurückgewiesen, der sein unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht gegen COVID-bedingte Einreisebeschränkungen nach Deutschland im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage durchsetzen wollte. Den Hintergrund dieser Beschränkungen bilden Maßnahmen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die in Bezug auf die COVID-19 Pandemie im März 2020 die höchste Warnstufe ausgerufen hatte.[2]

Der Kläger, ein in Frankreich nahe der deutschen Grenze wohnhafter französischer Staatsangehöriger, begehrte die Feststellung, dass 1. die Verweigerung seiner Einreise in das Bundesgebiet durch die Bundespolizei im Mai 2020, weil er keinen triftigen Einreisegrund hatte,[3] und 2. die knapp zweimonatige vollständige Schließung des Grenzübergangs Grosbliederstroff/Saarbrücken-Güdingen durch Allgemeinverfügung rechtswidrig gewesen waren. Beide Verwaltungsakte, die sich schon vor Klageerhebung erledigt hatten, dienten dem Schutz der öffentlichen Gesundheit in der damaligen Pandemie.[4] Das OVG Rheinland-Pfalz hatte seine Fortsetzungsfeststellungsklage (FFKl) zu 1. als unbegründet und zu 2. als unzulässig abgewiesen – zu Recht, wie das BVerwG befand, ohne den EuGH einzuschalten.

B. Fortsetzungsfeststellungsinteresse nur bei qualifiziertem Eingriff auch in Fällen mit Unionsrechtsbezug?

Zulässigkeitsvoraussetzung der FFKl ist das berechtigte Feststellungsinteresse (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO [im vorliegenden Fall analog]). Dazu hat die Rechtsprechung Fallgruppen entwickelt, von denen hier nur die vierte von Bedeutung ist: Erledigt sich ein Verwaltungsakt typischerweise so kurzfristig, dass gerichtlicher Rechtsschutz im Anfechtungsklageverfahren regelmäßig ausscheidet, so wird ein Feststellungsinteresse keineswegs durchgängig bejaht. Vielmehr setzt es „einen qualifizierten (tiefgreifenden, gewichtigen oder schwerwiegenden) Eingriff in ein Grundrecht oder eine unionsrechtliche Grundfreiheit voraus“.[5] Diese neue Formulierung des BVerwG schreibt die bisherige Rechtsprechung, die lediglich auf den qualifizierten Grundrechtseingriff abstellte, europarechtsfreundlich fort. Sie führt das Gericht dazu, die FFKl zu 1. als zulässig einzustufen, nicht aber diejenige zu 2.

Zwischenzeitlich schien es, als ob der 8. Senat des BVerwG im Interesse eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes am Erfordernis eines qualifizierten Eingriffs in der vierten Fallgruppe nicht länger festhalten wollte,[6] doch hat er entsprechende Zweifel inzwischen zerstreut und damit eine Entscheidung des Großen Senats überflüssig gemacht.[7] Das BVerfG wiederum hat die Qualifikationsanforderung für mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbar erklärt, obwohl sie dazu führt, das es gegen nicht entsprechend qualifizierte überholte Grundrechtseingriffe gar keinen gerichtlichen Rechtsschutz gibt.[8]

Zu klären bleibt, wie die dadurch bedingten und vom deutschen Recht hingenommenen Rechtsschutzlücken nach EU-Recht zu beurteilen sind. Mir geht es hier allein um die Frage, ob das BVerwG gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV verstieß, indem es das Qualifikationserfordernis zur Zulässigkeitsvoraussetzung einer FFKl machte, mit der unionsrechtlich verankerte subjektive Rechte durchgesetzt werden sollten, ohne eine Vorabentscheidung des EuGH dazu einzuholen, ob dieses Erfordernis mit EU-Recht vereinbar ist.

C. Unionsrechtliche Vorgaben für effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in den Mitgliedstaaten und die Grenzen der acte-clair-Doktrin

Die konkrete Frage lautet, ob das Qualifikationserfordernis in Fällen, in denen es – wie im Ausgangsfall – um gerichtlichen Rechtsschutz für unionsrechtlich verankerte Rechte geht, insbesondere mit Art. 47 GRC vereinbar ist. Denn es kann dazu führen, dass ein solcher Schutz vollkommen ausfällt. Art. 47 GRC gilt gemäß Art. 51 Abs. 1 GRC hier auch für die Mitgliedstaaten, weil sich derartige Fälle im Anwendungsbereich des EU-Rechts abspielen.[9]

Ich habe kürzlich in einer Anmerkung zu einem Urteil des VG München ausführlich begründet, warum die Vereinbarkeitsfrage verneint werden muss.[10] Die entscheidende Passage in meiner Anmerkung lautet: „Art. 47 Abs. 1 GRC und Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV, die beide in nationalen Gerichtsverfahren unmittelbare Wirkung entfalten und kraft ihres Vorrangs entgegenstehende Regeln des nationalen Rechts verdrängen,[11] … kodifizieren … einen seit jeher existenten allgemeinen Grundsatz des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und im Kern auch in Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK verankert ist.[12] Dieser unionsrechtliche Anspruch auf Zugang zu den Gerichten besteht nach Art. 47 Abs. 1 GRC bei jeder möglichen Verletzung von durch das Recht der Union garantierten Rechten oder Freiheiten, unabhängig davon, ob sie im Primär- oder Sekundärrecht wurzeln und welches Gewicht sie haben. Dementsprechend heißt es in den Erläuterungen zur GRC, die bei deren Auslegung gebührend zu berücksichtigen sind,[13] Art. 47 GRC gelte „für sämtliche durch das Unionsrecht garantierte Rechte.“[14]

Das BVerwG hatte diese unionsrechtliche Frage schon vor längerer Zeit in einem Urteil behandelt, das die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Untersagungsverfügung betraf, welche der Klägerin die Veranstaltung, Durchführung und Vermittlung von Sportwetten verbot, wodurch auch in ihre unionsrechtlich gewährleistete Dienstleistungsfreiheit eingegriffen wurde.[15] Dort führte das BVerwG aus, Art. 47 GRC hindere den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber nicht, für die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs ein qualifiziertes Interesse des Klägers zu fordern, wie dies in Deutschland mit dem Qualifikationserfordernis bei bestimmten Fortsetzungsfeststellungsklagen der Fall sei.[16] Es legte dann ausführlich dar, dass es zwar grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen bleibe, im Rahmen der Ausgestaltung ihres Prozessrechts die Klagebefugnis und das Rechtsschutzinteresse des Einzelnen zu normieren, dass das mitgliedstaatliche Ermessen bei der Regelung solcher Zulässigkeitsvoraussetzungen aber durch das unionsrechtliche Äquivalenzprinzip, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Effektivitätsgebot begrenzt werde.[17] Diese Grenzen sah das BVerwG im damaligen Fall insbesondere deshalb als nicht überschritten an, weil der Klägerin der Rechtsweg keineswegs vollständig versperrt war. Vielmehr war die angegriffene Maßnahme sogar Gegenstand einer gerichtlichen Hauptsacheentscheidung gewesen, denn die Erledigung trat erst im Rechtsmittelverfahren ein. Das BVerwG fügte damals hinzu, dass an der Richtigkeit seiner Auslegung des Art. 47 Abs. 1 GRC und des unionsrechtlichen Grundsatzes effektiven Rechtsschutzes keine ernsthaften Zweifel im Sinne der acte-clair-Doktrin bestünden, so dass die von der Klägerin angeregte Vorlage an den Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht geboten sei.[18]

Selbst wenn das BVerwG den Art. 47 Abs. 1 GRC auf die damals zu beurteilende besondere Fallkonstellation korrekt angewandt haben und diesbezüglich außerdem zu Recht von einem acte clair ausgegangen sein sollte, ist damit die Reichweite des Unionsgrundrechts auf effektiven Rechtsschutz keineswegs für alle FFKl geklärt. Meines Erachtens verbietet es Art. 47 Abs. 1 GRC den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern und Gerichten, effektiven gerichtlichen Schutz gegen Verletzungen unionsrechtlich radizierter Rechte unmöglich zu machen, indem sie in der Fallkonstellation der typischerweise kurzfristigen Erledigung belastender Verwaltungsakte zu hohe Anforderungen an den Nachweis eines Feststellungsinteresses stellen.[19] Es wäre Sache des EuGH, darüber definitiv zu entscheiden. Der Ausgangsfall zum kleinen französisch-deutschen Grenzverkehr hätte dazu eine Gelegenheit geboten, die aber leider ungenutzt blieb, vielleicht weil das BVerwG die gerade beseitigte Unstimmigkeit zwischen verschiedenen Senaten[20] nicht erneut in Frage stellen wollte. Dieses Anliegen könnte einen Verstoß gegen die Vorlagepflicht natürlich nicht rechtfertigen.

Der EuGH hat mehrere Versuche von Generalanwälten, seine strikte Rechtsprechung zur Vorlagepflicht letztinstanzlicher nationaler Gerichte und zur engen Begrenzung der acte-clair-Ausnahme abzuschwächen, zurückgewiesen. Im Gegenteil hat er in einem jüngeren Urteil seine CILFIT-Entscheidung[21] nochmals in dem Sinne bestätigt, dass ein acte clair nur vorliegt, wenn „die richtige Auslegung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt. Ob ein solcher Fall gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Union zu beurteilen.“[22] Er hat dort überdies aus Art. 267 AEUV i.V.m. Art. 47 Abs. 2 GRC die Pflicht letztinstanzlicher Gerichte abgeleitet zu begründen, warum sie ausnahmsweise nicht vorlagepflichtig sind.[23] Die Vorlagepflicht völlig zu übergehen, wie es das BVerwG im vorliegenden Fall getan hat, ist damit unvereinbar und folglich inakzeptabel.

D. Entscheidung des BVerwG über den Ausgangsfall

I. Fortsetzungsfeststellungsklage gegen Verweigerung der Einreise in das Bundesgebiet

Diese Klage hielt das BVerwG – wie das OVG – für zulässig, aber unbegründet. Es sah in der Einreiseverweigerung einen qualifizierten Eingriff in das Freizügigkeitsrecht (Art. 21 AEUV), obwohl der Anlass für den versuchten Grenzübertritt nur darin bestand, in einem deutschen Supermarkt einzukaufen.[24] Dennoch werde das Freizügigkeitsrecht in seinem Kern tangiert, da es dem Kläger vollständig genommen worden sei. Denn für Einreisen von Frankreich nach Deutschland sei das Recht pandemiebedingt bei Nichtvorliegen triftiger Einreisegründe vorläufig ganz aufgehoben worden.[25] Da dieser Eingriff sich zugleich typischerweise kurzzeitig erledige, so dass gegen ihn kein anderweitiger effektiver Rechtsschutz im Sinne von Art. 47 Abs. 1 GRC, Art. 19 Abs. 4 GG erlangt werden könne, habe das OVG im Einklang mit dem Bundesrecht ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse des Klägers bejaht.

Das BVerwG setzt hier unausgesprochen und m.E. zu Unrecht voraus, dass es Art. 47 Abs. 1 GRC überhaupt gestattet, einen qualifizierten Eingriff in ein unionsrechtlich garantiertes Recht zur Zulässigkeitsvoraussetzung der einzig statthaften FFKl zu machen. Dagegen spricht im konkreten Fall außerdem Art. 31 Abs. 1, 3 der Freizügigkeitsrichtlinie,[26] der vorschreibt, dass Betroffene gegen eine freizügigkeitsbeschränkende Entscheidung aus Gründen der Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht oder ggf. bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können müssen und dass im Rechtsbehelfsverfahren u.a. die Rechtmäßigkeit der Entscheidung zu überprüfen ist. Das BVerwG behauptet noch nicht einmal unter Bezugnahme auf sein erwähntes Urteil von 2013, dass die Unionsrechtskonformität des Qualifikationserfordernisses so klar sei, dass eine Vorlage an den EuGH unterbleiben könne. Es übergeht Art. 267 Abs. 3 AEUV einfach. Doch dieser Fehler blieb folgenlos, weil die Zulässigkeit der FFKl im Ergebnis bejaht wurde. Eine Vorlage erübrigte sich im konkreten Fall deshalb, weil der unionsrechtswidrige Ansatz des BVerwG zu einem unionsrechtskonformen Ergebnis – der Zulässigkeit der FFKl – führte. Die Unionsrechtkonformität des Qualifikationserfordernisses war deshalb letztlich nicht entscheidungserheblich. Ob das BVerwG die FFKl insoweit zu Recht für unbegründet hielt, soll hier nicht weiter diskutiert werden. Es berief sich dafür maßgeblich auf das EuGH-Urteil im Fall Nordic Info[27] und hielt sich deshalb in Bezug auf die Begründetheitsebene für berechtigt, von einer Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV abzusehen.[28]

II. Fortsetzungsfeststellungsklage gegen zeitweilige Schließung des Grenzübergangs

Nach Ansicht des BVerwG hat das OVG die FFKl insoweit zu Recht als unzulässig abgewiesen, weil der Kläger mangels qualifizierter Verletzung in einem Grundrecht oder einer Grundfreiheit kein berechtigtes Feststellungsinteresse gehabt habe.[29] Insoweit legt das BVerwG dar, dass der Eingriff in die unionsrechtlich in Art. 21 AEUV und Art. 45 GRC gewährleistete Freizügigkeit nicht qualifiziert gewesen sei. Der Kläger hätte die räumlich nur punktuelle Beschränkung durch Nutzung eines nur wenige Kilometer entfernt liegenden anderen Grenzübergangs – bei Vorliegen eines triftigen Einreisegrundes – leicht umgehen können. Zur Bestätigung, dass die vorläufige Schließung des Grenzübergangs ein bloß begrenzter Eingriff in das Freizügigkeitsrecht des Klägers gewesen sei, beruft das BVerwG sich erneut auf das EuGH-Urteil im Fall Nordic Info, wo sogar obligatorische Screeningmaßnahmen in Form von Abstrichen aus dem tieferen Mund-, Rachen- und/oder Nasenraum als lediglich begrenzte Eingriffe qualifiziert worden seien.[30]

Auch hier stellt sich das BVerwG aber die Frage überhaupt nicht, ob das Qualifikationserfordernis als solches als Zulässigkeitsmaßgabe für die FFKl unionsrechtskonform ist. Im Kontext des 2. Klageantrags durfte es dies aber nicht unausgesprochen voraussetzen, weil sein Revisionsurteil implizit auf dieser Annahme beruht, so dass es sich um eine entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts handelt, für die das BVerwG nach Art. 267 Abs. 3 AEUV eigentlich vorlagepflichtig war. Auch hier behauptet das Gericht noch nicht einmal unter Bezugnahme auf sein erwähntes Urteil von 2013,[31] dass die Unionsrechtskonformität des Qualifikationserfordernisses so klar sei, dass eine Vorlage an den EuGH unterbleiben könne. Der Grund für dieses „Totschweigen“ könnte darin liegen, dass gerade dieses Urteil des 8. Senats die Zweifel daran begründet hatte, ob das BVerwG in der vierten Fallgruppe der sich typischerweise kurzfristig erledigenden Verwaltungsakte, in denen es keinen anderen gerichtlichen Rechtsschutz gibt, am Erfordernis des qualifizierten Eingriffs als Zulässigkeitsvoraussetzung der FFKl festhalten wollte.[32]

In der Vorinstanz war das OVG übrigens – offensichtlich angesichts der durch dieses Urteil des 8. Senats begründeten Unsicherheit, die zum Zeitpunkt seines Urteils noch nicht beseitigt war[33] – doppelgleisig gefahren und hatte in einem obiter dictum eingehend unter Bezugnahme auf § 14 Abs. 1 BPolG und den Schengener Grenzkodex[34] begründet, warum der 2. Klageantrag, sofern er zulässig wäre, in der Sache keinen Erfolg haben könnte.[35] Diesen doppelten Ansatz übernimmt das BVerwG aber nicht. Vielmehr beruht sein die Revision in Bezug auf den 2. Klageantrag zurückweisendes Urteil auf der unausgesprochenen Annahme, das Qualifikationserfordernis als Zulässigkeitsvoraussetzung der FFkl sei unionsrechtskonform. Diese Eigenmächtigkeit verstößt nicht nur gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV, sondern verletzt zugleich Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wegen offensichtlich unhaltbarer Handhabung der Vorlagepflicht. Denn das BVerwG hat hier seine Vorlagepflicht grundsätzlich verkannt.

Nach dem inzwischen nachgeschärften gegenwärtigen Stand seiner Rechtsprechung nimmt das BVerfG eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wegen grundsätzlicher Verkennung der Vorlagepflicht dann an, wenn „ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt und das Unionsrecht somit eigenständig fortbildet (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht …). Dies gilt erst recht, wenn sich das Gericht hinsichtlich des (materiellen) Unionsrechts nicht hinreichend kundig macht. Es verkennt dann regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht … Dies gilt auch, wenn es offenkundig einschlägige Rechtsprechung des EuGH nicht auswertet. Um eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu ermöglichen, hat es die Gründe für seine Entscheidung über die Vorlagepflicht anzugeben …“[36]

Der „erst recht“-Satz dieser Passage trifft exakt unsere Fallkonstellation: Mit einem Totschweigen der Vorlagepflicht und seiner eigenen einschlägigen Rechtsprechung darf ein oberstes Bundesgericht in Karlsruhe nicht durchkommen. Neben dem BVerfG hat übrigens in letzter Zeit auch der EGMR ein wachsames Auge auf die Handhabung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV. Er sieht es als Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren in Art. 6 Abs. 1 EMRK an, wenn ein an sich vorlagepflichtiges nationales Gericht die Einholung einer Vorabentscheidung ohne ausreichende Begründung (und damit willkürlich) verweigert.[37] Das gilt zumindest dann, wenn eine Streitpartei die Vorlage ausdrücklich verlangt hat. Ob der Kläger dies im vorliegenden Fall tat, lässt das BVerwG-Urteil nicht erkennen. Überdies ging es im Ausgangsverfahren um eine Streitigkeit im Kernbereich des öffentlichen Rechts (Einreise von Ausländern) und nicht um zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen i.S.d. Art. 6 Abs. 1 EMRK.[38] Infolgedessen hätte eine Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK im vorliegenden Fall keine Aussicht auf Erfolg, sollte das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde wider Erwarten nicht zur Entscheidung annehmen.

E. Blick in die Zukunft: Verwaltungsprozessuale Zweiklassengesellschaft?

Das BVerwG scheint nicht bereit zu sein, die Unionsrechtskonformität des Qualifikationserfordernisses als Zulässigkeitsvoraussetzung von FFKl der vierten Fallgruppe in Fällen mit Unionsrechtsbezug durch den EuGH klären zu lassen. Da aber alle Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe in Deutschland nach Art. 267 Abs. 2 AEUV berechtigt sind, dazu eine Vorabentscheidung einzuholen, wird die Frage über kurz oder lang dem Luxemburger Gerichtshof unterbreitet werden.

Sollte der EuGH die Unionsrechtskonformität erwartungsgemäß verneinen, würde sich ein Dilemma ergeben: Dann wären nämlich FFKl der vierten Fallgruppe mit Unionsrechtsbezug ohne weiteres zulässig, während solche ohne Unionsrechtsbezug weiterhin das Qualifikationserfordernis erfüllen müssten. Damit entstünde eine verwaltungsprozessuale Zweiklassengesellschaft, ganz im Sinne einer Inländerdiskriminierung, deren Zulässigkeit anhand von Art. 19 Abs. 4 und/oder Art. 3 Abs. 1 GG neu zu bewerten wäre. Es entstünde dann zumindest ein Anreiz, wenn nicht gar eine verfassungsrechtliche Pflicht, das Qualifikationserfordernis insgesamt aufzugeben. Hätte der 8. Senat des BVerwG diese Vorabentscheidung schon im Vorfeld seines Urteils von 2013 eingeholt, statt sich auf die acte-clair-Doktrin zu berufen,[39] wäre eine jahrelange Rechtsunsicherheit vermieden worden. Bei brisanten Fragen des Unionsrechts zahlt sich eine Vorlagenvermeidungsstrategie nie aus.


*Univ.-Prof. Dr. iur. Thomas Giegerich, LL.M. (Univ. of Virginia) ist Direktor des Europa-Instituts und Inhaber des Lehrstuhls für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht an der Universität des Saarlandes. Er leitet den Wissenschaftsblog Jean Monnet Saar.

[1] BVerwG, Urt. v. 13.6.2024 (1 C 2.23).

[2] Vgl. zur Pandemie-Lage EuGH, Urt. v. 5.12.2023 (Rs. C-128/22), Rn. 32.

[3] Der Kläger gab an, in einem deutschen Supermarkt einkaufen zu wollen.

[4] Nähere Einzelheiten zum Sachverhalt und zum rechtlichen Hintergrund ergeben sich aus dem Tatbestand des Berufungsurteils (OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 17.11.2022, 7 A 10719/21 (https://www.landesrecht.rlp.de/bsrp/document/NJRE001527661).

[5] So BVerwG, Urt. v. 13.6.2024 (1 C 2.23), Rn. 13 m.w.N.

[6] BVerwG, v. 16.5.2013 (8 C 14.12), https://openjur.de/u/636285.html; Urt. v. Urt. v. 27.1.2021 (8 C 3.20), https://www.bverwg.de/270121U8C3.20.0.

[7] BVerwG, Beschl. v. 29.11.2023 (8 AV 1.24) nach § 11 Abs. 3 VwGO.

[8] BVerfGE 110, 77 (86) m.w.N. Vgl. auch BVerfG (K), Beschl. v. 14.11.2023 (1 BvR 1498/23), NVwZ 2024, 571 (573) betr. erledigten strafprozessualen Eingriff.

[9] Vgl. EuGH, Urt. v. 26.2.2013 (Rs. C-617/10), Rn. 17 ff.

[10] Thomas Giegerich, In Deutschland gibt es verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen unionsrechtswidrige Binnengrenzkontrollen – anders als das VG München meint, Saar Brief vom 4.6.2024 (https://jean-monnet-saar.eu/?p=297636).

[11] EuGH, Urt. v. 2.3.2021 (Rs. C-824/18), Rn. 142 ff.

[12] EuGH, Urt. v. 22.12.2010 (Rs. C-279/09), Rn. 29. Vgl. bereits EuGH, Urt. v. 15.5.1986 (Rs. 222/84), Rn. 18.

[13] Art. 6 Abs. 1 UA e EUV; Art. 52 Abs. 7 GRC.

[14] ABl. 2007 Nr. C 303/17 (Hervorhebung ergänzt).

[15] Urt. v. 16.5.2013 (8 C 14.12), https://openjur.de/u/636285.html.

[16] Ebd., Rn. 40.

[17] Ebd., Rn. 41 ff.

[18] Ebd., Rn. 45.

[19] So bereits Giegerich (Fn. 10) m.w.N.

[20] S.o. unter B.

[21] EuGH, Urt. v. 6.10.1982 (Rs. 283/81).

[22] EuGH, Urt. v. 6.10.2021 (Rs. C-561/19), Rn. 72. Rainer Palmstorfer/Julia Kreuzhuber, Keine Abkehr von CILFIT – Anmerkung zum Urteil des EuGH v. 6.10.2021 , Rs. C-561/19 (Consorzio Italian Management), EuR 2022, 239 ff.

[23] Ebd., Rn. 51.

[24] Dieser Anlass warf die Frage auf, ob Art. 21 AEUV hier hinter die spezielleren Art. 34 AEUV (Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung) oder Art. 56 AEUV (passive Dienstleistungsfreiheit) zurücktrat (das OVG hatte alle drei Artikel nebeneinander zitiert [Fn. 4, Rn. 29]), doch hätte dies an der unionsrechtlichen Beurteilung nichts geändert.

[25] BVerwG, Urt. v. 13.6.2024 (1 C 2.23), Rn. 15 ff.

[26] Richtlinie 2004/38 EG vom 29.4.2004, aktuelle Fassung abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A02004L0038-20110616&qid=1726843123021.

[27] S.o. Fn. 1.

[28] BVerwG, Urt. v. 13.6.2024 (1 C 2.23), Rn. 18.

[29] BVerwG, Urt. v. 13.6.2024 (1 C 2.23), Rn. 8, 27 ff.

[30] S.o. Fn. 1, Rn. 96.

[31] S.o. Fn. 15.

[32] Siehe die eingehende Darstellung des OVG (Fn. 4), Rn. 40 ff.

[33] S.o. Fn. 7.

[34] Verordnung (EU) 2016/399 vom 9.3.2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl. Nr. L 77/1; kodifizierte Version mit späteren Änderungen unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A02016R0399-20170407.

[35] S.o. Fn. 3, Rn. 93 ff.

[36] BVerfG, Beschl. v. 19.12.2017 (2 BvR 424/17), BVerfGE 147, 364, Rn. 41.

[37] EGMR, Urt. v. 8.4.2014, Dhahbi v. Italy (Appl. No. 17120/09); Urt. v. 13.2.2020, Sanofi Pasteur v. France (Appl. No. 25137/16); Urt. v. 15.12.2022, Rutar and Rutar Marketing d.o.o. v. Slovenia (Appl. No. 21164/20).

[38] EGMR (GK), Beschl. v. 5.3.2020, M.N. and Others v. Belgium (Appl. No. 3599/18), Abschn. 127 ff.

[39] Urt. v. 16.5.2013 (8 C 14.12), https://openjur.de/u/636285.html. S.o. C.


ZitiervorschlagGiegerich, Thomas, Vorlagenvermeidung des BVerwG bei der Fortsetzungsfeststellungsklage: Totschweigen verletzt Art. 267 Abs. 3 AEUV und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, jean-monnet-saar 2024.

DOI: 10.17176/20240924-163211-0

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer: 525576645

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